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Eisen

Ein Kreislauf

Der Minettebrocken dachte nach.

Wie lange war er nun schon auf der Welt? Ei, das war schon eine hübsche Weile. Weit liefen seine Gedanken zurück, unheimlich weit. Die Dinge, die die toten heißen, haben ein langes Gedächtnis. Viel länger als die Menschen.

Wie eine Gerte schwankt das menschliche Gedächtnis zwischen Grab und Wiege. Eine kleine Strecke Weges, ein Tasten zwischen dunklen Gängen. Eben ward's ein bißchen heller – da ist es schon zu Ende.

Nicht so bei Dingen. Nicht so bei dem Minettebrocken auf dem Erzfeld. Der bestrich mit seinem Gedächtnis die versunkenen Jahrtausende wie wir die Stunden. Er hatte Zeit da droben. Überhaupt, was war denn Zeit? Ein Blinzeln seiner schweren Augenlider – und schon hatte drunten in dem Tal ein Menschenleben seinen kurzen Zirkel fast vollendet. Ein zweites Blinzeln – und schon sank sein Kind ins Grab. Der Minette Denken tropfte in die Vergangenheit. Und jedesmal, wenn ein Jahrtausend abgerollt war, gab es einen Klang, wie wenn geschmolzene Eisentropfen in das Wasser zischen.

»Wie ist mir denn?« sagte er, »ich lag doch damals an die tausend Meter höher. Wie rasch doch diese Berge schmelzen. Wie lange wird es dauern, und die Erde ist ein Tisch, ein flacher Tisch.«

Weiter lief sein Denken ins Vergangene. Meere ebbten auf und nieder.

»Ja, ja«, sagte der Eisenstein langsam, und zwischen jedem seiner Worte ward ein junger Menschenscheitel bleich vor Alter, »ja, ja, nun fällt's mir ein, einst wiegte ich mich fein gelöst im Ozean. So fein war ich, daß mich die Fische gar nicht sehen konnten. Ich aber schaute ihre blinkenden Silberschuppen. Und als ich müde war vom Wiegen und vom Schauen, setzte ich mich nieder – so ward aus mir der Eisenstein.«

Und dann dachte er darüber nach, wie er in das Meer hineingekommen war. Aber da versagte plötzlich sein Gedächtnis. Er wußte es nicht mehr.

»Hm«, sagte er bedenklich, »es scheint, ich werde alt.«

Und da begab es sich, daß zwischen diesen Worten ein neuer Lebensstrom ins Tal zu seinen Füßen schoß. Eisenhütten wuchsen aus der Erde, Hochöfen stiegen in die Luft. Mit Wagen fuhren sie der Eisenberge Flanken an. Spitzhacken senkten sich in das Gestein, und Stollen trieb man in den Leib der Berge.

Wenn der Berg die Zeit empfände wie wir Menschen, aufgeschrien hätte er vor Schmerz. Aber Berge fassen im Empfinden mindestens ein Jahr zusammen. Und weil in einem Jahr nicht nur Hacken klirren, sondern auch die Matten grünen und die Vögel singen, kommt selbst für aufgehackte Berge ein erträgliches Gesamtgefühl heraus.

Brausend kam die neue Zeit auch über unsern Eisenstein. Dröhnend stieg die Menschenarbeit an den Halden aufwärts. Dampf wallte drüber hin, und ein Gewerkel war den ganzen Tag, daß der Minettebrocken manchmal zitterte vom Prall der Hämmer und der Hacken.

Und eines Tages traf ihn auch die Hacke. In einem Bogen sprang er durch die Luft in einen Wagen hin zu seinesgleichen. Dampf schleppte ihn ein Stück durchs Land. Kleine Wagen zogen ihn und seine Brüder schief hinauf zur Mündung eines Ofens. Reihum stürzte er mit Koks in einen Schlund. Da lagen sie in Schichten, Koks und Erz und Erz und Koks, silbergrau und schwarz und schwer. Glühend strich erhitzter Wind darüber hin. Kalk polterte dazu herunter. Da schmolz des Eisensteines Herz. Es vertränte in die Tiefe. Dabei entriß ihm rote Kohle den Luftgesellen Sauerstoff, der sich am Berg mit ihm verbrüdert hatte, und gab sich selbst dafür dem Eisen in die Ehe.

Funkelnd schoß die Eisenschlange aus dem Stichloch, rann durch Sand zum Mischer und zum Stahlwerk in die Riesenbirne. Wieder fauchten heiße Winde durch das Eisenmeer, heulend stieg ein Eisenlied hinauf zum Himmel, und die kurze Kohlenehe wurde bis auf einen kleinen Rest zerstört.

Jetzt war er Stahl geworden. Man goß ihn zu Zyklopenblöcken. Walzen knirschten über seinen weißen Funkelleib, einmal, zweimal, dreimal …

»Ist das das Ende?« dachte der Geselle.

Und siehe, eine blanke Schiene war aus ihm geworden. Ein Stempel brennt ihm an der Lende und verharscht. Die Schiene zieht ins Land hinaus. Um die halbe Erde rollt sie, durch Hitze und durch Kälte. Sibirien – halt, sie ist am Ziele. Da liegt sie nun, ein Stücklein von der Erde größtem Eisengürtel.

Tausend Züge donnern über sie. Auf ein paar Meter Länge rollen frohe Menschen, rollen stille Menschen auf der Schiene, rollen Güter ohne Zahl. Soldaten kommen. Kriege knattern über ihren Eisenleib. Keine Ruh' ist mehr und keine Rast.

Wind und Wetter fegten über diese Schiene. Eisig kroch's heran vom Norden. Es tat der Rost sein schieferblättrig Maul auf. Aber still und ruhig lag die Schiene da in einer Linie mit den Schwestern. Nur einmal bog sie sich ein wenig auf in Sehnsucht nach der fernen Heimat – krach, splitterte ein Zug in Scherben.

Wieder rollte die verbogene Schiene übers Land. Wieder glühte Feuer auf um sie. Aus der Schiene ward ein Träger. Aufrecht stand er da in einem hohen Hause. Riesenlasten trug er spielend. An seiner Flanke gingen viele Menschen aus und ein.

»Für die Ewigkeit hält solch ein Träger«, sagten sie.

Nur ein paar Atemzüge lang war diese Ewigkeit für unsern Eisenträger. Eines Nachts wachte er auf. Wieder fühlte er sich von der alten Glut umflammt. Aber nicht im Puddelofen war er. Das Haus, mit dem er sich verbunden hatte, brannte. Brannte lichterloh. Es war wunderschön. Der Eisenträger hörte Feuerhörner tuten, Wagen rasseln, Helme blitzen. Doch daß die Menschen jammerten und schrien, das verstand er nicht. Er glühte auf vor Lust – und krachend stürzte eine Mauer ein.

Man goß ihn um. Mit anderen Metallen schmolz man ihn zusammen. Da wurde er zur Glocke. Die schwang und hatte eine Sprache. Eine Sprache, die sogar verständlich war für jene Menschen, die von den Dingen sonst behaupten, daß sie keine Sprache hätten. Ach, alle Dinge haben immer eine Sprache. Nur wir selbst haben kein Gehör für ihre Sprache. Es sei denn, daß wir wieder Kinder würden. Beim Klang von Glocken sind wir alle wieder Kinder. Darum hatte unser Eisenbrocken nie so viel Freunde wie zu seiner Glockenzeit.

Auch diese ging vorüber. Es kam der Feind ins Dorf. Der goß die Glocke um zu Kugeln. Ei, wie pfiff da unser Eisen übers Schlachtfeld. Und wie hat es gut getroffen. Eine neue Wohnung tat sich auf für unser Eisen. Warm ward es umrieselt von dem Blut der Menschen. Und da war es, daß zum ersten Male unser Eisen staunte: Freundnachbarlich klang ihm aus dem Menschenblut ein Gruß entgegen. Im Blut des Menschen zirkulierte brüderliches Eisen.

Nur eine Weile noch, dann sank der Mensch und ward begraben. Und wieder eine kleine Weile – sieh, da griffen Pflanzenarme in die Erde und hoben unser Eisen wieder auf ins grüne Blatt ans Licht der Sonne.

»Du sonderbare Welt du, ohne Rast und Ruh«, sagte das Eisen. Aber es war doch wieder froh, dem Gesang der Vögel zuzuhören.

Auch die Pflanzen starben. Wieder sank das Eisen in die Erde. Zu einem langen Schlafe wollte es sich vorbereiten. Da kamen die Wasser und schwemmten es auf einem langen Weg ins Meer, ins weite Weltmeer. Leise schaukelten es die Wellen in den langentbehrten Schlaf.

Und als es ein Jahrtausend oder so geschlafen hatte, erwachte es und sah sich um und sagte:

»Wie ist mir denn? Bin ich nicht früher schon einmal im Meer gewesen?«

Und plötzlich spürte es, wie es sich in feinen Schüppchen auf dem Meeresboden niederließ.

»Oh«, sagte es, »oh, jetzt weiß ich's, der Ring hat sich geschlossen, der Eisenring des Schicksals fängt von neuem an zu rollen – wohlan, wohlauf …«


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