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Die Erfindung

Ich könnte die Erfindung nennen. Sie umfunkt heute die Welt.

Aber ich nenne die Erfindung nicht. Die Geschichte könnte sonst dazu beitragen, wieder einmal Nationen aneinanderzuhetzen. Nicht um Nationen handelt sich's. Es handelt sich um Geist.

Die Geschichte selbst ist rasch erzählt: Einer machte die Erfindung. Nicht die Erfindung ihn. Denn er war ein Idealist. Es genügte ihm zu wissen: Das gelang mir.

Er beschrieb auch die Entdeckung. Mit einer krausen Zeichnung. Und mit Worten, die noch krauser waren. Wie es oft Entdecker machen, die Entdeckungen verkünden und verbergen wollen. Verkäufern gleich, die ihr Bestes hinters Ladenfenster stellen und zu gleicher Zeit die Ladentür versperren, weil sie sich von ihrem Besten nicht trennen können. An die Klinke hängen sie ein Schild: Wegen Taufe oder Todesfall geschlossen. Jede Entdeckung ist ein Todesfall des Alten und vom Neuen eine Taufe.

Die Beschreibung ward gedruckt, versandt, gelesen und bespöttelt: »Schullehrer scheinen immer noch zu viel Zeit für anderes zu haben.« Dann vergaß man's. Billiges Exportspielzeug – Püppchen, Bleisoldaten – wurde in die Blätter eingewickelt.

Wanderte übers Weltmeer. Väter wickelten am Weihnachtsabend die Geschenke aus. Einer Bleisoldaten für den Jungen. Einer einen Puppenkopf für seine Tochter.

Damit ist der Wert von Vätern für den Weihnachtsabend nahezu erschöpft. Auch zum Singen sind sie nicht zu brauchen. Sie setzen sich in eine Ecke, gähnen, streichen Einwickelpapier glatt und fangen an zu lesen, stutzen, lesen wieder, rennen in ihr Arbeitszimmer, sind imstande, auf den Weihnachtstruthahn, den die andern vorne schmausen, zu vergessen, und –

Am ersten Werktag nach den Feiertagen rennt ein Mensch durch eine Straße. Durch eine andre Straße rennt ein zweiter. Am Patentamt auf der großen Treppe stoßen sie zusammen. Jeder hat es eilig. Aber jeder ist auch gut erzogen.

Jeder macht verbindlich eine Handbewegung vor der Türe: »Nach Ihnen, bitte.« – »Nein, nach Ihnen, bitte.«

Komplimente hin und Komplimente her. Ein Beamter fährt den einen an: »Sie wünschen?«

Das entscheidet's. Der Angefahrene rollt eine Rolle auf mit Zeichnung und Beschrieb. Der Nichtangefahrene muß warten. Eine volle Stunde muß er warten.

Eine volle Stunde liegt zwischen den beiden Patentanmeldungen und –

»Jetzt der nächste«, sagte der Beamte hinterm Schalter. Auch dem Nächsten rollt sich eine Rolle auf mit Zeichnung und Beschrieb. Der Beamte lächelt: »Bedaure sehr, soeben angemeldet …«

Der Angelächelte erntet Spott, der Angefahrene Millionen Dollar, Macht und Ruhm. In den Lesebüchern aller Schulen steht sein Name als Erfinder einer Großtat, die noch heute ihre Siegeszüge um die Erde nicht vollendet hat.

Vom wirklichen Erfinder wissen diese Lesebücher nichts.

Mangelnde Gerechtigkeit und schlechte Voraussicht Gottes?

Wie aber, wenn es Gott um die Erfindung, nicht um die Erfinder – oder was sich so benennt – zu tun gewesen wäre?

Glühwürmchen

Ich las abends meinen Kindern Märchen vor. Da kam noch Besuch. Ingenieur Tilleisen war es. Ingenieur Tilleisen ist kein Durchschnittsingenieur. Er hat einunddreißig deutsche Reichspatente hinter sich gebracht. Vor sich hat er immer eindreiviertel Dutzend neue laufen. Hinter denen jagt er her, wie der Teufel auf arme Seelen.

»Ich störe doch nicht?« sagte er.

Die Kinder sahen mich an: Ob jetzt der Vater sagen würde: »Nicht im geringsten«, wie das Vorschrift ist?

Da faßte ich mir ein Herz und sagte: »Ja, Sie stören.«

Ich halte diese Antwort für das Mutigste in meinem Leben. Wer lächelt, möge es gleich heute selbst probieren, wenn Besuch kommt und ihn fragt: »Störe ich?«

Ich habe es einem alten Soldaten erzählt. Der hat's auch nicht glauben wollen, daß da was Besonderes »bei« sei. Er hat's tags darauf beim Besuch der Schwiegermutter ausprobiert. Zitternd hat mir seine rauhe Kriegerhand auf der Schulter gelegen: »Mensch, du hast recht, lieber wieder viermal Sturm gelaufen gegen Graben 23 vor Verdun.«

Was sein Besuch gesagt hat, weiß ich nicht. Mein Besuch, Ingenieur Tilleisen, sagte: »So, ich störe? Desto besser.«

Das hätte ein Witz sein können. Sogar ein guter.

Aber es war kein Witz, sondern er setzte sich sachlich, warf einen noch sachlicheren Blick aufs Märchenbuch und sagte: »Höchste Zeit.« Wir lasen damals das Märchen von dem verzauberten Prinzen, der unerhörte Aufgaben, eine schwerer als die andere, vollbringen mußte, um die Königstochter zu gewinnen.

»Ich denke da seit Wochen über ein Problem nach«, sagte Ingenieur Tilleisen.

»Dem verzauberten Prinzen ging es auch so«, suchte ich ihn für unser Märchen zu gewinnen.

»Und er hat das Patent bekommen?«

»Ich vermute, nur die Königstochter.«

»Also durchgefallen. Ich falle nicht durch. Ich erreiche es.«

Ich weiß, ich hätte höflich fragen müssen: »Was?« Aber meine Kinder gähnten, und das aufgeschlagene Märchen wartete.

Aber er klappte das Buch zu und sagte: »Seien wir vernünftig. Sie wissen doch, was Licht ist?«

Ich hätte »Nein« sagen können. Aber dann hätte er es uns bis zehn Uhr erklärt, und es war jetzt erst neun.

»Selbstverständlich«, sagte ich.

Er stutzte mißtrauisch: »Dann wissen Sie eigentlich mehr als wir.«

»Selbstverständlich«, beharrte ich.

Er sah mich giftig an: »Sie wollen mich losbringen?«

»Selbstverständlich.«

Er wollte auffahren, nach seinem Hut greifen, aber plötzlich schlug er sich aufs Knie und lachte: »Daß ich das vergessen konnte. Sie sind ja Humorist, also passen Sie mal ausnahmsweise scharf auf!«

Und dann setzte er auseinander, wie das Licht auch Wärmestrahlen aussende. Man brauche nur die Hand an die Glühbirne dort zu legen. Diese Wärmestrahlen seien überflüssig. Mehr als das, sie seien eine grauenhafte Verschwendung. Wenn man die Energie des Lichts mit x bezeichne und die der Wärme mit y, so ergäbe sich …

Er rechnete bis dreiviertel zehn das Vorsatzblatt unseres Märchenbuches über und über voll. Bis viertel nach zehn hatte er auch die Tischplatte vollgerechnet. Um halb elf Uhr hagelte er die Formel auf die Schiefertafel unseres eingeschlafenen Jüngsten. Dann sagte er: »Aus dieser Formel ersehen Sie klar –«

»Selbstverständlich.«

»– daß die für das Licht allein aufzubringende Energiemenge nur ein Millionstel dessen ist, was man heute für die mit dem Licht verbundene Wärme aufzubringen hat – ist das nicht grausig?«

»Es ist grausig.«

»So daß, wenn es gelänge – verstehen Sie jetzt endlich!« schrie er, brüllte er begeistert.

»Ich verstehe«, sagte ich, durchs offene Fenster in den Garten zeigend, »daß es eine wundervolle laue Juninacht ist, die man besser draußen zubrächte bei den – bei den Glühwürmchen.«

Da stürzte er sich auf mich. Ich dachte erst an Mord. Aber es war eine Umarmung: »Menschenskind, begnadetes!« rief er, »Sie haben es – Sie haben es erfaßt!«

Ich dachte rasch, ob im Telephonbuch die Einlieferungsstelle des Irrenhauses unter E oder unter I aufzuschlagen wäre und sagte: »Selbstverständlich.«

»Denn das Problem ist gelöst!«

»Selbstverständlich.«

»Von den Glühwürmchen. Ich habe festgestellt: sie leuchten, ohne die geringste Wärme abzugeben.«

»Sieh mal an«, gähnte ich, »diese Racker!«

»Racker, Racker! – Vorbild sind sie, unerreichtes Vorbild! Aber ich erreiche sie und helfen müßt mir ihr.«

»Uaah«, gähnte ich.

»Ich habe Mittel, euch zu zwingen. Ich setze in die Zeitung, daß Sie keinen Sinn für Fortschritt –«

»Machen Sie es kurz, was muß ich tun?«

»Glühwürmer sammeln. Viele. Meine Versuche erfordern ein Kilo Glühwürmchen. Ich habe eine Waage mitgebracht. Rasch, in den Garten – sammelt!« schrie er uns fanatisch an.

Wir wagten keinen Widerspruch und schlichen in den Garten.

»Halt, jeder eine Sammelbüchse. In jede Büchse gehn – ich habe es ausgerechnet – achttausendsiebenhundertfünfundsechzig Glühwürmer. Wer die meisten sammelt, wird in den Annalen der Physik erwähnt – marsch!«

Im Garten war die holde Nacht. Es duftete betäubend. Die ewigen Sterne standen oben silbern festgenagelt. Nein, dort fielen sie herab und schwebten durchs Gebüsch, stoben durcheinander, führten Reigen auf, zu denen meine Kinder singen wollten.

»Nicht singen – sammeln!« schrie's vom Fenster.

Da haschten wir nach den Glühwürmchen, fingen sie und sperrten sie in unsere Büchsen. Es kamen aber ihrer immer mehr. Für ein gefangenes funkten zehn herbei. Es war ein Feuerwerk. Wir sahen uns bei ihrem Schein. Wir hätten lesen können. Aber wir sammelten.

Meine Büchse war gefüllt. Ich lieferte sie ab. Der Ingenieur schüttete sie auf die Waage. Aber sie gab keinen Ausschlag. Meine Kinder kamen keuchend angelaufen, leerten ihre Beute –

»Zusammen nicht mal ein Gramm!« schrie der Ingenieur, »weiter, weiter!«

Wir sammelten fieberhaft, schütteten und sammelten, sammelten und schütteten –

»Noch immer nicht ein Gramm – ihr betrügt mich!«

Auf der Waage lagen die Glühwürmchen grau und tot. Auf einmal flogen sie auf. Wie ein Brausen war es. Sie leuchteten wieder. Sie ballten sich zu einer Sonne. Die Sonne schweifte durch das Zimmer. Jetzt verknallte sie –

Ich erwachte. Ich saß am Tische vor dem Märchenbuch. Meine Kinder ringsum schliefen, die Köpfe auf gekreuzten Armen. Der Stuhl des Ingenieurs war leer. Ein Glühwürmchen gaukelte darüber.

Anschauung

Die Gewissenhaftigkeit der Ingenieurstudenten habe nachgelassen, hieß es. Liederliche Arbeit sei auf einmal eingerissen. Auf ein Dezimalkomma mehr oder weniger käm's ihnen gar nicht mehr an.

Der Rektor setzte eine Konferenz fest.

Der Maschinenbauprofessor sagte, die Zügel müßten straffer angezogen werden.

Der Physikprofessor sagte, man müsse ihnen eine Standrede halten.

Reden nütze nicht viel, sagte der Chemieprofessor, wenn man strafen könne, gehörig strafen.

So und ähnlich sprachen alle.

Dann ergab sich eine Pause. Alle blickten auf den Rektor. Der war stumm geblieben. Jetzt erhob er sich. »Darf ich bitten?« sagte er.

»Darf ich bitten?« wiederholte er auf den Gängen, wo die Studenten in der Zehnuhrpause auf und nieder gingen.

»Darf ich bitten?« sagte er im Hochschulhofe, nach dem Keller weisend.

Betroffen stand man dann im halben Kellerdunkel. Verbogenes Gestänge lag umher, zerbeulte Platten.

»Altes Eisen«, sagte der Physikprofessor.

»Verkrachte Dampfmaschinen«, sagte der Französischlehrer.

»Gasröhren, kaputte«, sagte der Mathematikprofessor.

»Meine Herren«, sagte der Rektor, »straffe Zügel – Standrede – harte Strafen, nicht wahr? Mich dünkt, wir hätten alles hier zusammen.«

Die Lehrer sahen sich an. Die Studenten sahen sich an. Eines Messers dünne Schneide lag noch zwischen Furcht und Lachen.

Ein Lichtstrahl fiel durchs Kellerfenster. Ein Klebezettel glänzte auf. »Reste der eingestürzten Rheinbrücke«, stand da, »50 Reisende tot, 100 verstümmelt.«

Das verschränkte Gestänge wurde lebendig. Die Arme der Ertrunkenen ragten aus den Wellen. Durch zerbeulte Platten schauten schreckhaft die Gesichter der Erschlagenen. Rostzerfressene Löcher wurden schreiende Munde. Wasser gurgelte hinein. Fäuste ballten sich …

Erschüttert standen sie in langem Schweigen.

»Und die Ursache?« fragte jemand.

»Das falsche Komma eines jungen Ingenieurs«, sagte der Rektor, »darf ich bitten?«

Und sie stiegen in den Tag hinauf und in eine neue Disziplin.

Der Jahrtag

Immer im August schon machte man den Schlachtenplan fürs nächste Jahr.

Der Fabrikbesitzer stand im Zimmer seines alten Prokuristen. »Na, Frommel«, sagte er, »die Losung?« Der Weißkopf wiegte sich.

»Auf eins der Fabrikate wird man sich mit ganzer Kraft versteifen müssen.«

»Nicht übel. Indes, wir haben viele. Da sind Wasserschöpfer, Kaminaufsätze, Einkochapparate, Badewannen, Wärmflaschen, Waschwannen, Ölkannen –«

Der Alte lächelte: »Am besten wär's, die Fabrikate selber träfen die Entscheidung.«

»Auch nicht übel«, lachte der Besitzer, »nur: wie bringt man sie zum Reden?« – »Sie reden immer. Der Fehler liegt an uns. Wir hören schlecht. Am schlechtesten in der Betriebsamkeit des wachen Tages.«

Der Fabrikant schmunzelte: »Sie meinen also, Frommel, daß man schlafen müsse, um die Sprache unserer Fabrikate zu verstehen?« – »Es ist was Wahres dran. Die sogenannten toten Dinge haben ihre eigenen Gesetze. Zum Beispiel auch den Jahrtag.«

Der Fabrikherr schaute besorgt und unsicher: »Jaja, die Hitze, Frommel«, murmelte er. – Der Alte lächelte: »Die Hitze ist es nicht.«

»Dann – dann –«

»Sagen Sie es nur: Sie meinen, der Frommel werde alt.«

»Dann bleibt nur: Sie sind trotz Ihrer haarscharfen Preiskalkulationen ein verkappter Dichter, lieber Frommel.«

»Der ist jeder, wenn die Stunde über ihn kommt.«

»Welche Stunde?«

»Wo die toten Dinge reden. Im Traum. Am Jahrtag. – Verzeihung, ich muß rasch ins Lager.« Draußen war er.

Der Fabrikherr setzte sich. Sinnend stützte er den Arm auf. Hm, der Schreibtisch hatte da gerade eine Dülle. Ja, schon unter seinem Vater hatte hier der treue Frommel seinen Ellenbogen aufgestützt. Im Denken für die Firma. Er war schon recht, der Alte. Wenn er auch mal seine Schrullen hatte. Diesen Jahrtag da zum Beispiel, was war das nun wieder?

Die Sonne brannte. Es war schwül im Arbeitszimmer. Schwer sank der Kopf nach vorn, der Dülle zu …

Was war das? Aus der Dülle wurde ein Tor. Ein dunkles Tor. War das nicht das Tor beim Pförtner?

Jetzt von draußen ans geschlossene Tor ein Schlag. Noch einer. Ein dritter. Warum öffnete der Pförtner nicht? Wo war er denn?

Da – abermals drei Schläge.

»Wer ist draußen?«

»Wir.«

»Wer wir?« – »Kennst du deine Kinder nicht?« »Ich«, stotterte der Fabrikherr, »ich habe keine Kinder.«

Gekicher vor dem Tore: »Hunderttausend hast du doch in jedem Jahre.«

»Ach so, meine Fabrikate, meint ihr?« – »Die meinen wir nicht, die sind wir.« – »Seid ihr? Ganz unmöglich. Die unverkauften sind hier drinnen auf dem Lager. Und die verkauften sind in alle Welt zerstreut. Sie sind fehlerlos. Sie pflegen nicht zurückzukommen.«

»Doch. Einmal. Am Jahrtag. An unserm Jahrtag.«

»Schon wieder dieser Jahrtag. Ich kenne euren Jahrtag nicht.«

Gelächter draußen: »Er kennt unsern Jahrtag nicht! Erklär's ihm, Wanne – künd's ihm, Kanne.«

Ein Dröhnen in der Mondnacht, wie wenn Eisen schlägt an Eisen: »Einen Tag im Jahr haben die im letzten Jahr verkauften Waren frei. Den nützen sie zur Wiederkehr in ihre Heimat. Dort kommen sie zusammen. In der Nacht. Sie begrüßen sich. Sie erzählen –«

»Was denn?« – »Was sie draußen erlebten.« – »Hm, ein Kaffeeklatsch also, sozusagen – ist das alles?« – »Nein, es ist ein Wettbewerb. Wer das beste Erlebnis erzählt, wird gekrönt.« –

»Ei, gekrönt – womit denn, wenn man fragen darf?« – »Mit dem Bauprogramm des neuen Jahres.«

»Merkwürdig, nach diesem bin ich gerade auf der Suche. Kommt herein«, schob der Fabrikherr die mächtigen Riegel zurück, »seid willkommen.«

Da kamen sie herein, in langem Zug, die Fabrikate des vergangenen Jahres. Hübsch geordnet kamen sie in Bataillonen. Freilich nicht mehr alle ungebeugt und blitzblank, wie sie ausgezogen waren. Manches war verbeult vom Leben. Aber ausgehalten hatten sie es alle.

Ernst grüßend hatte der Fabrikherr die rechte Hand an der Schläfe. Wie sie da hereinmarschierten, nahm er die Parade ab. Es wollte nimmer enden, so viele kamen ihrer. Der ganze weite Fabrikhof war angefüllt. Das Tor fiel zu. Stumm lag Erwartung in der Runde.

»Beginnet.«

Eine Badewanne trat vor: »Ich komme vom Hotel. Vom ersten in der Stadt. Eine Menge Leute haben in mir gebadet.« – »Ist das alles?« fragte der Fabrikherr. – »Einmal, als der Gasthof überfüllt war, hat ein Lord in mir geschlafen«, berichtete die Wanne stolz und trat zurück.

»Der nächste«, sagte der Fabrikherr.

Eine zweite Wanne trat vor. »Nein«, schepperte sie vor Lachen, »es war zu drollig mit dem Russen!« – »Erzähle!« – »Er war irgendwo gefangen und bekam ein Bad, ein deutsches Bad. Als er mich erblickte, schrie er gottesjämmerlich, fiel auf die Knie und bat mit aufgehobenen Händen: Nicht ertränken, bitte, nicht ertränken!« – »Ganz nett, der nächste.«

Eine Waschwanne trat vor: »Ich stand im Garten. Es war großer Waschtag. Die Mutter hatte kochend Wasser in mich eingegossen. Sie wurde abgerufen. Übern Rasen krabbelte ein kleines Kind zu mir. Es kletterte spielend an mir hoch. Über meinen Rand beugte es sich. Ich schauderte. Ich blickte hilfesuchend in den Nachbarsgarten. Dort war ein Marder in den Hühnerstall geschlichen. Der Nachbar auf der andern Gartenseite hatte es gesehen. Das Gewehr riß er vom Nagel, zielte – zielte schlecht – whsst – wie habe ich die Kugel unterwegs gebeten: »Komm, o komm!«

»Kam sie?« – »Ja, sie war barmherzig. Sie schlug ein Loch in mich. Ich lief aus. Der Rasen trank das siedende Wasser.«

Der Fabrikhof atmete auf.

»Und die Mutter?« fragte der Fabrikherr.

»Kam zurück und – jammerte drei Tage über das Loch in der Wanne.«

Der Fabrikherr nickte: »Brav gemacht – der nächste!«

Ein Einkochapparat trat vor: »Ich bin besungen worden.«

Der Fabrikhof lächelte: »Du? Unsereins wird nicht besungen. Die Dichter halten uns für zu prosaisch.«

»Ja, ich weiß. Wir müssen sie ihnen vorsingen, unsere Poesie. Dann singen sie schon nach.«

»Erzähle!«

»Mein Herr war ein Dichter. Er besang den Sommer und war glücklich. Ein Schmerz quälte ihn. Daß es vier der Jahreszeiten gab. Über alles liebte er die Früchte. »Ach«, seufzte er, »daß es Obst und Kirschen übers ganze Jahr hin gäbe – wenn einer doch den Sommer ewig machen könnte!« – »Kann ich«, sagte ich. – »Du?« lachte er, wie eben ihr, »wieso denn?« – »Indem ich aller Früchte Süße, Lieblichkeit und Frische ewig mache.« – »Das wenn du mir zuliebe tätest«, rief der Dichter, »du dürftest irgendeinen Dank von mir verlangen.« – »Besinge mich.«

Der Einkochapparat schwieg.

»Und dann, wie ging es dann?« – »Wie ich es sagte. Ich wurde eingefüllt und angeheizt. Dann sang ich. Darauf besang er mich.«

»Das hast du gut gemacht, der nächste!«

Eine Wärmflasche schaukelte nach vorne: »Ich bin nicht poetisch. Aber ein Herz habe ich doch.«

»Erzähle!«

»Mein Herr war ein alter Starrkopf. Er war mit seinem Sohne zerfallen. Im Zorne waren sie geschieden. In seiner Sterbestunde aber wurde er weich: »Mein Sohn, mein Sohn!«

Man depeschierte. Auf dem gleichen Wege kam die Antwort, daß er am Morgen eintreffe. Aber der Arzt hatte sorgenvoll den alten starren Körper angesehen, an dem die Todeskälte schon heraufkroch. »Er wird die Nacht kaum mehr überleben«, sagte er auf der Treppe, »immerhin, versuchen Sie's.« – »Womit?« – »Mit dem, woran es ihm ein ganzes Leben lang gefehlt, mit Wärme.« – »Und du?« – »Ich? Ich rettete ihn in den Morgen und in die Arme seines Sohnes.« – »Ich bin mit dir zufrieden«, sagte der Fabrikherr, »der nächste!«

Eine Badewanne trat vor und räusperte sich.

Im Fabrikhof raunte es: »Gleich wird der Mond verschwinden. Wir müssen es mit ihm. Wir müssen zurück an unsere Arbeitsstelle. Die Jahrnacht ist zu Ende. Faß dich kurz!«

»Kurz?« sagte die Badewanne, »gut, es sei. Ich wurde in die Neue Welt geschickt. Nach Amerika. Was ich ihnen bringe, hat man mich gefragt. ›Respekt vor deutschen Fabrikaten‹, habe ich gesagt, ›was aber gebt ihr mir für drüben?‹ – ›Einen Paragraphen unseres Baugesetzes: Jede neuerbaute Wohnung, auch die ärmste, muß ein Badezimmer haben.‹«

Die Wanne schwieg.

»Ist das alles?« höhnte der sinkende Vollmond.

»Meiner Treu, es ist das beste Erlebnis dieses Jahrtags!« rief der Fabrikherr und schlug mit der Faust auf – die Dülle im Schreibtisch.

Der Prokurist stand vor ihm.

»Ich glaub' wahrhaftig, Frommel«, sagte der Fabrikherr, »ich war ein wenig eingenickt bei dieser Hitze. Sagten Sie nicht vorhin, daß man sich in diesem Jahr mit ganzer Kraft auf eine Losung konzentrieren müsse?«

»Ja.«

»Und daß die Fabrikate selbst entscheiden müßten?«

»Allerdings. Nur daß es schwer ist, sie zum Reden –«

»Sie haben geredet.«

»Was?«

»Badewannen – Badewannen – Badewannen.«

Die Flaschenmaschine

Morgen kommt sie«, sagte der Flaschenbläser Martin. Und alle wußten, was er meinte. – »Warum lassen wir uns das gefallen?« sagte der Bläser Dresemann. – »Ich habe schon gekündigt«, sagte einer. – »Ich auch!« – »Ich auch!« – »Ich auch …« ging es durcheinander. – »Das war nicht gescheit«, sagte Dresemann, »so habt ihr nur die Flucht ergriffen vor der – vor der Maschine.« – »Ach was, wir werden Maschinen fürchten! – demonstriert haben wir.« – »Ja, rückwärts demonstriert – es kommt auf eins hinaus.« – »Was hast du denn getan, Dresemann?« – »Ich? Nichts – ich warte.« – »Worauf denn?« – »Auf die Maschine.« – »Und dann?« – »Dann – dann zerschmeiße ich sie.« –

Alle sahen sich um. Nein, sie waren ganz unter sich in der Vesperpause.

»Zerschmeißen, dazu hättest du den Mut?« – »Zerschmeißen, kann man das?« – »Ob man das kann? Ihr redet eben, wie ihr es versteht«, sagte Dresemann polternd, »ich bin der erste nicht. Habt ihr nie davon gehört, wie sie vor vielen Jahren schon die Webmaschinen in England angezündet haben, weil sie ihnen das Brot wegnahmen?« – »Aber die Flaschenmaschine ist aus Eisen; die kannst du nicht anzünden, mein Lieber!« – »Zerschmeißen tu ich sie, habe ich gesagt!« – »Und dann?« sagte die ruhige Stimme des Glasbläsers Martin, der da Flaschen blies, seit die Fabrik gegründet wurde. –

»Dann? Dann ist sie hin«, sagte Dresemann mit starker Stimme. – »Und dann?« – »Frag nicht so. Wenn das Luder hin ist, haben wir doch unsere alte Arbeit wieder.« – »Und wenn sie eine neue Maschine aufstellen, Dresemann?« beharrte Martin. – »Dann zerschmeiße ich sie auch.« – »Und wenn sie dich vorher einstecken, Dresemann?« – »Dann – dann wird sie ein anderer zerschmeißen – nehme ich an – oder nicht?« Er sah herausfordernd im Kreise herum.

Alle sahen sich unsicher an. Nur der alte Martin sagte: »Dresemann, du hast uns vorher die Geschichte mit den verbrannten Webmaschinen nicht fertig erzählt.« – »Was soll's da noch zu erzählen geben?« – »Das noch, Dresemann, daß die verbrannten damals knapp ein Dutzend waren, und daß Hunderttausende klappern.«

»Pst, der Alte kommt.«

Der Werkmeister ging vorbei. »Leute«, sagte er, »fast die Hälfte von euch hat gekündigt? Der Direktor war ganz überrascht. Es ist ihm freilich gar nicht unrecht bei der flauen Zeit – aber behalten hätte er euch doch – hätte auf Lager arbeiten lassen.« – »So? Und die Maschine?« – »Ach die? Da kommen morgen erst die Stücke. Seid ganz ruhig, bevor die richtig läuft, vergeht ein Vierteljahr. Und außerdem – wegen der Maschine wird keiner entlassen – nur für die, die gehen, stellen wir nicht neue Leute ein.«

Ein wenig zähe ging es diesmal an den Wannenofen. Widerborstige Gedanken kreuzten sich. In das Schöpfen und das Blasen wollte noch kein rechter Rhythmus kommen. Endlich stimmte einer das alte Glasbläserlied an. Die ihre Formen bliesen, nahmen den Rhythmus in den Pausen auf, wo sie wieder Atem holten. Die schwermütige Weise strich wie ein Magnet über die Menschen und ihre Arbeit. Schon schwangen sie in einer Richtung. Zwangsläufig fuhren die gewohnten Arbeitsgriffe ineinander. Siegreich drang der Rhythmus durch die Hitzewellen, die aus dem Weißglutmaul der Wanne strahlten. – – –

Am andern Morgen kamen die Maschinenstücke mit der Bahn. Die Glasbläser sangen das Glasbläserlied, als sie hereingeschafft wurden. Einen Augenblick ebbte die Weise ab. Sollten sie ganz aufhören? Aber dann besannen sie sich: Nein, jetzt gerade. Die Stimmen schwollen an. Wie ein Trutzlied klang es. Die Maschine sollte es nur hören. Die Maschine? Aber das war ja gar keine Maschine. Das war ein endloser Zug von Hülsen, Trichtern, Schrauben, Bolzen, Nieten, Stangen, Flanschen, Platten, Scheiben, Rädern, Federn, Röhren. Und das sollte eine Maschine geben? Ein Kuddelmuddel gab es, eine wohlassortierte Eisenwarenhandlung, aber keine Maschine. Höhnisch schnellte der Refrain des Glasbläserlieds gegen die vorbeigeschafften Stücke: Du tust uns nichts, du bist ein Kinderschreck, der niemals arbeiten wird. Die Maschine wurde an der hinteren stillgelegten Wanne aufgestellt. Maurer mauerten das Fundament so tief, daß einer von den Bläsern hinüberschrie: »So ist's recht, nur eingegraben und gleich den Sargdeckel drauf!« – »Ja, den eurigen«, gaben die Maurer zurück.

Dann kamen die Monteure. Sie stutzten, als ihnen das Glasbläserlied entgegenscholl. Gesänge bei Maschinen hatten sie noch nie gehört. Aber da war ja noch keine Maschine. Die maschinenlose Arbeit hatte den Gesang geboren. Wenn die Maschine erst zu rattern anfing, das große Wunderwerk der Flaschenmaschine, die würde den Gesang schon bald zerstampfen.

Aber schön war er doch, der Gesang. Die Monteure blieben stehen. Glas glitzerte und klirrte drin und der Arbeitsfrohsinn stieg daraus. Und dann begaben sie sich an die Aufstellung der Flaschenmaschine. Das war eine mühsame Arbeit. War es doch die erste ihres Geschlechtes. Noch war sie tot. Daß sie leben konnte, sollte sie erst beweisen.

»In Amerika soll es schon eine geben«, sagte einer in der Arbeitspause. – »Wer's glaubt«, sagte Dresemann, »in Amerika läuft jede Maschine erst einmal mit dem Maul.« – »Kann sein«, sagte der Bläser Martin, »kann sein – aber umsonst, denk ich mir, wird unser Flaschensyndikat die zwei Millionen für das deutsche Patent auch nicht gegeben haben!« – »Zwei Millionen – zwei Millionen – zwei Millionen?« ging es durcheinander, »Martin, wo hast du das gelesen?« – »In unserm Fachblatt steht's; mich wundert's, daß ihr es nicht gelesen habt.« – »Wie heißt denn der Erfinder?« – »Owens; ich weiß nicht, wie man's ausspricht – ich meine ›Au-ens‹ hätte ich den Direktor sagen hören.« – »Au? Au ist gut«, sagte Dresemann; »paßt auf, das Au hat eine Vorbedeutung – wenn das Dings da laufen soll, dann heißt es: Au, es geht nicht!«

Alle lachten. Nur der Bläser Martin schüttelte den Kopf.

Nun montierten sie schon die dritte Woche an der Maschine. Etwas war falsch gemacht worden. Es mußte wieder abgetragen werden. »Hallo!« rief man hinüber, »am besten ist, ihr tragt das Ganze ab und fort!« – »Ja, und euch da mit«, setzte ein anderer dazu.

Die Monteure beschwerten sich. Man richtete eine Sperrwand auf. Jetzt war der ganze Raum abgeschlossen. Die Bläser lachten: »Wie eine Falschmünzerbande«, sagte einer, »die bei verschlossenen Türen arbeitet.«

Das Wort erhielt sich. »Falschmünzer! Falschmünzer!« rief man den Monteuren auf offner Straße nach. Einer kehrte um und rannte nach. Im Feierabend-Zwielicht meinte er, es sei ein Straßenjunge. Und als er ihn erwischt hatte, schrie er: »Du Lausbub!« und schüttelte ihn. Aber da war es gar kein Straßenjunge, sondern ein Glasbläser. – »Warum heißt ihr uns Falschmünzer?« sagte der Monteur finster und ließ ihn los. – »Weil ihr die Maschine baut.« – »Wir müssen; wir stehn so gut im Lohn wie ihr.« – »Aber eure Maschine treibt uns aus der Arbeit!« – »Dummes Zeug – je mehr Maschinen aufgestellt werden, je mehr Arbeit hat es noch immer gegeben.«. – »Aber diese macht zwölftausend Flaschen im Tag – zwölftausend Flaschen!« – »Seid froh; dann könnt ihr sie bedienen und braucht nicht mehr schwer zu blasen.« – »Wir wollen aber blasen; wir wollen nichts anderes tun.« – »Dann – dann sprecht mit dem Erfinder, der kommt morgen; mich laßt jetzt in Ruhe …«


Am andern Tage kam ein kleiner Mann durch die Türe der Arbeitshütte. Gleich hinter ihm kam der Direktor. Im Augenblick standen die beiden neben dem Podium vor der großen Wanne, wo eine neue Arbeitsschicht begann.

Eben stimmte der Bläser Martin den gewohnten Gesang an. »Wieder so'n Besuch, der hinten und vorn nichts versteht«, flüsterte ein Bläser dem andern zu. Und dann begann die Arbeit mit dem Lied. Sie schöpften und sie sangen, sie trugen und sie sangen, sie drehten und sie sangen, sie schwangen und sie sangen, sie bliesen und sie sangen.

Der Direktor lächelte gesellschaftsmäßig. Der kleine Besucher hielt seinen Kopf gebeugt und neigte ihn ein wenig, als könnte er den Rhythmus in dieser Haltung besser fassen. Auf einmal sah er auf. Voll schaute er den Leuten auf der Arbeitsbühne ins Gesicht. Und dann geschah etwas Seltsames. Das aufgelohte Lied sank zusammen. Dünner, immer dünner wurde es wie eine Kerzenflamme, die verlöscht. Und der, woran das Lied verlöschte, war der kleine Mann bei dem Direktor.

»Der ist's«, flüsterte es zwischen den Handgriffen. – »Wer?« – »Der dort.« – »Was, der kleine Mensch?«

Indessen schaute das Gesicht des kleinen Menschen ruhig durch die Arbeit, durch die Menschen, durch ihr Geflüster. Es war ein weltentrücktes Gesicht. Von großen und kleinen Falten zerrissen und von zwei großen Augen beherrscht. Wenn man in die hineinsah, wurde der ganze Kopf ein Auge. Der ganze Mensch da sah aus wie ein großes Auge, das unbekümmert in die Feme sieht.

Die Arbeit oben stockte.

»Wir wollen weitergehen«, sagte der Direktor verbindlich.

Wortlos sahen die Arbeitsleute dem wandelnden Auge nach. Jetzt verschwand es hinter der Mauer, die den Montageraum trennte.

»Das war er«, ging es rundum. Und dann nahmen sie ihre Arbeit wieder auf. Aber das Singen vergaßen sie. Dagegen sahen sie immer wieder nach der Türe der Trennungsmauer. Dort mußte das große Auge doch wieder herauskommen, dachten sie.

Aber das große Auge kam nicht heraus. Der Direktor kam und ging. Die Monteure kamen und gingen. Aber das große Auge sahen die Glasarbeiter nicht. – Die Feierstunde kam. Es strömte nach den Türen. Leer wurde die Fabrik. Als letzter ging der Direktor. Zurück blieb das große Auge hinter der Mauer. Man hatte ihm Essen hereingestellt. Er arbeitete die ganze Nacht an seinem Werk.

Und so am andern Tag. Und so die nächste Nacht. Drei Tage und drei Nächte blieb er drin. Vielleicht daß er des Nachts ein paar Stunden auf einer Decke neben seinem Werke schlief. Und als er am vierten Tage wieder zum Vorschein kam, sah er aus wie immer: Ein großes Auge.

Die Glasarbeiter konnten sehen, wie der Direktor lange auf ihn einsprach. Aber der Mann mit dem großen Auge machte nur eine Handbewegung: »Sie wird gehen«, sagte die Bewegung.

Und dann reiste das große Auge ab nach Amerika.


Am nächsten Tage war die monatliche Kündigungsfrist verstrichen. In einer Reihe standen sie vor dem Büro am Schalter und nahmen ihren letzten Lohn. Der Werkmeister ging vorüber und zuckte mit den Achseln: »Habt's selbst gewollt.« Ihr Weg ins Freie ging nochmals durch den Arbeitsraum. Die Trennungsmauer vor der hinteren Wanne war niedergelegt. Die Flaschenmaschine stand da. Mit einem dicken Pfeiler stieg sie aus der Erde und blies einen ungeheuren Körper auf. Rundum gleißte es an ihm von Apparaten. Wie ein riesenhafter Patronengürtel ging es um ihren Leib.

Wenn einer sie von oben ansah, war sie ein gewaltiges Facettenauge, das geduldig auf die Decke starrte und darauf harrte, daß ein Kraftnerv es belebte. Das Auge des Erfinders, auf die Welt von Eisen projektiert – das war dieses Werk.

Die entlassenen Arbeiter gingen in einer dünnen Reihe vorüber. Scheu blickten sie hinüber zu dem eisernen Facettenauge und sagten nichts und gingen schneller. Jetzt war der letzte aus der Türe.

»Fort mit Schaden«, brummte Dresemann hinter ihnen her, »wollten auftrumpfen und sind doch nichts als Feiglinge.« – »Sag das nicht«, kam des Bläsers Martin tiefe Stimme, »es könnte dir auch mal so ergehen!« – »Mir? Nicht bevor ich dieses Ding zerschmissen habe!« »Halt das Maul, Phantast!« –

Vom Direktionsbüro kam der Werkmeister: »Wir blasen wieder zwei Wannen nieder«, sagte er »ihr verteilt euch auf die übrigen.«

Da ging der Glasbläser Martin auf den Werkführer zu und fragte ihn laut: »Ist das wahr, wenn sie einmal geht, dann werden alle Wannen bis auf die von der Maschine abgeblasen?« – »Wer hat das gesagt, Martin?« – »Niemand. Aber ich kann mir zur Not doch selbst einen Vers auf etwas machen. Zwölftausend Flaschen liefert sie im Tag, steht in unserm Blatt, und zwölftausend Flaschen täglich, Herr Werkmeister, sind mehr als wie wir jetzt –« – »Stimmt. Aber von euch wird keiner entlassen. Ins Lager sind ein paar gegangen, im Versand brauchen wir dann einige Neue – es wird schon, Leute – nur nicht aufgeregt – und außerdem: sie geht noch nicht.« – »Und wird auch niemals gehen!« sagte Dresemann schnell und verbissen.

Aufmerksam schaute ihn der Werkführer an: »So«, sagte er, »das weißt du so genau, Dresemann?«

Dresemann brummte etwas Unverständliches und ging an seine Arbeit.


Es hatte sich herumgesprochen: Morgen sollte die Maschine gehen. Als es der Werkführer hörte, sagte er: »Nein, es ist nur ein Teilversuch.« –

»Das sagen sie immer«, flüsterte Dresemann nachher seinen Kameraden zu, »für den Fall, daß es nicht geht, haha. Wozu hätten sie denn sonst die alte Wanne dabei anblasen lassen, wenn es nur ein Teilversuch sein soll?«

Die Monteure wurden aufgeregt. Sie schmierten und sie ölten. Sie zogen Schrauben an, schlüpften in das innere Gefüge und gingen um das Ungeheuer wie um einen Gott, den sie um eine Gabe anflehten. Die Ingenieure standen in einer Gruppe beisammen, stützten das Kinn in die Hand, nickten, zogen Augenbrauen hoch und besprachen sich leise.

Der Werkmeister kam hinter der Wanne hervorgelaufen und machte ein Zeichen: »Die Flußmasse in der Ofenwand hat jetzt die richtige Temperatur«, hieß das.

Der Direktor ging mit kurzen erregten Schritten zu einem Ingenieur und schien ihn um etwas zu bitten. »Gewiß«, sagte der Ingenieur laut und zeigte auf einen elektrischen Hebel. – Und wie jetzt der Direktor auf den Hebel drücken wollte, war ein großen Schweigen in der Arbeitshalle. Die Ingenieure unterhielten sich nicht mehr. Die Monteure standen still in einer Reihe. Die Arbeiter an der nächsten Wanne im Betrieb hatten das Glasbläserlied abgebrochen. Der Augenblick schlug ihnen für eine Weile die Arbeit aus der Hand. Auf den Zehenspitzen standen sie und schauten herüber.

Des Direktors Hand zitterte nervös. Dann drückte sie den Hebel fast zaghaft.

Jetzt sollte die riesige Arbeitsmaschine durch den Strom getrieben werden. Die ganze Fabrik hielt den Atem an. Nur die Glasmasse, die weißerhitzte, in der Wanne brauste wie aus weiter Ferne.

Eine Sekunde verstrich – zwei – drei – Die Maschine rührte sich nicht. Die Röte stieg den Monteuren und Ingenieuren ins Gesicht. Verlegene Augen glitzerten einander an. Von drüben kam ein unterdrücktes höhnisches Gelächter. Ein Schwirren von Stimmen wollte anheben. Da ging der erste Ingenieur heftig auf den großen Hebel zu und schlug ihn stark. Er rückte noch ein wenig. Der Direktor hatte ihn vorhin nicht kräftig genug angepackt.

Und mit dem letzten Ruck des Hebels erhob sich ein Stöhnen aus der Maschine. Das schnitt die angeknüpften Gespräche mitten durch. Das wischte das Hohngelächter von der Wanne drüben aus der Halle. Das rückte jedes Rückgrat grade. Das hob alle Köpfe. Das ließ Stimmen klingen, Augen voll Erwartung sprühen.

Nur sekundenlang ging dieses Stöhnen durch die schweigsame Halle. Dann fing es an zu rattem und zu knattern. Wie ein Schützenfeuer war es. Wie eine Schlacht, in der es auf den letzten Angriff ging. Und die große Maschine siegte in der Schlacht.

Ein Tumult erhob sich unter den Zuschauern.

»Hurra!« schrien einige. »Hoch!« die andern.

Man drängte sich durcheinander. Man drückte sich die Hände. Unverständliche Ausrufe. Hin und her lief der Direktor. Jetzt drückte er einem Monteur die Hand, dann einem Ingenieur. Auf ein Haar hätte er den ersten Ingenieur umarmt, den er gerade vorher, als die Maschine zu versagen schien, mit seinen Augen fast gefressen hätte.

Dann sah der Direktor, daß alle, alle Arbeiter in der großen Halle ihre Arbeitsstätte verlassen hatten, herbeigelaufen kamen – wie eine dreifache, vierfache Kreismauer umstanden sie die Maschine und fuchtelten mit den Händen und sprachen aufeinander ein in einer wilden Art, daß man das Rattern der Maschine kaum noch hören konnte.

Aber auf einmal siegte die Maschine wieder über den Menschenlärm. – Indem sie alle Augen magnetisch auf ihre Wunder zog, verschloß sie allen Leuten ihren Mund. Und nun herrschte die Maschine unumschränkt. Gebannt standen die vielen Menschen und schauten und schauten. Staunten, wie das ratternde Maschinenungeheuer in die glühende Schmelzmasse griff und, soviel sie nötig hatte, automatisch daraus ansog. Staunten, wie die angesogene Masse in einer Vorform verschwand. Staunten, wie sich die Masse in der Vorform selber hohl blies. Staunten, wie die vorgeblasene Form in einer Sekunde wieder von der richtigen Form aufgefangen wurde, um in der nächsten Sekunde als fertige Flasche in einen Behälter zu fallen. Trapp, eine Flasche – trapp, die zweite – trapp, die dritte – trapp, die vierte …

Das eiserne Facettenauge drehte sich und drehte sich. Die fertigen Flaschen wurden aufgeschichtet. Es wuchs die Schicht und wuchs – und noch immer standen sie herum, mächtig ergriffen, und konnten die Augen nicht von diesem Wunderwerke wenden …

Gleichmütig sah das gedrehte Auge auf zur Decke. War da droben nicht eine Luke? Licht drang herein. Licht von der gleichen Sonne, die drüben in Amerika das Auge des Erfinders und hier die wunderbare Apparatur des Maschinenungeheuers blitzen machte.


Es war Abend. Die Gruppen hatten sich losgerissen von dem zauberhaften Eisenauge. Langsam gingen sie auseinander.

»Zwölftausend Flaschen auf den Tag?« murmelte der Direktor, »wir werden unsere Dividende erhöhen können.«

»Zwölftausend Flaschen auf den Tag?« murmelte der Werkmeister. »Ich werde meinen Leuten morgen sagen können, daß sie leichtere Arbeit bekommen, ohne daß der Lohn herabgesetzt wird.«

»Zwölftausend Flaschen auf den Tag?« murmelte zur selben Zeit im andern Erdteil der Erfinder, und sein großes Auge beugte sich über eine Zeichnung, »zwölftausend nur? Es müssen zwanzigtausend werden …«


Die Maschine ging jetzt schon den dritten Tag, die dritte Nacht. Die Menschen dienten ihr, und den Menschen diente sie. Aber noch war keine Gewöhnung über die Menschen in der Arbeitshalle gekommen. Noch immer gingen sie an der ratternden Maschine vorbei, wie man an einem Altar vorübergeht.

Da war es in der Nacht, daß der alte Glasbläser Martin die Gasleitung nachprüfte, die von der besonderen Generatorenanlage an das Facettenauge führte. Daß diese Hitzezufuhr richtig arbeitete, das war jetzt des alten Glasbläsers Verantwortung.

»Das war die letzte Schwierigkeit bei der Erfindung«, hatte ihm der Ingenieur bei der Instruktion gesagt, »wenn die verschiedenen Formen nicht alle auf ein Zehntel der Sekunde richtig erwärmt werden – soviel jetzt und soviel jetzt – so springen alle Flaschen. Daran allein hat der Erfinder zwei Jahre herumstudiert. Vergessen Sie nicht, Mann, von Ihrem Dienste hängt es ab, ob die Flaschen etwas taugen oder nicht.«

Das hatte ihm der Ingenieur gesagt. Und er, der alte Glasbläser, hatte genickt dazu.

Vor drei Tagen war das, dachte er, und sah die Leitung nach und die Ventile …

So – das war in Ordnung. Die nächste halbe Stunde war jetzt frei. Eine Weile hatten sie die Maschine stillgelegt. Sie mußte etwas kühlen. Derweil verschnaufte sich der Diener der Maschine draußen vor der Halle.

Sollte er auch hinausgehen? Aber da besann er sich und setzte sich in eine Nische. Von dort sah er still auf die ruhende Maschine. Nein, sie hatte ihm sein Brot nicht genommen. Er bekam den gleichen Lohn und hatte weniger mühevolle Arbeit. Aber was hatte sie ihm denn dann genommen? Die alte Arbeit? Ja, das war wahr: die alte Arbeit, an die er jahrelang seine Kraft gesetzt, die sein Leben schon ein halbes Menschenalter füllte – die hatte ihm die Maschine wohl genommen. »Geh weg, das mach jetzt ich!« hatte sie gesagt. Das war schon hart für ihn. Eine Arbeit, mit der man ordentlich verwuchs, der sieht man nur mit einem dunklen Auge nach, wenn sie ein anderer uns aus der Hand nimmt. Aber ließ sich nicht auch so eine Maschine liebgewinnen, der man diente? Jetzt noch nicht, jetzt war sie noch zu ungeheuer. Aber mit der Zeit würde er sie schon bewältigen mit einer treuen Bedienung, wie sie ihn bewältigt hatte …

Plötzlich wurde der Alte in seinem Denken unterbrochen. Wer kam dort herangeschlichen? Mit einer Büchse in der Hand und einem Stemmeisen? War das nicht der – der Dresemann? Und der Alte sah, wie der Mensch sich vorsichtig an die Maschine heranmachte, sah Sand in der Büchse und Steine. – Ah, die wollte der in das Getriebe schmeißen? Und dann sah er zitternd weiter, wie der sein langes Stemmeisen prüfte. – Aha, mit diesem wollte der einen Teil des Gefüges brechen?

Langsam stand der alte Martin auf.

Jetzt hatte er dort vorne noch neugierig an einem Ventil herumgefingert – und jetzt, jetzt machte er die Klappe an einer Röhre auf – Herrgott, die Klappe an der Röhre, durch die das Brenngas strich!

Und während die eine Hand die feste Klappe löste, machte die andere mit der Sandbüchse einen Schwung in das Getriebe der Maschine. –

»Halt!« wollte der alte Martin rufen.

Aber ihm zuvor kam eine blaue Flamme, die jetzt mit Druck aus der Röhre fauchte, dem da drüben grad ins Gesicht. Und als der alte Martin herbeigesprungen war, sah er, daß die Maschine ihn zu ihrer Rettung nicht mehr nötig hatte. Da am Boden lag einer und schrie fürchterlich und hatte die Hände vor dem verbrannten Gesicht.

Die Maschine hatte ihn gezeichnet.

Der Gießer

Sein Vater war einer von der Gießerei. Dessen Vater wieder. Also steckten sie den kleinen Hans auch dahinein. Das Eisen hat es so an sich. Wen es angezogen hat, den läßt es nicht mehr los. Auch nicht in seinen Kindern. »Seinen« kann hier zweierlei bedeuten, Kind des Vaters, oder Kind des Eisens. Man kann's auch zusammenfassen: Hans, das Eisenkind. Das Eisen schaffte Vater Brot, das Eisen reckte ihm die Arme, sonnte sich in seinem Feierabend, glänzte auf in seinem Auge, als er um die Braut warb, jüngte sich in Neugebornen: »Mein, des Eisens Kindlein bist du, Hänschen – springe eine Weile draußen – tummle dich und freue dich und gräme dich – wenn du müd bist, komme ich und hol' dich wieder heim in meinen Schoß.«

»Hans, bring die Radform her … Hans, sieb den Formsand durch … Hans, streich den Formteil rot an …« Hans Neu ward jung vertraut mit hundert Griffen in der Gießerei.

»Vater, darf ich auch mal gießen?«

Der Vater lächelte: »Ins Allerheiligste kommt man durch sieben Höfe. Den Sandvorhof hast jetzt hinter dir. Den des roten Anstrichs auch. Von morgen ab darfst zusehen, wie der Gußofen beschickt wird.«

»Und dann?«

»Im nächsten Jahre darfst du die Pfanne an den Ofen fahren.«

»Und dann?«

»Dann kommt das Jahr des Pfannenfüllens.«

»Gießen möcht' ich, gießen! Wann endlich darf ich gießen?«

»Wenn's dich ruft, nicht eher«, sagte Vater ernst.

Hans fragte nicht, wer rufen würde. Ein Eisenkind weiß, ihn kann nur das Eisen rufen. Darauf hatte er zu warten. Er wußte, betteln half da nicht. Auch Gebete nicht, zu denen er versucht war, wenn die Funkengarben ihn umsprühten. Das Gesetz der rechten Zeit ist eisern, nicht wächsern. Eine Minute zu früh, und der Guß verdarb.

Geduld ist schwer für einen fixen Jungen. Aber Hans beschied sich. Redlich tat er Dienst in den Vorhöfen des Eisens, bis es ihm in stark gewordenen Gelenken knackte. »Vater, hat das Eisen jetzt gerufen?«

»Solang du fragst, noch nicht.«

Er fragte nicht mehr. Er horchte. Auf das Eisenbrodeln horchte er, auf das Eisenzischen, auf das Eisenspritzen, auf das Eisenseufzen, wenn es ein ins dunkle Gießloch rann: »Freiheit, fahre wohl, zum Gußstück muß ich jetzt erstarren.«

Da starb der Vater.

Gesenkten Kopfs stand Hans am Gießloch eines Werkstücks. »Komm«, gluckte das Eisen.

Hans hob's den Kopf und straffte es den Rücken.

»Komm«, gluckte das Eisen.

Hans zitterte. Wenn er sich verhört hätte? Aber nur nicht fragen! Wer bei den höchsten Dingen erst fragen muß –

»Komm«, sagte das flüssige Eisen zum drittenmal und schlug voll den Silberspiegel seines heißen Auges auf.

»Hans Neu«, sagte der Ingenieur, »wir brauchen neue Leute, Sie rücken von heute ab zum dritten Gußmann vor – heißt das, wenn Sie wollen.«

Ob er wollte!

»Hans«, sagten sie zu Hause, »gestern begruben wir Vater und heute kannst du singen!«

»Habe ich gesungen? Ich dachte, es sang.«

»Wer es? Was es?« sagten sie ungeduldig.

Hans schwieg. Eisen will sein Lied nicht lang und breit besprochen haben.

»So rede doch!«

»Ich – ich kann nicht.«

»Wenn das Vater wüßte, daß du einen Tag nach dem Begräbnis singen kannst!«

»Vater? Vater sänge mit – ich bin dritter Gießmann.«

Von diesem Tag an ward er mit dem Eisen Du auf Du.

Das sind viele. Das ist erst der Auftakt einer Eisenfreundschaft. Zur Eisenfreundschaft selbst ist noch ein langer Weg des Sichversenkens.

Hans versenkte sich nach Feierabend in das Eisenstudium. Vor ihm auf dem Tische lag ein Eisenbruchstück. Es glitzerte geheimnisvoll sein körniges Gefüge. »Was bin ich, Hans was bin ich?«

»Du bist – du bist –«

Flugs verschwand der Schimmer um die Ecke. »Hans, wo bin ich?«

»Du bist – du bist – ich weiß nicht.«

Silbernes Gelächter.

Von diesem Tage an liebte Hans das Eisen.

Das tun viele. Das ist erst der Auftakt. Zur Liebe selbst ist noch ein langer Weg des Sichverschenkens.

Hans verschenkte sich. Die Funken sengten seine Haare. »Fahret hin!« Die Hitze nahm der Haut die Glätte und die Weichheit. »Fahret hin!« Die Gefahren nahmen seinem Blick das Unbekümmerte. »Fahr hin!« Das Studieren nach der Arbeit nahm ihm seinen Schlaf und seine Ruhe. »Fahr hin!«

Die Mutter lächelte zu Hause: »Ich glaube, Kinder, Hans ist gar verliebt.«

»Ja, ins Eisen«, murrten sie.

»Ihr täuscht euch, der Helene bei den Nachbarn sah ich ihn ins Auge schauen – sag doch selbst, Helene, was er dir gestanden hat?«

»Strahliges Gefüge, wie bei unsrem letzten Gusse, sagte er.«

»Sonst nichts?«

»Nicht, daß ich wüßte – er ist ein Eisennarr, nichts weiter.«

Hans stand um diese Zeit vor seinem Vorgesetzten: »Eine Bitte hätt' ich.«

»Schon gut, die Löhne sollten ohnehin im nächsten Monat –«

»Ich meine nicht den Lohn. Ich möchte mehr vom Eisen wissen. Wie es drinnen ausschaut unterm Mikroskop und wie man seine Bruchfläche reden macht.«

»Reden macht?«

»Ja, wenn man Säuren draufgießt.«

»Komischer Kauz – na, wollen einmal sehen.«

Er durchlief ein Stück der Eisenhüttenschule. Als er wiederkam, hörte er den Ingenieur diktieren: »… und bestellen zur sofortigen Lieferung ein Walzenpaar –«

»Herr Ingenieur, könnten wir nicht selbst –«

»Ah, der Neu – na, ausgeochst auf Ihrer Schule? – schön, wir teilten Sie dem Gießmeister als ersten Gußmann zu – Sie können zeigen, ob Sie was gelernt –«

»Ich danke auch, und was das Walzenpaar betrifft –«

»Welches Walzenpaar?«

»Das Sie bestellten, meine ich.«

»Was geht das Sie an?«

»Könnten wir nicht unsere Walzen selber gießen?«

»Unsinn – muß blasenfreier Spezialstahl sein – bestellen seit Menschengedenken bei Riffelmann & Sohn – Fräulein, schreiben Sie …«

Hans Neu hatte es nicht allzugut beim Gießmeister. Der fuhr ihn mehr als einmal an: »Wie ich es sage, wird's gemacht! Ein Klugschnacker sind Sie! Moderner Krimskrams hat hier keinen Platz! Das könnte Ihnen passen, aus andrer Leute Taschen kostspielige Versuche –«

»Es ist kein Versuch, es ist Gewißheit.«

»Larifari! Und wenn's mißlingt, wer zahlt's?«

»Ich. Ich hab Erspartes.«

»Sie sind ein Narr. Aber wenn Sie unbedingt Ihr Geld los sein wollen, meinetwegen …«

Der Radguß schlug fehl. Hans mußte in die Tasche greifen, und der Meister grinste: »Er wird jetzt geheilt sein, denk' ich …«

Er war nicht geheilt. Oft stand er mitten in der Arbeit still und schaute sinnend in die flüssige Glut der Tiegel. »Na, Neu, es juckt Sie wohl der Rest des Sparbuchs?« stichelte der Meister.

Er hörte es gar nicht. In Gedanken stieß er an die Kaffeeschüssel eines Arbeiters. Der Aluminiumlöffel sprang heraus und zischte in den Tiegel. Das Schmelzgut brauste auf, ein paar Bläschen platzten träge –

»Ich hab's – jetzt hab ich's!« rief Hans Neu.

Die Arbeiter lächelten. Der Meister zuckte die Achseln: »Er ist verrückt. Meinetwegen, wenn's nichts kostet –«

Hans wagte nach der Feierstunde nochmals einen Probeguß …

Spät abends klopfte es an die Stadtwohnung des Ingenieurs.

»Herein – Sie, Neu? – geschäftlich? – na, da hätten Sie auch morgen früh –«

»Ich – ich möchte Ihnen was vorreiten.«

»Schön, reiten Sie.«

»Einen auf den ersten Guß völlig blasenreinen Radkranz.«

»Gibt's nicht.«

»Wenn Sie noch zur Hütte kommen wollten?«

»Heute abend?«

»Ich dachte, es sei besser, erst mal ohne Zeugen …«

Eine Stunde später funkelten zwei Augen: »Mensch, wie machten Sie das möglich?«

»Zufall – ein wenig Aluminiumzusatz – große Hitze – dünnflüssig – Blasen steigen ganz von selbst …«

Der Ingenieur glitzerte: »Nicht übel – gar nicht übel – und da Sie dieses Ding gewissermaßen unter meiner – meiner Leitung schmissen, haben Sie wohl nichts dagegen, wenn ich das Patent auf meinen Namen –«

Hans hörte kaum hin: »Freilich«, murmelte er, »ob es auch beim schweren Walzenguß gelingt …«

»Na, da sind wir also einig, lieber Gießmeister Neu?«

Hans durchfuhr es freudig: »Meister – Meister?«

»Ja, von jetzt ab.«

»Und – und der andre?«

»Bleibt – Sie kriegen die neue Radkranzabteilung – von morgen ab.«

Hans leuchtete: »Und von – von übermorgen ab darf ich's mit dem Walzenguß probieren?«

»Alles, was Sie wollen. Sie sind unser Mann.«

Nun bekam er freie Hand. Er probierte unermüdlich. Wie hat er den Walzenguß umworben! Der ergab sich nicht. Aber mutlos ward er deshalb keineswegs. Auch die Firma nicht. Man hatte sich hineinverbissen. Wissenschaftler wurden angestellt. Unzählige Zusatzmischungen wurden durchprobiert. »Eine muß es sein«, sagte der Ingenieur, »wenn das bekannt ist, läßt das Ergebnis sich berechnen. Berechenbar ist alles.«

»Nicht alles«, sagte Hans, »der Mensch zum Beispiel –«

»Der Mensch hat freilich eine unberechenbare Seele –«

»Glauben Sie das Eisen nicht?«

»Ei, Hans Neu, Sie wollen gar noch Dichter werden? Lassen Sie's. Im Eisenreich tut Phantasie nicht gut.«

»In einem Lehrbuch las ich, das Atomgefüge eines Eisenstücks sei wie der Zellenstaat des Menschenkörpers. Zu Beginn elastisch, zähe, wird es langsam brüchig, was im Mikroskop erkennbar ist, beim Menschen und beim Eisen. Was aber lange unerkennbar bleiben kann, beim Eisen und beim Menschen, ist das innre Müdewerden in der Seele –«

»Theorien!«

»Der Brückeneinsturz in New York, den keine Prüfung hindern konnte –«

»Zufall!«

»Jetzt sind wir einig: Zufall eben ist ein Stück der Seele, glaub' ich.«

»Glauben Sie nur weiter«, spottete der Ingenieur, »wofern Sie auf dem Glaubenswege unserm Walzenguß begegnen.«

Immer wieder mußte Hans in die glutflüssige Pfanne starren. Schwer und langsam wogte drin das Eisen. Es atmete. Es sah ihn an mit tiefem Silberblick. Wie war ihm denn? Gab's nicht eine Zeit, wo er Zwiesprache mit dem Eisen gehalten hatte, ein Kamerad zum andern? Das war damals, als der Vater ihn als kleinen Buben mitnahm. Andre Kinder sprachen mit den Vögeln, er ward eisensprachekundig. Was hatte er dem Eisen alles vorgebabbelt. Das hatte ihm geduldig zugehört und in seiner Weis' erwidert, mit schwerem Nicken, leichtem Leuchten und heißem Atem. Wie manch Geheimnis aus dem Eisenleben ward ihm da vertraut. Auch das der Eisenfolgsamkeit. Wie war's doch gleich? »Bildet euch nicht ein, ich wäre euer Sklave«, hatte es erzählt, »nur wenn euer Blut in meines einrinnt, seid ihr mein und ich bin euer, und dann, aber auch nur dann, bin ich herzensgern, wie ihr mich haben wollt.«

Hans Neu lächelte. »Märchen aus dem Kinderlande«, murmelte er und stützte sich versonnen auf die Pfanne –

Da stampfte der Kran, es schütterte die Bühne. »Komm«, hörte er es zischen, »deinen kleinen Finger gib mir –«

»Um Gottes willen, Euer Finger!«

Verwundert zog er die gespreizte Hand zurück. Der kleine Finger fehlte. Das Eisen hatte ihn geholt. Geisterhaft ging sein Blick vom Stumpf zum Eisen, vom Eisen zum Stumpf –

»Die Sanitätskolonne!«

»Dummes Zeug. Die Verbandzeugschachtel! So, das genügt.«

»Aber der Doktor! –«

»Kann später kommen – erst der Guß – was soll das Glotzen? – höchste Zeit, den Zapfen stoßt heraus!« …

Da gebar das Werk das erste fehlerfreie Walzenpaar.

Lange stand Hans Neu davor. Zärtlich streichelten die vier Finger seiner Hand darüber. Da war es ihm, als lange aus dem Stahl der fünfte Finger: »Dein Blut rann ein ins meine, ich bin dein und du bist mein – befiehl!«

Und Hans Neu befahl. Walzen rollten aus dem Werk in alle Welt.

Man riß sich um die Marke.

»Und was hast nun du davon, Hans?« fragten ihn zu Haus die Seinen.

Er verstand sie nicht.

Sie schnippten mit den Fingern Geld: »Deinen Anteil meinen wir.«

»Meinen Anteil? Der ist klein. Nicht größer als ein kleiner Finger. Den Hauptanteil hat doch das Eisen.« Und er schickte sich zum Werkgang an.

»Du bist ein Träumer«, sagte die Mutter.

»Nein, ein schlechter Mensch – du sorgst nicht so viel für die Deinen.«

»Die Meinen?« Er sah sie an, als wären sie am Horizonte kleine Punkte. »Die Meinen?«

»Ja, zu denen du gehörst.«

»Ich? Ich gehöre zum Eisen.« Und ging ins Werk.

Fünfunddreißig Jahre lang ging er ins Werk, und das Werk ging in ihn, so daß sie eines Herzens waren, und voll guter Dinge.

Gute Dinge erhalten jung. Zwar, die Haare sengte ihm das Eisen bald schneeweiß.

»Neu scheint alt zu werden«, sagte der neue Direktor. In der Luft hing: Er hat seine Schuldigkeit getan …

»I wo«, sagte der Ingenieur, »nimmt drei Stufen noch auf einmal, sitzt einem nicht mit Lohnaufbesserungen auf dem Hals, kümmert sich den Teufel um Tantiemenkonten –«

»Tantieme? erlauben Sie, wofür?«

»Nu, er hat mal früher immerhin ein paar kleine Verbesserungen aussinniert, unter meiner Leitung selbstverständlich –«

»Na, da wollen wir mal etwas übriges – dort steht er ja – he, Herr Neu, vom nächsten Ersten tragen wir das Krankengeld allein.«

Eine Mütze flog vom weißen Haar. Dankend streckte eine Hand sich aus.

»Die ganze, wenn ich bitten darf, Herr Neu, die ganze Hand!«

»Nicht gut möglich«, lächelte Hans Neu, »den Rest hat das Eisen eingefordert.«

Erschrocken sah der Direktor auf den Fingerstumpf. Aber dann faßte er sich: »Von Ihnen nahm's den Finger, von uns verlangt's das Hirn – es ist alles weise eingerichtet.«

Als an diesem Tage Neu den letzten Guß vor Feierabend machte, ward es ihm sekundenlang vor seinen Augen dunkel. »Komm«, hörte er's im Eisen knistern, »komm!«

»Wohin?« lag's ihm auf der Zunge.

Keine Antwort. Funkengarben sprühten. Das Dunkel wich.

Dann kam ein Tag, da sagte der Ingenieur: »Sie geben's billiger, Herr Neu? Früher nahmen Sie drei Stufen, jetzt sind's nur mehr zwei.«

Hans Neu besann sich: »Es geht mir wie dem Eisen«, sagte er, »müde wird man schließlich, müde.«

»Sie sollten sich mehr schonen.«

»Das hilft wenig. Es hat eben alles seine Zeit, beim Eisen und beim Menschen.«

Eines Tages nahm er eine Stufe nach der andern. Etwas in seinem Innern wurde mürbe. Ihm war, als schuppe sich sein Herz. »Wie beim Eisen vor dem Rotbruch«, ging's ihm durch den Sinn.

»Herr Neu, wir verlangen, daß Sie sich's bequemer machen.«

Er wehrte sich nicht mehr.

»Und lernen Sie den Riffel langsam an.«

»Der kann ja, was er braucht.«

»Die Geheimnisse des Gusses, mein' ich.«

Die alten Augen blitzten jung: »Ans Gießen laß ich keinen hin!«

»Nu, nur nicht gleich so böse, alter Knabe. Da, nehmen Sie den Bogen. Darauf schreiben Sie die Zutat, wenn Sie gießen. Bis ins kleinste, bitte, samt Ihren Erfahrungen – Sie verstehen, fürs Archiv …«

Hans schrieb's und übergab's.

»Es ist alles drauf, was Sie dazutun?«

»Alles.«

»So daß jeder Guß gelingen muß

»Müssen ist was andres. Das Eisen muß nicht immer, sowenig wie der Mensch, wenn –«

»Noch immer diese Eisengrillen? Übrigens, den letzten Guß macht heute Riffel.«

Wieder schoß ihm alte Glut auf: »Ich – ich lasse keinen –«

»Seien Sie vernünftig, Neu – wenn Sie heute krank sind – Gott bewahre, daß ich gleich ans Sterben denke – aber etwa an den Machtspruch eines Doktors: Neu bleibt heut zu Haus – prost Mahlzeit, wer soll nun den Guß besorgen? – Sie wollen doch nicht, daß das Gußwerk Ihretwegen auf der Nase liegt, wenn –«

»Sie haben recht, das Werk geht vor.«

Er lernte Riffel an. Zwischen zwei Güssen legte er im Werkgetös die Hand ans Ohr: »Wie meinen Sie, Riffel?«

»Ich habe nichts gesagt.«

»Mir war, als habe jemand ›Komm!‹ gerufen.«

Es kam der letzte Guß an diesem Tage. Riffel wurde fahrig. »Zusehen will ich wenigstens«, sagte Neu.

»Das taten Sie schon immer, endlich einmal will ich ganz allein –«

Neu ging aus der Halle. Am Tore drehte er sich um. Sein Auge tauschte mit dem Eisenspiegel einen letzten Blick …

Am andren Morgen wütete der Ingenieur: »Der Guß mißlungen!«

»Ich dachte mir's.«

»Neu, Sie haben Riffel was verschwiegen.«

»Ja.«

»Schämen Sie sich, Sie – schlechter Kerl!«

Hans Neu blieb ruhig: »Ist man schlecht, wenn man verschweigt, was doch der andere nicht tun wird?«

»Was ist's, heraus damit!«

»Nicht eben viel, ein Finger nur.« Er wies auf seinen Stumpf.

»Keinen Hokuspokus, bitte! Nach dem letzten Zusatz frag' ich.«

»Wo nicht Blut zu Blut kommt, bleibt die letzte Müh' umsonst.«

»Unsinn!« wandte sich der Ingenieur an Riffel, »der Alte scherzt – na ja, verstehe, woll'n sich eine Gloriole weben, was? – Es wird ein Zufall gewesen sein – Riffel, gießen Sie!«

Der Eisenspiegel blitzte fragend hin auf Neu. Der nickte. Der Guß gelang.

»Nun, wer hatte recht?« triumphierte der Ingenieur, »übrigens, wenn Sie Urlaub wollen, Neu?«

Er sagte nichts. Er blieb. Er sah den Güssen zu. Stumm und leuchtend. Nur dann und wann ein Nicken seines Weißkopfs hin zum Eisenspiegel …

Es kam die stille Zeit, wo die Gießhalle ausgebessert werden mußte. »Na, lieber Neu, Sie können jetzt, wo nicht gegossen wird, ein wenig ins Gebirge …«

Neu ging in die Berge. Gleichgültig wanderte er über die Matten. Erst wo Vulkangestein die nackten Wände hob, ward er lebendig. Liebkosend fuhr er mit vier Fingern über die Fläche: »Kein übler Guß – 's wird Blut vom Herrgott eingeronnen sein …«

Lange ließ es ihm da draußen keine Ruhe. Vor der Zeit ging er in die Stadt zurück. Als er mühsam die Treppe in seine Wohnung hinaufstieg, packte ihn ein Schwindel. Höllisch brannten ihn die alten Eingeweide. Er mußte sich auf die Treppe setzen. Sein Kopf sank nach vorne. Er krümmte sich vor Schmerzen.

»Ist das das Ende?« konnte er noch denken, »lieber Gott, noch nicht! Am nächsten Ersten geht es wieder an, ich habe noch so viel zu – zu gießen –«

Als er in der Klinik erwachte, war er operiert. »Es war höchste Zeit«, sagte der Arzt, »einen Tag später hätten wir Sie nicht mehr flicken können.«

»Ach, Herr Doktor, mit dem Flicken ist es nicht getan.«

»Nun, was hätten wir denn sonst –?«

»Umgießen, Herr Doktor, umgießen – ich weiß das vom Eisen.«

Als sie ihn entließen, fand er zu Hause einen Brief. Der mußte schon lange dagelegen haben. Er enthielt die Kündigung. Einen Augenblick lang ward er bleich. Aber dann lächelte er: »Zum ersten April, aha – ich kenne doch den alten Spaßvogel von Buchhalter – eine Nachschrift?: In Anbetracht Ihres langjährigen – na ja, und so weiter – was? ein Vierteljahr Gehalt extra? – na, hab ich's nicht gewußt?: die werden was umsonst tun – nee, Verehrter, den alten Neu machen Sie noch lange nicht, auch wenn Sie die Direktionsunterschrift noch so zügig nachgefahren haben …«

Am ersten April erschien Hans Neu in der Gießhalle. Auf der Schwelle war er stehen geblieben. Eigentlich sollte er sich erst beim Buchhalter vom Urlaub zurückmelden und ihm sagen, daß er diese dummen Kündigungswitze – »Na, Schulze, rennen Sie mich nicht um, was ist denn los?«

Der Arbeiter sah ihn fast erschrocken an: »Sie, Herr Neu? und wir dachten – dachten –«

»Ihr dachtet, ich fiele auf den dummen Aprilscherz rein, haha – was rennen sie dort vorne so verrückt herum, he?«

»Oh, Herr Neu, wie gut, daß Sie gerade jetzt – schon wieder ist ein Guß mißlungen – und wenn der Ingenieur jetzt kommt und den Riffel – ui, da kommt er –«

Riffel stand vor Neu wie angewurzelt: »Sie? – w–was–w–wollen Sie denn hier?« fuhr er ihn an.

»Ihren Kram in Ordnung bringen!« brach's aus Neu heraus, »Kreling, siehst nicht, daß es braun vom Ofen bläst! – die Pfanne hergefahren! – Das Aluminium geb' ich selbst zu! – was sagst du, Schulze, der Schamottekanal? – schon gut, ich sehe selbst nach –«

»Erlauben Sie«, belehrte Riffel, »Sie haben hier nichts mehr – nichts mehr –«

Neu schob ihn auf die Seite: »Alle vor zum nächsten Guß! – alles hergerichtet! – das hier mach' ich selbst in Ordnung! – Scharrelmann, Sie helfen vorne mit! – in zwei Minuten kommen Sie und fahren mit dem Kran die Pfanne weg! – marsch, voran!«

Sie gehorchten wie ehedem, zogen Riffel mit …

Hans Neu war in den Schamottekanal gestiegen, durch den das Eisen aus dem Ofen in die Pfanne fließen sollte. »Natürlich«, brummte er, »an dieser Ecke muß sich's stauen! – reicht mir einer dort den runden Ziegel her!«

Seine Worte ertranken im Gebraus der Halle.

»Ach so, sind alle vorne! – na, werd' mir selber helfen …«

Er hatte eine Stange ergriffen. Sie hakte irgendwo. Er riß. Sie schnellte los, schlug auf den Ofenschieber. Auf ging der. Feurigflüssig schoß es in den Schamottekanal. Einen Engel sah Hans Neu im Feuer gehn: »Komm heim, Hans Neu, komm heim …«

Nach zwei Minuten kam Scharrelmann an die gefüllte Pfanne. Er wollte auf den elektrischen Knopf des Fahrkrans drücken. Da sah er etwas Weißes auf dem Eisenspiegel blitzen und verschwinden: »Merkwürdig, wie das blendet, sah fast aus wie Knochen – jaja, ich komme schon!«

Ratternd fuhr die Pfanne durch die Halle zur Gußstelle. Riffel fuhr herum: »Wenn der Alte wieder –!«

»Nicht mehr hier – wahrscheinlich im Kontor –«

»Kann mir's denken, sein Vierteljahrsgehalt wird ihn gezogen haben – marsch, gegossen! – wir müssen's herausreißen mit dem zweiten Guß!«

 

Riffel traf den Ingenieur im Kontor: »Der erste Guß ist zwar mißglückt, Herr Ingenieur –«

»Den Teufel auch!«

»Um so tadelloser ist der zweite.«

»Ihr Glück!«

»Der alte Schwinger sagt, so ausgezeichnet sei auch unter Neu kein Guß gelungen –«

»Das hat jetzt so zu bleiben!«

»Was an mir liegt, gerne – niemand sticht den eingebildeten Hansdampf lieber aus – er war bei Ihnen, nicht?«

»Neu? Hab ihn nicht gesehen – weiß schon, 's zog ihn wieder in die Halle –«

»Da – da ver – verschwand er plötzlich«, stotterte Riffel, und sog durchs offne Fenster, das in die Halle gegen den zweiten Gießofen zu ging, mit erschreckt geblähten Nasenflügeln einen süßen Duft. »Ich – ich kann mir nicht erklären – erklären –«

»Gott, er wird eben heimgegangen sein – verstehen Sie: heim! – Mensch, was ist – Sie werden ja kalkweiß! …«

Als Kribsch die Sonne sah

Das Grubenpferd war in der Grube geboren.

»Das sind die besten Pferde«, sagte der Inspektor. »Wenn sie in der Grube geboren sind, so kriegen sie wenigstens keinen Sonnenrappel.«

»Was ist das, Sonnenrappel?« sagte der Grubenbuchhalter.

»'raus wollen sie wieder, 'raus um jeden Preis.«

»Wer?«

»Die Pferde, die wir hineingeschafft haben in die Grube. Wenn wir sie hinunterbringen, sind sie ganz manierlich. Hübsch folgsam gehen sie aus dem hellen Tag in den dunklen Förderkorb hinein. Wahrscheinlich denken sie, 's ist 'n Stall, ein kleiner, oder so was ähnliches. Nur, wenn der Förderkorb hinunterschnurrt, die sechshundert Meter, wissen Sie, da zittern sie ein wenig.«

»Warum?«

»Weiß selbst nicht. Bin schon öfter neben einem solchen Pferde im Förderkorb gestanden, wenn wir's 'runterbrachten. Auf einmal, so bei der ersten Sohle ungefähr, da fängt's zu bibbern an. Unheimlich leuchten seine Augen, sag' ich Ihnen. Und wenn ich's unten in den Stall gebracht habe, so war's ganz naß.«

»Gewaschen?«

»Ach was, gewaschen! Naß vom Schweiß, mein Lieber, vom Angstschweiß oder so was.«

»Also doch 'n Hasenfuß, was?«

»Hasenfuß, Hasenfuß! Hat sich was mit Hasenfuß! Fahren Sie mal in die Grube auf … auf Lebenszeit, mein Lieber.«

»Aber erlauben Sie mal, Herr Inspektor, das weiß ja doch das Pferd nicht beim Hinunterfahren, daß es nicht mehr 'raufkommt.«

»Hm, woher wollen Sie das wissen, was so 'n Pferd alles denkt?«

»Denkt? Können Pferde denken?«

»Mehr als unsereiner … Wenn Sie mit Pferden umgingen, mein Lieber, würden Sie das wissen.«

»Na, na, Herr Inspektor … denken?«

»Aha, Sie meinen, weil ein Pferd nicht spricht, darum könnt' es auch nicht denken? Nun, ich hab' gefunden, je weniger einer spricht, desto mehr pflegt er zu denken.«

»Herr Inspektor, was wollen Sie damit sagen?«

»Nichts Besonderes. Seien Sie nur ruhig … wir reden ja zu zweien, sehen Sie …«

»Haha, Sie sind doch immer scherzhaft, Herr Inspektor.«

»Nicht immer. Wenn man zum Beispiel so 'n Tier betrachtet, wie es keinen Laut von sich gibt, wenn's Schmerzen hat – ganz im Gegenteil zum Menschen –, wenn man ferner sieht, wie still es stirbt in einer Ecke und keinem andern Tiere lästigfällt mit Sterben … ganz im Gegensatz zum …«

»Aber Herr Inspektor, man könnte meinen, Sie stellen die Menschen tiefer als die Pferde.«

»Können Sie leugnen, daß es Menschen gibt unter der Sonne, die …«

»Sonne, sagten Sie, Herr Inspektor; wir sind ganz abgekommen … Sie wollten mir vorhin erklären, was so ein Sonnen- … Sonnen- … na, wie sagten Sie doch gleich?«

»Ja so, der Sonnenrappel bei den Grubenpferden. Also, sehen Sie, das ist einfach genug. Ist so 'n Pferd zwei, drei Jahre drunten, und man denkt, es hat sich eingewöhnt … auf einmal kriegt's die Sehnsucht nach dem Tageslicht … es stampft, es wiehert, es ist ungebärdig, es will nicht ins Geschirr, es reißt sich los, es läuft zum Schacht und schaut hinauf und schnaubt … 'rauf will es wieder, verstehen Sie, das ist der Sonnenrappel bei den Grubenpferden.«

»Und dann, Herr Inspektor?«

»Na, das geht so einen Tag lang oder zwei, und wenn es dann einsieht, daß es doch nicht 'raufkommt an die Sonne, wird es wieder still und vernünftig …«

»Und wiederholt sich das?«

»Ja, noch einmal oder zweimal, später besonders dann, wenn nach einem scharfen Winter fast über Nacht ein warmer Frühlingstag kommt …«

»Das sollen die Tiere da unten spüren? Sechshundert Meter unter der Erde? Herr Inspektor, Sie wollen mir da irgendeinen Bären …«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, ich bin nicht immer scherzhaft. Und dann – was wissen wir von den Kräften, die von der Oberfläche in die Tiefe gehen? Oder können Sie vielleicht erklären, warum im Blute eines ›dummen‹ Grubenpferdes urplötzlich noch nach Jahren die längst versunkene Sonne wieder lebendig wird?«

»Vielleicht ist es gar nicht die Sonne, Herr Inspektor? Vielleicht ist es der Fortpflanzungstrieb?«

»Das kann nicht sein. Auch bei den Pferden, die sich drunten paaren, kommt der Sonnenrappel vor.«

»Die sich drunten paaren? Lassen Sie das zu?«

»Manchmal doch. Wir kriegen dann grubengeborne Pferde.«

»Grubengeborne Pferde? Das sind also solche Pferde, die überhaupt nie die Erde auf der Oberfläche gesehen haben? Die keine Äcker sahen, keine Wiesen und keine … keine …«

»Keine Sonne, ganz richtig.«

»Hm, das ist aber merkwürdig, Herr Inspektor – die niemals eine Sonne gesehen haben? Die also niemals droben waren, auf der Erde und die auch niemals hinaufkommen werden?«

»Doch – hinauf kommen sie schon einmal.«

»Also doch. Was werden sie da für Augen machen, wenn sie die Sonne zum erstenmal sehen, wie?«

»Gar keine. Sie können die Sonne nicht mehr sehen.«

»Also blind …?«

»Nein, Sie verstehen nicht – die Grubenpferde schafft man erst wieder an das Tageslicht, wenn sie in der Grube gestorben sind.«

»Hm – und die grubengebornen Pferde sterben also, ohne die Sonne je gesehen zu haben. Also können diese auch keinen … keinen …«

»Sonnenrappel kriegen, meinen Sie? Nein, die kriegen keinen Sonnenrappel. Wenigstens haben wir keine Mühe mit ihnen. Freilich – was sie wirklich denken …«

»Aber Herr Inspektor, nun fangen Sie schon wieder mit den denkenden Pferden an …«


Als das junge Grubenpferdlein zur Welt kam, taufte es der polnische Pferdejunge »Kribsch«.

»Warum soll es denn gerade ›Kribsch‹ heißen?« fragte ihn ein anderer Pferdejunge.

»Ich weiß es nicht. Mir ist es nur so eingefallen.«

Die Wahrheit war, der Pferdejunge hatte an seine eigene Kindheit denken müssen. Als er damals so ein kleiner blanker Junge war, ein wenig unbeholfen, dünn, für seine Jahre schon hoch aufgeschossen – da war er einmal spielend am Straßenrand gesessen, irgendwo dahinten in Polen, und da war eine Dame vorübergekommen, eine richtige Dame, hatte ihm das Haar gekraut und freundlich »Kribsch« gesagt, nichts weiter als »Kribsch«. Was Kribsch bedeutete, wußte er nicht. Das wußte niemand. Das wußte vielleicht die feine Dame selber nicht. Frauen sagen zu kleinen Kindern oft ein Wort, das nirgends steht und scheinbar keinen Sinn hat.

Und dieses »Kribsch« war dem Pferdejungen jetzt, nach vielen Jahren, wieder eingefallen, als er das junge Grubenpferd so blank geleckt, so dünn und hochstelzig zum ersten Male sah im Grubenstall. Und weil es einmal »Kribsch« getauft war, hieß es bald Kribsch in der ganzen Grube.

Einer nach dem andern von den Bergleuten kam nach verfahrener Schicht in den Stall und schaute sich das grubengeborne Pferdlein an.

»Soso, Kribsch heißt es also«, sagten sie und streichelten es fast zärtlich, »also, Kribsch, laß dir's wohl sein in der Grube!« Und dann fuhren sie wieder auf einen halben Tag ans Sonnenlicht hinauf.

Auch der Inspektor war gekommen und hatte den neuen Grubenbürger freundlich angesehen. Der bekam es jetzt gut. Nicht nur, daß er eine Mutter hatte, die ihn betreute, die man seinetwegen vom Grubendienst entlastete, eine Zeitlang; nicht nur, daß die andern Pferde, wenn sie kamen oder gingen, ihre Köpfe vertraulich an ihm rieben, nein, auch die Menschen hatten ihn lieb, recht lieb.

Eine lange Zeit war keine Rede von der Arbeit für den Kribsch. Er wußte gar nicht, was die Arbeit war. Bis er einmal eine Unachtsamkeit des Pferdejungen benutzte, um aus dem Stalle zu laufen.

Er wußte keinen Weg. Aber da waren ja Lampen an der Decke. Denen ging er nach. Nicht lange, da hörte er ein Dröhnen. Eisen klang auf Eisen. Es rollte und es donnerte. Er hörte Menschen rufen.

Da setzte er sich in einen kleinen Trab. Komisch warf er seine langen Beine. Immer näher kam er jenem Lärmen. Dort, wenn er um die Ecke kam, wo es viel heller von den Lampen an der Decke strahlte, dort mußte eine neue Welt sein für den Kribsch.

Kribsch ging jetzt langsam. Jetzt stand er an der Wendung und schob neugierig seinen Kopf nach vorn. Was sah er?

Wagen sah er rollen. Ganze Züge kamen auf den Schienen aus einem langen, schnurgeraden Gange. Vor jedem Zuge ging ein Pferd. Das zog die Wagen. Und in den Wagen lagen lauter schwarze Steine, kleine und große. Manchmal, wenn das Licht der Deckenlampen auf die Steine fiel, erglänzten die Bruchflächen in einem dunklen Glanze.

Auf dem vordersten der Wagen saß ein Pferdejunge. Er hatte eine kleine Peitsche in der Hand und machte: »Hü! Hühü …« Dann ging der Gaul ein wenig schneller und zog und zog – Kribsch konnte sehen, wie sich die Stränge strafften, die den Gaul mit seinem Zuge verbanden.

Jetzt war der Zug am Förderplatz angekommen. Man spannte den Gaul aus. Wieder unter »Hü!« und »Ho!« Rußige Menschenhände schoben einen Wagen nach dem anderen in dunkle, schmale Kammern. Jetzt waren vier darin, zwei links, zwei rechts. Und nun spitzte Kribsch die Ohren: eine Glocke hatte scharf und schrill angeschlagen, und die zwei Kammern kamen aus der Tiefe. Wieder schob man neue Wagen in die neuen Kammern. Wieder schrillte eine Glocke. Zweimal diesmal.

Dann noch drei kurze Schläge … und auf fuhr die ganze große Last, höher, durch die Decke durch, ins Ungewisse …

Dies alles sah Kribsch, aber er verstand es nicht. Plötzlich tönten neue Glockenschläge. Es donnerte von oben. Ein gleicher Förderkorb kam aus der Höhe heruntergerauscht. Leere Wagen rollten heraus. Männer riefen wieder durcheinander. Der ausgespannte Gaul ward hergeholt. Vor einem Zug von leeren Wagen spannte man ihn an. Pfeifend saß der Pferdejunge auf, schwang seine kurze Peitsche, und zurück ratterte der Zug in den langen Gang, wurde kleiner, kleiner … und jetzt war er den Augen von Kribsch entschwunden.

Kribsch aber selber stand da und zitterte am ganzen Leibe. Was war das alles? Was bedeutete das alles? Wie im Traume kam's ihm vor. Langsam, mit gesenktem Kopf trottete er zurück in seinen Stall. Der Pferdejunge, der die Aufsicht hatte, schlief noch auf einem Bündel Stroh. Unbemerkt stahl sich Kribsch an seinen Platz.

Traurig sah er sich in dem leeren Stalle um. Alle Pferde waren ja draußen in der Welt und zogen Wagen, Wagen mit schwarzen, dunkelglänzenden Steinen aus der Welt heraus …, leere Wagen in die Welt hinein. Und die gefüllten Wagen selber, wo kamen die nur hin? Die flogen direkt in den Himmel, schien es, flogen an einem zitternden Seile in den Himmel. Aber ganz sicher war Kribsch nicht. Er wollte doch die andern Pferde fragen, wenn sie kamen heute abend.

Wenn Kribsch »heute abend« dachte oder »morgen früh«, so hatte das natürlich keinen Menschensinn. Im Abend und im Morgen in der Grube war die Sonne wegzudenken.

Auf einmal rührte sich was neben Kribsch im nächsten Abteil. Das war seine Mutter.

»Wo bist du gewesen?« fragte sie ihn.

Kribsch war verlegen, wie es kleine Kinder sind, wenn sie was ohne die Erlaubnis ihrer Mutter tun.

»Ich?« sagte er. »Ich? Ich war draußen in der … in der Welt.«

Aber da wußte die Mutter schon alles. Wie Mütter immer ja schon alles wissen, was sie ihre Kinder fragen. Und Kribsch beichtete alles. Seinen Kopf hatte er an der Mutter Hals gelegt und noch einmal alles durchgedacht, was er eben gesehen hatte, das Donnern, die Wagen, die schwarzen Steine, den Förderkorb, die rufenden Männer. Und auch was er fragen wollte, hatte er noch dazu gedacht. Und wie das nun bei Pferden ist, die nicht zu reden brauchen wie die Menschen, die nur beieinanderstehen, sich leicht und leise zugeneigt, um sich zu unterhalten im stummen Flusse der Gedanken, so redeten hier Sohn und Mutter ihre stille Pferdesprache.

»Und nun sage, Mutter, was ist das alles, was ich sah?«

»Das ist die Arbeit.«

Kribsch dachte nach.

»Was ist das, Mutter, die Arbeit?«

»Das ist das Leben, wenn man groß ist.«

»Bei den Menschen auch, Mutter?«

»Bei uns, bei den Menschen, in der ganzen Welt.«

»Oh, in der ganzen Welt …? Und sage, Mutter wenn ich größer bin, muß ich da auch die Wagen ziehen?«

»Ja, du mußt auch die Wagen ziehen.«

»Warum, Mutter?«

»Es ist das Gesetz. Die Welt will es.«

Kribsch senkte den Kopf. Er wurde sehr, sehr nachdenklich. Denn er hatte sich die Welt ganz anders gedacht. Er hatte gedacht, das ginge nun immer so weiter. Die Mutter und die andern Pferde würden ihn immer weiter verwöhnen. Und immer wieder würden die Bergleute kommen und ihn streicheln. Und die Pferdejungen würden sagen:

»Kribsch, lieber Kribsch, nun, wie geht es denn?« Und der Herr Inspektor würde immer kommen und ihn freundlich anschauen.

Das würde also alles eines Tages enden? Weil es das Gesetz war und weil es die Welt so wollte? O weh …

Aber wenn es das Gesetz war und wenn es alle Pferde auch so machen mußten …

»Du, Mutter, gilt das Gesetz für alle Pferde?«

»Ja, für alle Pferde. Ich habe zwar in meiner Jugend einmal ein Märchen gehört von Pferden in einem fremden Lande, die nicht in Strängen laufen, die keine Arbeit tun – aber das sind Märchen, weißt du.«

Und Kribsch dachte darüber nach, warum aus Märchen niemals Wirklichkeiten würden. Es brauchen doch alle nur fest zu wollen, dachte er, dann hätten wir die strängelose frohe Zeit doch morgen schon …

Wenn Kribsch »morgen« dachte, so war das nicht dasselbe wie unter der Sonne. Die Zeit hier unten in der Grube, sechshundert Meter unter Tag, war ein Band ohne Ende, ein Band, das ohne Unterlaß über Rollen lief. Und daß der nächste Tag anbrach, daß man »morgen« überhaupt erst denken konnte, das sah man nur am Kommen und am Gehen der Pferde in den Stall. Deren Kommen und Gehen wurde aber von den Menschen festgesetzt. Und diese – das wußte Kribsch jetzt – gehorchten einer großen Glocke, die die Zeit mit schrillen, scharfen Schlägen zerlegte. Wenn die Stalltür offen war und wenn Kribsch die Ohren spitzte, hörte er die Glockenschläge schwach aus weiter Ferne.

Also von dort aus wurde der Gang der Welt geregelt, von dort aus, wo die dunklen Kammern in dem Schachte auf und nieder gehen.

»Du, Mutter«, sagte Kribsch jetzt, »fahren die dunklen Kammern in den Himmel?«

Die Pferdemutter besann sich.

»Ja«, sagte sie, »die dunklen Kammern fahren in den Himmel und kommen aus dem Himmel.«

»Mutter, weißt du, wie es im Himmel ist?«

»Ja, da ist eine große goldne Sonne«, sagte die Pferdemutter, und ihre Augen glänzten. Dann schwieg sie, und es sah aus, als wäre sie für sich in andächtige Gedanken versunken.

»Mutter, was ist das, eine Sonne?«

»Die Sonne ist das Schönste, was es gibt, Kind.«

»Aber wie sieht sie aus, Mutter?«

»Die Sonne sieht so schön aus, daß man sie nicht beschreiben kann.«

»Ist sie schöner als der Hafer, den die Pferde hier am Sonntag kriegen?«

»Viel schöner und viel besser.«

»Und ist sie auch schöner als die goldene Uhr des Herrn Inspektors?«

»Viel schöner.«

»Aber schöner kann sie doch nicht sein als die große runde Lampe bei den dunklen Kammern.«

»Viel schöner, Kind. So schön, daß man sie kaum anschauen kann. Die Augen tun einem weh vor ihrem ungeheuren Leuchten, wenn sie morgens aufflammt.«

»Mutter, kommt die Sonne nie zu uns herunter?«

»Nein, Kind.«

»Warum nicht, Mutter?«

»Was im Himmel ist, das bleibt im Himmel. Und dann hätte auch die Sonne keinen Platz in den dunklen Kammern, wenn sie zu uns kommen wollte.«

»Aber Mutter, wenn die Sonne nicht zu uns kommt, dann kommen wir zu ihr, nicht wahr?«

»Nein, Kind, wir kommen von der Sonne, nicht zu der Sonne.«

»Aber Mutter, ich habe doch die Sonne nie gesehen.«

»Das ist wahr«, sagte die Pferdemutter nachdenklich, »ich habe oft darüber nachgedacht, seitdem du auf der Welt bist. Wir anderen haben alle schon den Himmel hinter uns, wenn wir in die Grube kommen, weil wir im Himmel geboren wurden, weißt du.«

»Oh, ihr seid im Himmel geboren worden, Mutter?«

»Ja, und dann haben wir eine Weile dort gelebt, und dann sind wir in den dunklen Kammern in die Grube herabgekommen. Da sterben wir einmal.«

»Und ich, Mutter, ich?«

»Ich weiß gar nicht recht, wie es mit dir sein wird. Du bist in der Grube geboren worden, und wenn alles gerecht zugeht auf der Welt, so mußt du nachher in den Himmel kommen.«

»Oh, Mutter, ich freue mich, ich freue mich.«

»Aber vorher – das ist sicher – mußt du viele Jahre Wagenzüge ziehen, mit schwarzen, dunkelglänzenden Steinen.«

»Das will ich gern tun, Mutter, wenn ich nachher in den Himmel komme zu der Sonne. Sag, Mutter, was tut man mit den schwarzen Steinen im Himmel?«

»Man macht Feuer damit, wenn das Feuer der Sonne schwächer wird.«

»O Mutter, da komme ich vielleicht zu spät, und die Sonne ist ausgelöscht, wenn ich in den Himmel steige.«

»Nein«, sagte die Pferdemutter und lächelte mütterlich, »du kommst nicht zu spät. Die Sonne ist einmal stärker und einmal schwächer. Aber verlöschen kann sie nie; was denkst du nur?«

»Aber sage, Mutter, was ist noch im Himmel?«

»Menschen sind darin, aber sie sind nicht so rußig wie hier. Viele, viele Menschen sind unter der Sonne.«

»Und dann, Mutter?«

»Dann sind Wiesen unter der Sonne und Blumen unter der Sonne und Äcker unter der Sonne und Wälder unter der Sonne.«

»Was ist das, Mutter, Wiesen, Blumen, Äcker, Wälder?«

»Was das ist, das kann man wieder nicht beschreiben, so schön ist es. Aber du wirst das alles eines Tages sehen, liebes Kind. Nicht wahr, Weißfleck, er wird das alles eines Tages sehen?«

Damit wendete sich die Pferdemutter an ein andres Pferd im Nebenabteil, das hieß Weißfleck und war mit den andern Pferden eben von der Arbeit wieder in den Stall gekommen.

»Ja«, sagte Weißfleck bedächtig und schnaubte freundlich den jungen Kribsch an: »Ja, ich bin das älteste Pferd in der Grube und kann mich noch gut an ein junges Pferd erinnern, das auch hier geboren wurde. Als das nach ein paar Jahren Dienst ein wenig krank wurde, ist es direkt in den Himmel gekommen.«

»Siehst du«, sagte die Mutter und war stolz auf ihren Sohn, der dazu ausersehen war, einmal den umgekehrten Weg aller Pferde zu gehen und zuletzt in den Himmel zu kommen.

»Ja, ja«, sagte Weißfleck noch, »ich wollte, wir hätten's auch so gut einmal und könnten im Himmel sterben, wie einst dein Sohn.«

Und weil die andern Pferde zugehört hatten, wie vom Himmel die Rede war, da wurden sie wieder munter, trotzdem sie vorher so müde waren von der Arbeit, und sie fingen alle an, vom Himmel zu erzählen. Und ein jedes wußte etwas anderes Schönes über den Himmel zu sagen. Und das Erzählen nahm gar kein Ende. Kribsch spitzte aber seine Ohren und prägte sich alle Himmelsgeschichten fest in sein junges Pferdeherz samt einer tiefen, tiefen Sehnsucht nach der Sonne.

»Ich weiß gar nicht, was die Pferde heute abend alle haben«, sagte der polnische Pferdejunge, der die Aufsicht hatte, »sie wollen gar nicht schlafen.«

Und dann ging er zu Kribsch und klopfte ihm freundlich auf den Hals.

»Komm, Kribsch«, sagte er, »komm, leg dich hin und schlafe, morgen gehst du zum erstenmal ins Geschirr und an die Arbeit, da kann man den Schlaf vorher schon brauchen.«

Kribsch aber erschrak ganz und gar nicht, daß er an die Arbeit mußte. Dahinter, dachte er, dahinter kommt der Himmel – der Himmel und die Sonne oh, die Sonne …

Und dann war er eingeschlafen und träumte von der Sonne, und als die andern Pferde den Kribsch schlafen sahen, für den sie alle die Himmelsgeschichten erzählten, da seufzten sie ein wenig, legten sich auch hin und fingen an zu schlafen …

Und der warme, regelmäßige Atem der schlafenden Pferde füllte den Raum da drunten, sechshundert Meter tief in der Erde. Währenddem über der Erde die junge Sonne leuchtend einen jungen Tag anhub. Denn die Pferde in diesem Stalle hatten eben eine Nachtschicht verfahren.


Kribsch ging nach diesem Schlafe fröhlich ins Geschirr der Arbeit. Der Inspektor, der zugegen war, wunderte sich.

»Merkwürdig«, sagte er zu einem Steiger, »merkwürdig, wie willig dieses junge Pferd das Kummet auf sich nimmt. Droben gibt es immer einen wilden Kampf, wenn so ein Füllen zum erstenmal ziehen soll.«

»Vielleicht kommt es daher, weil es in der Grube geboren ist«, sagte der Steiger.

Kribsch aber blickte die beiden Männer mit so ausdrucksvollen Augen an, daß der Inspektor sagte:

»Sehen Sie mal, Steiger, es ist doch manchmal sonderbar mit diesen Tieren … geradeso, als ob sie reden könnten, nicht?«

Der Steiger nickte. Kribsch aber dachte:

»Nun ist der Herr Inspektor so gescheit und weiß doch nicht einmal, daß hinter einem Erdpferd die Grube kommt. Als ob es da ein Wunder wäre, daß sie sich nicht aufs Kummet freuen. Hinter meinem Kummet aber kommt der Himmel, kommt die Sonne …«

»Hü … hüü!« sagte der Pferdejunge und wollte die kurze Peitsche schwingen. Aber es war gar nicht nötig. Kribsch hatte schon tüchtig angezogen an seinem Wagenzug, so schnell, daß der Junge kaum nachkommen konnte.

»Ein feiner Kerl, der Kribsch, was?« lachte der Inspektor, und beide Männer sahen der Wagenreihe wohlgefällig nach, wie sie, Eisen gegen Eisen, donnernd dahinrollte, bis sie das Bergdunkel verschlungen hatte.


Kribsch lernte ein neues Leben kennen. Ein Leben, das an sich nicht besonders fröhlich war, durchaus nicht übermäßig fröhlich, wenn nicht dahinter die Sonne geleuchtet hätte, die Sonne der Verheißung.

Hundemüde war er, als er nach dem ersten Arbeitstag in den Stall zurückkam. Seine Mutter und die andern Pferde hatten ihn besorgt angeschnaubt, wenn er mit seinem Wagenzug an ihnen vorüberkam.

»Nun, Kribsch, wie geht's?«

»Gut, Mutter, gut.«

»Nun, Kribsch, wie schmeckt die Arbeit?«

»Nicht schlecht, Weißfleck, nicht schlecht.«

Und die beiden Kohlenzüge rollten donnernd aneinander vorüber.

Als es dann Arbeitsabend wurde, hatte Kribsch trotz seiner Müdigkeit doch mancherlei zu fragen in dem Stalle. Zuviel Neues hatte er gesehen.

»Mutter, ich bin an einem großen Ding vorbeigekommen. Das machte immer puff, puff, puff, was ist das?«

»Das ist die große Pumpmaschine, die pumpt das Wasser aus der Grube, Tag und Nacht, damit wir nicht ersaufen.«

»Und was tun die Männer, die aus den Nebengängen die gefüllten Wagen aufs Geleise schieben?

»Das sind die Häuer. Die brechen noch tiefer drinnen in der Grube die schwarzen Steine mit ihren Hacken.«

»Und sie tragen alle eine Flamme bei sich?«

»Das kann dir Weißfleck erzählen, mein Sohn.«

Und Weißfleck erzählte, das seien Lampen, bei deren Schein die Häuer sehen müßten, wenn sie »vor Ort« die Hacke schwangen.

»Und dann habe ich gesehen, daß die Flammen alle von einem feinen Netze umgeben waren, Weißfleck«, unterbrach ihn Kribsch.

Weißfleck aber sagte, das seien Sicherheitsnetze, damit kein Unglück vorkomme.

»Was für ein Unglück?«

»Das weiß ich selbst nicht recht, Kribsch. In unserer Grube ist noch nie ein Unglück vorgekommen. Aber ich habe so meine Gedanken.«

»Sag, Weißfleck, sag.« Und der ganze Stall horchte auf.

»Eigentlich ist es gar kein Unglück, glaube ich. Nur die Menschen halten es für eins. Denn ohne die metallenen Geflechte an den Lampen würden die Flämmchen herausschlagen an die Luft und würden aufwärtslecken.«

»Wohin, Weißfleck, wohin?«

»Ich glaube, bis an die Sonne, von der die kleinen Flämmchen her sein sollen. Und darum wollen sie auch wieder zur Sonne kommen und sie würden sich mit ihr vereinigen.«

»Aber das wäre doch schön, Weißfleck, sag?«

»Ja, ja, das schon, aber die Menschen sagen, die Grube würde darüber zugrunde gehen. Und deshalb haben sie die Gitter um die Flämmchen gemacht; verstehst du nun?«

»Ja, Weißfleck, ja; aber darf ich dich noch etwas fragen?«

»Frag nur.«

»Einmal bin ich an einem großen Rohre vorbeigekommen, da ist kalte, frische Luft herausgekommen; das war eine wundervolle Luft, ich habe ordentlich geschnauft und wiehern müssen. Wo kommt die Luft her, Weißfleck?«

»Die kommt vom Himmel her, Kribsch, vom Himmel, wo die Sonne scheint.«

Und dann fragte Kribsch nichts mehr, sondern er war ganz still, legte sich brav hin mit den andern Pferden und war im Nu eingeschlafen. Und wieder träumte er die ganze Nacht vom Himmel mit der Sonne.

Der war er jetzt wieder um einen vollen Tag näher gekommen.


Als diese Nacht wieder die Pferde schlafend im Grubenstall lagen, war auf der Erde droben der Frühling eingezogen. Am Tage vorher war es noch ganz kalt gewesen. Und mit einem Male war es lau und warm dahergebraust unter der Sonne.

Diesmal war der Frühling mit Macht gekommen. Über die Erde fegte er. Die spärlichen Wiesengräser liebkoste er, den Ackerschollen gab er einen Puff, die Menschen umwarb er voller Liebe, zum Schornstein fuhr er hinunter in das Haus hinein, daß die alten Frauen beim Kamin sagten:

»Jessesmaria, diesmal ist er aber doch ganz aus der Weis', der Frühling!«

Und dann fuhr er weiter über die Wälder und zauste sie, daß es eine Freude war. Wie er fertig war damit, hätte man denken sollen, jetzt wäre es genug gewesen, jetzt hätte er keine Kraft mehr.

Aber weit gefehlt! Mit Hurra und mit Hopsassa tanzte er unter den Augen der schmunzelnden Sonne über das Blachfeld. Dort drüben lag ein Kohlenbergwerk. Man sah es an dem großen Förderturm, an dem die Räderscheiben ohne Unterlaß einmal links und einmal rechts herum schnurrten.

Auch ein Bergwerk vergißt der Frühlingssturm nicht. Er tollte erst übermütig in dem großen Hofe herum. Er wartete vor dem Tore, bis der Inspektor aus dem Büro heraus kam. Dem blies er seinen Hut vom Kopfe.

»Na, das ist denn doch …«, sagte der Inspektor und lief seinem Hute nach. Das sah von drinnen der Buchhalter und freute sich unbändig darüber. Und er kam auch heraus, um ein wenig den Inspektor auszulachen, der jetzt zum zweiten Male quer über den Hof lief, um seinen Hut einzufangen.

Aber kaum hatte der Frühlingswind den dünnen, schadenfrohen Buchhalter erblickt, da ließ er ab von dem Hute des Inspektors und stürzte sich mit zweifacher Kraft auf den Buchhalter, packte ihn, schüttelte ihn durcheinander, bog ihn schief und hätte ihn auf ein Haar glatt auf den Boden gelegt.

Jetzt war die Reihe zum Lachen beim Inspektor.

Nach dieser Tollheit huschte der Frühlingswind um den Förderturm und suchte nach einem Eingang. Da er aber keinen fand, stieg er in die Höhe. Von dort aus sah er das gähnende Loch des Schachtes senkrecht in die Tiefe gehen.

Flugs brauste er den Schacht hinunter, tiefer, tiefer … Und hier war es, daß er merklich schwächer wurde, wie ein Hundert Meter nach dem andern der Schacht noch immer kein Ende nahm. Wie er aber auf der letzten Sohle angekommen war, da war er nur noch ein kaum wahrnehmbares leises Lüftchen, das über den Förderplatz den Gang entlang zog. Aber immerhin blieb es der Frühlingswind, der von der Sonne kam. Und so geschah es, daß die Männer von der Tagschicht, die da unten herumhantierten, urplötzlich glänzende Augen bekamen, urplötzlich die Arme reckten in einem unbestimmten Sehnen. Alles das, weil ihnen ein winzig Stück Frühlingsluft um die Schläfe strich.

Das letzte Stückchen des erschöpften Frühlingswindes aber huschte in den Stall, wo Kribsch und seine Freunde schliefen … Und da war es, daß die Stille jählings unterbrochen wurde.

Drei Pferde gebärdeten sich wie toll. Sie waren aufgesprungen, sie rissen an ihren Riemen, sie trompeteten, daß es in den Gängen dröhnte.

Kribsch sah mit Entsetzen, daß seine Mutter eines von den dreien war.

»Mutter, Mutter, was hast du … Mutter, Mutter, was ist dir denn?« rief er angstvoll einmal übers andere Mal. Aber seine Mutter gab ihm keine Antwort. Fieberhaft leuchteten ihre Augen. Ihr ganzer Körper zuckte. Mit den Hinterfüßen sprang sie wütend in die Höhe.

»Weißfleck, Weißfleck, was fehlt denn meiner Mutter?«

»Die Sonne fehlt ihr, Kribsch, die Sonne«, flüsterte Weißfleck und erschauerte.

Die Pferdejungen liefen hin und her und wußten selber nicht, was sie beginnen sollten. Einer holte den Inspektor. Der kam ganz ruhig. Unter der Tür stand er jetzt und blickte prüfend nach den drei wütenden, zerrenden Pferden.

»Aha«, sagte er und pfiff leise durch die Zähne, »aha, der Sonnenrappel! Ich kalkuliere, heute werden die ersten Veilchen droben aus der Erde gucken. Die Pferde sagen es, die Pferde.«

Eben hatte sich auch der Steiger unter die Türe geschoben.

»Ist das nicht sonderbar, Steiger«, fuhr der Inspektor fort, »ist das nicht sonderbar, daß uns diese Pferde unten sagen können, wenn sechshundert Meter über ihnen die ersten Veilchen blühen?«

»Wieso?« sagte der Steiger verblüfft.

»Nun, Sie sehen doch selbst den Sonnenrappel. Junge, hol die Decken – rasch die Decken … so, und jetzt wirf sie den drei Pferden über den Kopf … gut so, gut … Sehen Sie, Steiger, sie beruhigen sich schon … Sonnenwind und Veilchenduft können ihnen jetzt nicht mehr an die Nase … sonderbar, wirklich sonderbar.«

Und er ging, zufrieden mit dem poetischen Witz, den er nach seiner Meinung eben machte, aus dem Stall hinaus. Keine Ahnung hatte er, daß dieser Witz kein Witz war, sondern lautere Wahrheit.

Kribsch aber konnte diese schreckenvolle Nacht sein Lebtag nicht vergessen.


Dann kamen ruhige Tage, ruhige Monate, ruhige Jahre. Kribschs Leben floß in braver Zugarbeit dahin. Und Tag für Tag war es im stillen überstrahlt und durchleuchtet von der Hoffnung auf den Himmel.

Freilich, wann der kommen würde, wußte er nicht. Das wußte niemand von den andem Pferden. Nicht einmal Weißfleck.

»Wahrscheinlich nach einer Krankheit«, gab er Kribsch zur Antwort. Und er lächelte, als jetzt Kribsch seufzte. Wollte doch der Seufzer das besagen: »Wenn ich nur recht bald einmal krank würde.«

Aber Kribsch wurde nicht krank. Er blieb gesund und hoffnungsfroh. Als es ihm aber im dritten Jahre seiner Zugarbeit doch gar zu lange dauerte, versuchte er es mit Hungern. Er nahm ein paar Tage lang nur wenig Futter zu sich. Jetzt spürte er wirklich eine kleine Schwäche.

Als der Pferdejunge bei ihm stand, rieb er sich an ihm mit dem Kopfe. Das hieß:

»Du, hör mal, ich bin krank. Krank, verstehst du? Du weißt es doch, was du tun mußt mit mir, wenn ich krank bin?«

Aber der Pferdejunge wußte nichts. Nur dem Inspektor sagte er, daß Kribsch nichts fressen wolle. Der Inspektor kam, sah sich den Kribsch an und entschied:

»Schön, dann frißt er eben nichts. Pferde haben oft merkwürdige Flausen. Ich glaube fast, er stellt sich so. Nun, nun, der Hunger wird ihn schon kurieren.«

Da sah Kribsch ein, daß sich kein Himmel zwingen lasse, daß jeder Himmel ganz von selber kommen müsse. Und geduldig schleppte er seinen Wagen weiter, ein Jahr ums andere.

Inzwischen starb Freund Weißfleck. Inzwischen starben viele andere Pferde. Inzwischen starb die Mutter von Kribsch. Sie alle trug man mit geschlossenen Augen in die dunklen Kammern. Sie alle fuhren auf zum Himmel.

»Mit geschlossenen Augen«, sagte Kribsch und seufzte leise, »mit geschlossenen Augen! Was hat das nur für einen Sinn? Sie können ja den Himmel nicht mehr sehen. Und ich, der ihn sehen könnte, ich, der die Sonne sehen könnte, mich läßt man hier.«

Und er riß vor Ungeduld an seinem Wagenzug, daß die Stränge krachten.

Was half's …?


Einmal aber erwachte Kribsch und wartete wie alle Tage darauf, daß man ihm sein Arbeitsgeschirr überwerfe. Aber es kam niemand.

Die Stalltür stand offen. Kribsch horchte. Aber er hörte nicht aus der Ferne die scharfen Glockenschläge. Die Glocke feierte. Er hörte kein Rufen der Bergleute, kein Rollen der andern Wagenzüge, die er ablösen sollte. Die Wagen feierten, die Bergleute feierten.

Der Inspektor erschien im Stalle. Er sah finster drein.

»Ja, wenn die Menschen feiern«, sagte er grimmig, »dann werden auch die Pferde feiern müssen.«

»Trotzdem sie arbeitswillig sind im Gegensatz zu den Streikern«, setzte der Steiger hinzu und erwartete, daß der Inspektor lachte. Der aber lachte nicht.

Da war es Kribsch, als liege heute etwas ganz Besonderes in der Luft. Als müsse sich heute sein Schicksal entscheiden, so oder so. Und noch ein eigenes Zeichen hatte er dafür. Als der Inspektor mit dem Steiger hinausgegangen war, da war kein Mensch mehr in dem Stalle. Auch die Pferdejungen streikten. Nur die Pferde lagen behaglich da und träumten müßig vor sich hin. Und wie Kribsch seinen Kopf senkte, seinen alt gewordenen Pferdekopf, da durchzuckte es ihn: Da war das Zeichen. Er war nicht angebunden, er war frei.

Kribsch sagte kein Wort zu den andern Pferden. Er verstand, man müsse schweigen in den großen Augenblicken seines Lebens, sonst zerrannen sie zu nichts.

Noch eine Stunde wartete er, zitternd vor Ungeduld. Jetzt schien es ihm, als lägen alle Pferde wieder schlafend. Da wendete sich Kribsch, scharrte leise mit dem linken Vorderhuf den Boden, überblickte mit einem letzten Blick den Stall, in welchem Weißfleck starb, in dem die Mutter starb, in dem er ein ganzes Pferdeleben lang auf die Verheißung gewartet hatte, auf den Aufstieg zur Sonne gewartet hatte. Und jetzt stieß er einen einzigen kurzen Trompetenton aus den geblähten Nüstern, war mit zwei Sätzen an der offenen Tür und flog den Gang entlang.

»Kribsch … Kribsch!« hörte er ein paar Pferdestimmen durch die Stalltür.

Er gab nicht acht darauf. Schon klirrten seine Hufe auf dem Förderplatz vor den dunklen Kammern. Der Förderplatz war leer. Matt brannten ein paar Lampen. Müßig standen leere und gefüllte Wagen da und dort.

Eine kurz entschlossene Wendung machte Kribsch. Er sprengte den langen Gang entlang. Frei, frei wie der Vogel in den Lüften. Feurig rann ihm das sonst so träge Grubenpferdeblut durch seine alten Adern. Wie den Menschen junger Wein zu Kopfe steigt, stieg ihm, dem Kribsch, die junge Freiheit in den alten Pferdekopf.

So … ja, so würde er auch dahinfliegen, wenn er im Himmel bei der Sonne wäre – so leicht, so ungebändigt und so fröhlich über alle Maßen.

Hunderte von Meter war Kribsch schon in dem leeren Gang dahingerast. Jetzt schoß er an den Wasserpumpen vorbei. Die feierten nicht. Paff … paff … paff machten sie. Und bei den lärmenden Kolbenstößen der Maschinen hörte der Wächter nicht, wie draußen die Hufe eines freien Pferdes aufschlugen auf Gestein, daß es dröhnte.

Der Hauptgang wurde enger. Aber Kribsch verlangsamte nicht den Lauf. An dem großen Blechrohr kam er vorbei, an dessen Trichtern die freie kühle Luft vom Himmel droben in die Grube strich. Seltsam brausten die Töne des Ventilators in dem Blechrohr.

»Ein Gruß vom Himmel!« trompetete Kribsch, »ein Gruß von der Sonne! Ich komme schon, ich komme!«

Und wie er weiterstürmte, sah er eine Flamme vor sich schwanken, eine kleine Flamme. Kribsch dachte in seinem ungestümen Sonnendrang nicht mehr, daß das die oft gesehene Lampe eines Bergmannes wäre, das treue, mit Draht umgitterte Lämpchen – er hielt es plötzlich für einen besonderen Flammengruß vom Himmel, von der Sonne. Er hielt es für das dritte Zeichen.

»Ich komme schon, ich komme!« trompetete Kribsch und stürmte weiter auf das Lämpchen los, das vor ihm herfloh mit zackigen ängstlichen Sprüngen.

Jetzt bog das Flämmchen rasch in einen Nebengang, den Kribsch nie gegangen war. Aber Kribsch besann sich nicht. Ihm nach, ihm nach! Das Flämmchen war ein Bote, das Flämmchen führte ihn zur Sonne.

Auf einmal war es Kribsch schwer im Kopfe. Die Decke des Gebirges hing tief herunter. Gase, feine Gase drangen aus den Ritzen. Die atmete Kribsch ein. Fast ward es ihm dunkel vor den Augen. Die giftigen, die schlagenden Wetter, die er atmete, machten ihn krank.

»Krank?« schoß es ihm durchs Gehirn. »Krank? Oh, das ist das vierte und das letzte Zeichen! Ich komme schon, ich komme!«

Mit den letzten Kräften stürzte er weiter in der Richtung, wo er die Flammen noch trüb erkennen konnte. Menschenrufe schlugen an sein Ohr, angstvolle Menschenrufe. Er verstand sie nicht. Er stürzte weiter. Jetzt tanzte der Sonnengruß dicht vor seinen Augen. Jetzt fiel ein Mensch, jetzt klirrte etwas zu Boden, jetzt krachte ein Pferdefuß auf Glas und Draht, jetzt schwelte eine lange, dünne Flamme aufwärts und jetzt …

Jetzt leuchtete eine ungeheure Feuergarbe den ganzen Gang entlang und blendete Kribsch, daß er vor Schönheit die Augen schließen mußte.

»Die Sonne! Die Sonne!« schmetterte er noch heraus, »Mutter, du hattest recht, sie ist über alle Maßen schön!« Und dann folgte ein ungeheurer Krach, und das Bergwerk stürzte in den schlagenden Wettern jäh zusammen.

Der Laternenanzünder

Wieder einen Menschen hat die Maschine tot gemacht.

Den Laternenanzünder.

Zuerst ritten die elektrischen Bogenlampen eine Attacke auf sein Gasreich. Aber erobert haben sie es nicht. Sondern das Gasreich machte sich auf die »Strümpfe«, auf die glühenden. Und dann war es ein Kleinkrieg mit wechselndem Erfolg. Und manche Stadt eroberte sich das Gas zurück. Milder blieb sein Machtbereich und traulicher als die kalte Pracht des Elektrolichtes.

Schossen dessen Lichtgarben auf den großen Plätzen und in breiten Parvenüstraßen umher – so blieb der Gaslaterne ihr friedliches Bereich daneben. Und die alten Laternenanzünder bedienten sie nach wie vor.

Jetzt ist auch das vorbei.

Die Laternenanzünder sind tot, obwohl das Gas noch brennt. Man hat die Diener totgemacht, ehe noch das Gas gestorben war.

Ich gehe abends durch die Straßen und sehe keine Menschen mehr mit langen Stangen durch die Gassen eilen. Die Maschine hat sie abgesetzt, über Nacht. Wie das?

Jetzt ist es Dämmer, und ich will neben der Laterne dicht vor meinem Hause stehenbleiben und auf den Gasmann warten, der sie früher flammen ließ.

Ich warte und warte. Kein Gasmann kommt. Ich sehe auf die Uhr. Jetzt ist es eine Minute vor sechs Uhr, und die Dämmerung wird schon dick und schwer. Da – nun schlägt es sechs, und kein Laternenanzündertritt hallt in der stillen Straße. Plötzlich –

Whhuufff! da flammt das Licht der alten Gaslaterne. Flammt ganz von selbst. Hatte keinen Menschen nötig. Braucht keinen langen Zeigefinger mehr aus Holz, an dessen Ende sich das umgitterte Anzündeflämmchen mit Menschenwillen zu ihm neigte, damit die alte Gaslaterne brenne.

Wie ist das möglich?

In der Gaslaterne brennt auch tags ein kleines Dauerflämmchen. So winzig klein, daß es keiner sieht am Tage. Und neben diesem Ewigfünkchen haben sie ein dunkles Uhrgehäuse angebracht. Da drinnen tickt es, tickt es. Und des Abends, wenn es sechs Uhr ist, löst diese Uhr von selbst den Hebel aus, der die Laterne strahlen läßt. Whhuufff!

Später, gegen zwölf Uhr, wenn die braven Bürger in den Betten sind, stupft dieselbe Uhr die Gaslaterne wieder.

Whhiifff! und jede zweite Gaslaterne löscht sich selber aus. –

Die anderen kriegen morgens gegen Frühlicht einen weiteren Stoß von ihren Uhren.

Whhiifff! brennt keine Gaslaterne mehr in der ganzen Stadt.

Ach, der Laternenmann ist tot. Und an seiner Stelle tickt die Uhr.

Ach, der Laternenmann ist tot. Und ein eingestelltes Uhrwerk gibt und nimmt das Licht an seiner Stelle.

Ach, der Laternenmann ist tot. Und zwischen der Laterne und den Dingen, welche sie bestrahlte, ist des Menschen Mittlerhand verdorrt und eingeschrumpft auf Tick und Tack. Es stand ein Liebespaar im Dämmer an der Straßenecke und küßte sich.

»Liebster, bst, gleich wird der Gasmann kommen, wird die Gaslaterne flammen.«

»Liebste, nein, noch sehe ich seine lange Stange nicht, noch nicht.«

Whhuufff! – da flammte jene alte Gaslaterne ganz von selber, und die bösen Leute auf der anderen Straßenseite lachen.

»Pfui, du alte Gaslaterne, daß du noch in deinen alten Tagen hinterlistig wirst.«

»Ach, ihr tut mir unrecht. Ruhig hättet ihr euch küssen können meinetwegen, und ich hätte euch schon warten lassen durch den alten Gasmann – jedoch sie haben mir ein Ticktackwerk in meinen Leib gesetzt, und ich muß zur Sekunde strahlen und verlöschen, wie die Uhr in dem Gehäuse will.«

Ich selber ging um Mitternacht nach Hause mit guten Freunden. Wir stritten über Politik und andre heiße Sachen. Da schleuderte einer von uns fünfen eine kühnliche Behauptung zwischen uns.

»Das ist nicht wahr, oho, oho!«

»Bitte, hier hab' ich den Beweis!« und er zieht aus seiner Tasche den Beweis.

Unter der Laterne stecken wir die Köpfe über seine Schultern.

»Da – lest selbst, so lest doch!«

Whhiifff! ist die Laterne aus. Und wieder ist das schadenfrohe Lachen da.

»Der Teufel hol' das kalte Uhrwerk! Wenn doch der Laternenmann noch wäre. Der wäre nicht so grob gewesen.«

Ja, der Laternenmann.

Wißt ihr noch: Als wir Kinder waren, ist er vor uns hergegangen in den Straßen – hin und her im Zickzack, jetzt sprang der Funken auf der linken Straßenseite auf – und jetzt rechts – dann wieder links – als zöge er ein Gewebe durch die Stadt.

Immer hatte er es ein wenig eilig. Und unsere kleinen Füße kamen oft nicht mit, trotzdem sie geradeaus gingen, während des Laternenmanns Füße Zickzackwege gingen.

Und immer hatte er ein dickes Halstuch um. Und immer war sein Kopf gesenkt. Nur, wenn er mit der langen Stange an den Gashahn unterm Glasgehäuse tippte und dann das Glasscheibchen in die Höhe drückte, sah er in die Höhe. –

Und wir sahen ein unendlich gutmütiges Gesicht, und wir fürchteten uns gar nicht vor seiner langen Stange. Und wir sagten am 1. Januar zu unserem Vater:

»Papa, der Laternenanzünder ist da und will gratulieren«, als wenn wir einen alten lieben Besuch ankündigten. Und hätten zu dem einen Trinkgeldfranken im neuen Jahre gern noch ein Geldstück aus der Sparkasse zugelegt – wenn die nicht ein tönernes Schwein gewesen wäre, aus dessen Schlitz man auch durch Stürzen nichts herausbekam.

Ich habe einen Neffen, der Student ist.

Neulich war er bei uns zum Tee, am Abend, und das Gespräch kam auf allerlei Studentenstreiche.

»Nun«, fragte ich ihn, »löscht ihr auch noch Gaslaternen aus, wie wir es damals taten?«

»Nein«, sagte er verständnislos und sah mich an, als hätte ich ihn gefragt, ob er auch Häuser niederbrenne.

Da sah ich es. Die Laternen von heute mit ihrem Uhrwerk im Leib, die Laternen von heute, die nun ganz Maschine sind, an denen klettert kein fröhlicher Kerl mehr hinauf, die löscht kein übermütiger Bursch mehr aus, ja, deren Scheiben wirft nicht einmal mehr ein Junge ein.

Denn was hätte es für einen Sinn, sich um eine kaltnasige Maschine auch nur im Scherze zu bemühen, um eine Maschine, die den alten, lieben Laternenanzünder totgemacht hat?

Die Entdeckung

Wenn heute ein Nichtfachmann eine Entdeckung machte so halten die Fachler das für eine Beleidigung.

Die Fachler sind sonst nie einig. Aber darin sind sie völlig einig: Eine Entdeckung durch Nichtfachler müßte bestraft werden.

Und sie wird bestraft:

In seinem Kinderglauben geht der Nichtfachler mit seiner Entdeckung zu einem Fachprofessor:

»Herr Professor, es ist mir gelungen –

Bis hierher kommt er, und schon steigt drüben das fatale Lächeln auf.

»Nein, Herr Professor, ich versichere Ihnen wirklich –«

Das fatale Lächeln wird stärker:

»Jaja, gewiß – in der Tat – hm – nun also, lassen Sie mal hören – aber fassen Sie sich kurz – recht kurz – ich habe eine Vorlesung und –«

Und der Entdecker faßt sich kurz. Der Entdecker drängt seine zehnjährige Eigenbrötelei-Arbeit in zehn Minuten eines übersprudelnden Berichts hinein …

Schon in der zweiten Minute ist der Professor mit seinem Urteil fertig: Blech.

Von der dritten Minute an denkt er an irgend etwas anderes. Und in der zehnten Minute ist er angenehm erstaunt, daß der andre fertig ist.

»Hm«, sagt er gütig lächelnd, »hm, soweit ganz nett – in der Tat – aber Sie verstehen, man kann so was nicht aus dem Handgelenk – Sie verstehen – also schreiben Sie das Ganze nieder und schicken's mir – gelegentlich, nicht wahr – und jetzt, verzeihen Sie, aber die Vorlesung …«

Natürlich bringt die erste Post am nächsten Tag den ausführlichen Beschrieb mit einem zuversichtlichen Begleitbrief:

»Ich bin Ihnen von Herzen dankbar, hochverehrter Herr Professor, daß … und zweifle nicht, daß Sie beim Durchlesen dieses Beschriebs …«

Drei und einen halben Monat lang zweifelt er nicht, und zwei und einen halben Monat zweifelt er ein wenig – dann schreibt er:

»… so daß mir leider nichts andres übrigbleibt, als Sie um Rücksendung meiner Arbeit …«

Die kommt denn auch mit einer Karte:

»Professor Soundso hat mit Interesse von Ihrer Arbeit Kenntnis genommen und beehrt sich, sie wieder in Ihre Hände zurückzulegen.«

Dann geht der Nichtfachler zum zweiten Professor:

»Herr Professor, es ist mir gelungen …«

Und … so … weiter … siehe … oben …

Darauf geht der Nichtfachler zum dritten Fachprofessor:

»Herr Professor, es ist mir gelungen …«

Der Kontrolle halber, ob seine Arbeit auch wirklich gelesen wird, schreibt er auf die siebte Seite an den Rand:

»Herr Professor, Sie sind ein Rindvieh – nehmen Sie's nicht übel – ich schrieb es nur zur Probe – sollten Sie dennoch bis hierher gelesen haben, so bitte ich um Verzeihung für den schlechten Witz …«

Das Manuskript kommt tadellos zurück:

»Herr Professor Soundso hat mit Interesse …«

Das »Rindvieh« auf der siebten Seite ist noch unaufgeschnitten – die Verzeihung war nicht nötig.

Darauf wendet sich der Laie an Fachblätter.

Aber er bedenkt nicht, daß Fachblätter gedruckte Formulare haben, welche so beginnen:

»Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, daß …«

Schließlich läßt der nichtfachliche Entdecker in seiner Verzweiflung eine Broschüre drucken. Da steht nun alles drin, sauber, klar, ausführlich …

Und die Broschüre geht mit einer Widmung an die Professoren, geht an die Zeitungen und Zeitschriften, geht an die Freunde, an die Verwandten, an die Bekannten, geht an die Abgeordneten …

Nicht auf einmal, sondern nach und nach. Und zwischen einer jeden Empfängerkategorie liegt ein halbes Jahr Verzweiflung, liegen eine Menge lieber Kärtchen:

»Ich habe mit lebhaftem Interesse und … so … weiter …«

Und dann kommt ein Tag und eine fürchterliche Nacht. Und in der Nacht ist es, wo sich der Entdecker losreißt von seiner Entdeckung, sie mit Schmerzen fahren läßt und seiner Gattin verspricht, wieder eine vernünftige Bibliothekarstellung anzunehmen, um nicht zu verhungern.

Dann vergeht noch ein Jahr, ein langes Jahr.

Und gegen Ende dieses Jahres geht der berühmte Professor Soundso – nun, bei uns zu Hause sagte man in solchem Falle, er ginge »wohin«.

Also gut – der berühmte Professor Soundso geht in seinem Hause »wohin«.

Nun hat der berühmte Professor Soundso die Gewohnheit, bei dieser Gelegenheit sich in irgendeine Lektüre zu vertiefen, die gerade »zur Hand« ist.

Der berühmte Professor sucht gedankenvoll am Nagel: Zur Hand ist eine vergilbte Broschüre.

Also liest er die Broschüre, liest mit wachsender Erregung, liest und liest und liest …

Liest so lange, bis seine Gattin klopft:

»Aber Mann!«


Am andern Tag erhält der Erfinder einen Brief, nicht eine Karte:

»Sehr geehrter Herr – Kollege, Sie müssen schon erlauben, daß ich Sie so benenne, denn ich muß Ihnen herzlich zu Ihrer Entdeckung gratulieren, deren Tragweite sich noch gar nicht ermessen läßt. Eine Entdeckung, auf die ich durch Zufall in einer Broschüre gestoßen bin, die sich zu mir verirrt hat. Ich bitte Sie sehr, mich morgen in meinem Laboratorium zu besuchen. Unbegreiflich ist es mir, daß bis heute in unseren Kreisen von Ihrer Entdeckung nichts bekannt ist. Und ich kann Ihnen den Vorwurf nicht ersparen, sehr verehrter Herr Kollege: Warum sind Sie mit einer solchen Entdeckung nicht direkt zu Fachleuten gegangen, warum sind Sie nicht zu mir gegangen, der ich doch …«

Der Empfänger dieses Briefes greift sich an den Erfinderkopf. Eine Blutwelle ist ihm in die Schläfen geschossen. Eine Blutwelle und eine Erinnerung.

An seine Registratur geht er. Anderthalb Jahre zurück schlägt er. Da hat er es, das Kärtlein:

»… hat mit großem Interesse Kenntnis von Ihrer Arbeit genommen und legt sie wieder mit bestem Dank in Ihre Hände zurück.«

Und dann vergleicht er die Unterschrift auf dem Kärtlein mit der Unterschrift auf dem Brief von heute: Es ist dieselbe.

Und setzt dann lächelnd seinen Hut auf.

Güter

Es war eilig gegangen. Vor der Versteigerungshalle blieb er stehen. Ein Plakat hing da: »Sicherheit gegen Abhandenkommen wird nicht geleistet.«

Er lachte bitter auf: »Stimmt.«

Er mußte das wissen, er war reich gewesen und hatte jetzt bankrott gemacht: Sicherheit gegen Abhandenkommen wird nicht geleistet. Und da drinnen wurden seine Sachen versteigert.

Ob er's wagen dürfte, auch dabei zu sein? Da hatte ihn eine Käuferwelle schon hineingestrudelt. Mit geducktem Kopfe stand er in der dritten Reihe. Wenn ihn nun einer kannte? Wenn sie mit Fingern auf ihn wiesen: Seht, da sitzt er, der den Sachen hier gehört hat.

»Falsch, Lörcher!« hörte er aus der Vergangenheit die Stimme eines Lehrers, »nochmal übersetzen!«

»Seht, da sitzt er, der den Sachen hier –«

»Unsinn! Dem die Sachen hier einmal gehörten! Oder meinst du wirklich, er gehöre seinen Sachen, statt die Sachen ihm?«

»Ich weiß nicht recht –«

»Das merke ich, daß du nichts weißt. Setzen!«

Er setzte sich wirklich. Nicht in die Schulbank. In eine von den kleinen Bieterbänken. Immer noch geduckt.

Aber keiner achtete seiner. In diesen harten Zeiten hatte jeder mit sich selbst zu tun. Sechs im Tage machten jetzt in dieser Stadt bankrott. Nach außen hin. Bankrott nach innen machten noch viel mehr.

»Ein Herrenzimmer in Eiche!« rief der Mann mit dem Hammer. Der in der dritten Reihe duckte sich noch tiefer. Sein Schreibtisch, sein Sessel, sein Bücherschrank – es tat doch weh.

Die Gebote gingen zähe in die Höhe. »Vierhundertfünfundneunzig zum dritten!« schrie der Hammer, »niemand mehr?«

Dem Geduckten gab es einen Stich. »Fünfhundert«, entfuhr es ihm.

»Fünfhundert zum ersten, zum zweiten – niemand mehr?«

Dem Geduckten klopfte der Versteigerungshammer in der Schläfe: Wenn nun niemand weiterböte? Wenn ihm das eigne Zimmer zugeschlagen würde? Wenn der Mann dort vorn die Hand ausstreckte?: »Fünfhundert Mark, bitte.« – »Ich – ich habe nur noch fünfzehn –«

»Fünfhundertzwanzig!« scholl es weiter. Der Geduckte atmete auf. Hatte nicht eben sein Schreibtisch hart nach ihm gegriffen: »Hierher, mir gehörst du zu!«

Ohne Kummer hörte er den Schreibtisch von den Bietern hin und her gezerrt. Ober war es umgekehrt? Schief und scheu sah er jetzt auf. Schwebte nicht sein Schreibtisch über dieser festgekeilten Menge, stieß jetzt diesen, dann jenen unters Kinn: »Kopf hoch, bitte. Du gefällst mir. Du noch besser – biete, sag' ich dir! zum Donnerwetter, biete!«

Und sie boten.

Ein Teppich wurde aufgeworfen. »Handgeknüpfter Smyrnateppich, schönes Stück, wer bietet?«

Wieder gab's ihm einen Stich. Über diesen Teppich war sein Glück geschritten, vor, zurück, im Kreis, im Tanz, bis es zusammenbrach, das Glück des Reichtums und das Glück der Liebe.

»Dreihundertachtzig zum dritten, niemand mehr?«

»Vierhundert!« suchte er sein Glück zurückzuholen.

»Vierhundertfünfzig – achtzig – neunzig – fünfhundert!« ging die Teppichjagd über ihn hinweg. Einer mit »Sechshundert!« rollte ihn vergnügt zusammen.

Plötzlich schien's ihm umgekehrt: Der Teppich rollte einen Menschen, der Grimassen schnitt, erbarmungslos in sich hinein.

Gemälde rückten an und Bücher, Geschirre, Betten, tausend Dinge eines – wie sagte man doch gleich – wohlgepflegten Haushalts.

Sie zogen auf und zogen ab. Manche Stücke zwangen ihn, den Kopf zu heben, stießen ihm das Kinn nach oben, wie man's auf dem Sklavenmarkte macht: »Wie, laß mal sehen, ob ich dich gebrauchen kann – ach, du bist's nur.« Und schnitten ihn, wie man verlaßne Kameraden schneidet.

Wie er sich auch mühte, unbeteiligt zu erscheinen: »Was geht's mich an, ich habe mit euch abgeschlossen« – hindern konnte er es doch nicht, daß es ihn bei jedem Stück ein wenig schütterte. Nein, nicht die Stücke schütterten ihn. Die Erinnerungen taten's, die an den Stücken hingen.

Aber das Ergebnis war dasselbe. Das Ergebnis war ein reich gewesener Mensch, der, arm geworden, sich jetzt in der dritten Reihe duckte, duckte wie die wilde Jagd seines losgebrochenen Besitzes über ihn hinwegstampfte und ihm Fußtritte versetzte mit Klavierbeinen, Lüsterarmen und Garderobenständern: »Erledigt!«

Er gewann es endlich über sich, von seinem Schicksal abzusehen und die Leute zu betrachten.

Neben ihm saß einer, der erzählte, schon seit siebzehn Jahren käme er hierher. Nicht um zu steigern, nein, nur zuzusehen. Ein ausgebrannter Krater war er, der sich täglich sein gelindes Nervenprickeln holte, wenn er Menschen raufen sah um Dinge.

Vor ihm saß ein anderer, der erzählte seinem Nachbarn, wie er gestern ein Dutzend Kissenüberzüge eingesteigert habe, die zu Hause ihm mit einem Stempeldruck »Savoy-Hotel« entgegenbleckten. Jetzt säh's aus, als habe er's gestohlen. »Das sieht bei allen Dingen so aus«, sagte rätselhaft sein Nachbar, »alle Dinge haben, unverwischbar, ihren Stempeldruck – freilich sehen ihn die meisten erst beim Abschied von den Dingen.« Der Angesprochne sah ihn groß an: »Des is mir z'hoch, Herr Nachbar – achtzig Mark für des Kanapee? – fünfundachtzig!«

»Neunzig!« sagte ein Mann, der eben hereinkam. Er wußte gar nicht, was versteigert wurde. Er machte es immer so. Wie einer, der sich anzukaufende Papiere blind aus dem Kurszettel sticht. Er verblüffte. Die schönsten Stücke fielen ihm für ein Geringes zu. »Was, was werd' ich mir da wohl eingesteigert haben?« glänzte ihm beim Bieten kreuzvergnügt vom Angesicht.

Der Geduckte nickte: »Steigern wir nicht alle ebenso das eigne Leben ein, von dem nicht einer weiß, was es ihm bringen wird?«

Gemurmel, Rücken in den Bänken, die Versteigerung war zu Ende. Der Geduckte ging hinaus.

»Halt!« klang's vom Hammerpult, »halt, meine Herrschaften – noch eine Kleinigkeit zum Schluß. Ein kleiner Globus. Neu ist er nicht mehr. Na, fünfzig Pfennige zum ersten, nimmt ihn jemand dazu?«

Gelächter. Schulterzucken: »Ein Globus? Noch dazu ein alter? Die Karten stimmten nach dem Kriege auch nicht mehr …«

Der Geduckte hatte sich gewendet. Den kleinen Globus hatte ihm sein Lehrer in der Volksschule geschenkt: »Wenn's dir einmal schlecht geht, Max, umarm' ihn: dir gehört die Welt. Jetzt verstehst du's noch nicht. Aber später – in – na, sagen wir mal, wenn du fünfzig bist.«

Jetzt brauste es dem Geduckten in den Ohren. Heute war er fünfzig.

»Fünfzig Pfennige zum ersten, zum zweiten niemand mehr?« scherzte es vom Hammerpult.

»Eine Mark«, sagte der Geduckte.

»Ui, gleich das Doppelte, der hat's aber dicke«, spöttelte es.

»Eine Mark zum ersten, zweiten – niemand mehr? – zum dritten – Ihren Namen, bitte?«

»Lörcher.«

»Lörcher? wohl verwandt mit – mit –?« Er überflog den leeren Raum, wo die Habe eines Reichgewesenen eben noch gestanden hatte.

»Verwandt? ja, entfernt«, hatte der Geduckte sagen wollen. Aber er sagte: »Verwandt? Nein, nicht mehr.«

»Ich verstehe, bei Ausrangierten streicht man die Verwandtschaft durch. Aber 'n Andenken an ihn, den kleinen Globus, den haben Sie sich doch geleistet – schön, sehr schön von Ihnen …«

Der andre hörte nicht zu. Er war nicht mehr geduckt. Er ging gerade. Mit dem Globus unterm Arm. So straff geht einer nicht, der eben log. Er hatte die Wahrheit gesagt. Er war mit dem versteigerten Lörcher nicht verwandt.

Am Ausgang kam ein Mensch, das Gesicht in Kondolenzfalten gelegt, auf ihn zu. Sein Vetter war's, der reichgebliebne Bröselmann: »Nur Mut, Max –«

»Mut – wozu?«

»Na, wenn man von seiner eigenen Versteigerung kommt –«

»– so braucht man keinen Mut mehr.«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Ihr meint, ich sei arm. Ich bin reich. Bis jetzt war ich versklavt. Versklavt an die Dinge –«

»Nicht übel«, lachte Bröselmann, »sich zum Trost 'n philosophisches Mäntelchen zu drapieren.«

»Es ist die Wahrheit. Ich sah sie drinnen. Nicht wir steigern die Dinge. Die Dinge steigern uns. Nicht Besitzer – Besessene sind wir. Auch ich war besessen. Jetzt bin ich frei. Den Dingen bin ich entronnen.«

»Hm, ganz geistreich –«

»Ich will nicht geist-reich, ich will ding-arm sein. Weißt du noch, wie wir zusammen das Kolleg besuchten? Der Professor prophezeite eine goldne Zeit. Die Maschinen nähmen einmal allen Menschen alle Sorge ab. Jetzt schon träfen zwei eiserne Kameraden auf einen von Fleisch und Blut. Träfen zehn darauf, es quölle aus ihnen so an Gütern, daß es auch der Ärmste gut bekäme.«

»Ja, ich weiß, das war vor – vor dreißig Jahren, und heute –«

»Heute haben wir die zehn. Morgen werden wir zwanzig haben. Güter ohne Zahl speien sie aus. Es flutet um uns von Gütern. Die Flut steigt. Einmal wird die ganze Erde von Gütern überschwemmt sein. Wir ertrinken in Gütern. Grau von Gütern überkrustet ist die Erde, wenn die Flut verläuft. Und der Mensch ist tot.«

»Erlaub mal, Güter kommt von gut –«

»Siehst du dort drüben auf dem Damm die Güterzüge rollen? Sechzig Wagen jeder. Jeder Wagen fünfzehntausend Kilo. Fünfzehntausend Kilogramm gestopft voll Klaviere, Vorhänge, Büsten, Konserven, Bettvorleger, Lüster, Fußabstreifer, Zuckerzangen, Nagelfeilen – Güter und kein einziges Gut!«

»Aber nun höre mal –«

»Ich habe gehört. Jetzt sehe ich. Die Gütergier geht um. Je mehr es aus Maschinen quillt, je mehr dürstet uns. Was erzeugt wird, soll in uns Besitzern wieder Kraft erzeugen. Mehr als nötig war, es herzustellen. Dann, ward uns verheißen, würde jeder reich. Schau dich um. Hat's der Arme besser? Ist der Reiche glücklicher? Kein Gut wird mehr genützt. Die Güter nützen uns. Wo sind Kinder rar? Wo die meisten Güter sind. Die Güter töten uns, und keiner sieht es. Auch du –«

»Ich?« kräuselte Bröselmann die Lippen, »ich will versuchen, es zu sehen.«

»Du kannst es nicht, du ließest deine Güter denn versteigern.«

»Sehr lieb von dir. Was deine eigne Versteigerung betrifft, so scheint man ein Ding zuviel versteigert zu haben: deinen Verstand.«

Des andren Arm umschloß den ans Herz gedrückten Erdkreis! »Dafür habe ich die Erde neu gewonnen«, sagte er lächelnd und tauchte als ein Verwandelter ruhig und aufrecht ins Gewühl der Stadt.

60 000 PS

Auf dem Bahnhof stieß ich gegen einen langen Herrn. Nein, gegen einen spitzen Stock, den er waagrecht unterm Arm trug. »Herr!« rief ich schmerzlich berührt, »wie kann man aber auch seinen Stock so –!«

»– so saudumm tragen, meinst du?« sagte der Herr und streckte mir die Hand entgegen. Da war es ein alter Schulkamerad, der seine Sommerreise machte.

»Nein, jetzt so was«, sagte ich besänftigt, »du mußt verzeihen, aber weißt du, diese Art, den Stock zu tragen, ist wirklich –«

»– saudumm, weiß schon. Aber es ging nicht anders. Ich blätterte gerade im Baedeker – ›Sehenswertes‹, weißt du.«

»Hm, woher kommst du?«

»Über Köln, Ulm –«

»Was hast du in Köln gesehen?«

»Den Dom natürlich –«

»Und in Ulm?«

»Das Münster selbstverständlich.«

»Dann wirst du wohl hier auch das Münster –«

»Das rätst du mir als Hiesiger?«

»Ich – ich hab' dir nichts geraten – aber dein Baedeker wird –«

»Ach, die Reisebücher können mir –«

»Na, na.«

»Ist's vielleicht nicht wahr? Immer Kirchen, immer Museen, immer Denkmäler – Denkmäler mit und ohne Pferd, nein, Denkmäler der Arbeit, der brausenden Arbeit um uns, will ich sehen in der Fremde – ich bin Ingenieur und –«

»Also Ingenieur bist du geworden? Und ich ein Mann der Feder – weißt du was, da gehen wir zusammen zu der Sechzigtausendpferdigen – wird morgen abgeliefert – läuft heute probeweise – wir Leute von der Feder sind eingeladen –«

Da ging er schon an meiner Seite und bestürmte mich mit Fragen, Tourenzahl, Dampfkilogramme, Ausnützungskoeffizient, Kohlenkonsum, Kapazität – ich verstand kein Wort davon und sagte, als er gar nicht nachließ, mit einem Hochblick auf die nächste Kirchenuhr: »Die Kapazität der Dampfkilogramme steht im reziproken Verhältnis zur Geschwindigkeit des Stundenzeigers – wir müssen eilen.«

Dennoch blieb er alle Augenblicke stehen: »Sechzigtausend Pferde in einer einzigen Maschine – weißt du, was das heißt, denk dir mal die Rosse einzeln hintereinander, an einem Stricke ziehend –«

»Das heißt«, übersetzte ich es geographisch, »ein Zugseil von Berlin nach Hamburg, lückenlos besetzt mit Pferdeleibern.«

»Und weißt du«, blieb er wieder stehen, »daß ich noch in meiner Jugend eine tausendpferdige Kolbendampfmaschine angestaunt mit hochgewölbten Augenbrauen –«

»Mal sechzig jetzt – dann müßten also deine Augenbrauen gleich bis an die Decke stoßen«, sagte ich und zog ihn weiter.

Aber er blieb wieder stehen, den einen Fuß erregt gehoben:

»Und weißt du, was deine Sechzigtausendpferdige, elektrisch umgerechnet, an Lampen speisen könnte?«

»Keine Ahnung.«

»Fast zwei Millionen Metallfadenlampen zu je sechzehn Kerzen …«

Auch ich blieb stehen, Lichtfluten brachen über mich herein. »Dreißig Millionen Kerzen«, murmelte ich, »aus einer einzigen Maschine brennend hochgeschleudert …« Die Lichtgarben schossen in den Weltenraum. Einer, der vom Mars sein Fernrohr abwärts richten würde, müßte wähnen, eine riesenhafte Feuersbrunst wüte nächtlich auf der Erde …

Wir sprachen nichts mehr. Die Großgedanken liefen, statt zur Zunge, in die ausgreifenden Beine.

Die Stadt lag hinter uns. Noch weiter hinten alles, was der Reiseführer als sehenswert bezeichnete, mit einem Sternchen oder zwei.

»Wir brauchen neue Reiseführer«, dachte ich »solche, die auf Kraftstationen weisen, auf Schächte und Maschinen, Reiseführer, welche ihre Sterne, die sie zu vergeben haben, hoch auf die Kamine heften und an den Fleiß von hunderttausend Händen. ›Durch dieses Tor‹, hieß es in den alten Führern, ›zog der General X. mit fünfzigtausend‹ … ›Durch dieses Vorstadttor‹, muß es in den neuen Führern heißen, ›zieht täglich ein Fabrikdirektor mit seinen fünfzigtausend Mann auf das Schlachtfeld einer Riesenarbeit.‹« Einen Baedeker der Arbeit brauchen wir, der an den Stadträndern beginnt, wo der andere aufhört. Freilich, nicht auf Kilowatt und Dampfverbrauch dürfte der neue Baedeker getauft sein – er müßte uns die Augen öffnen für die neue Schönheit der Arbeit, für den Sonnenaufgang am Stichloch des Hochofens, für die Mittagsglut des Walzwerks, für die zeitungsrauschenden Gefilde einer Rotationsmaschine, für die Gebirgsketten der getürmten Arbeitsstücke, für den Silbersee des Gußstahls, für die Katakomben unsrer Gruben, die Vesuve unsrer Essen –

Da tat sich ein Fabriktor auf und schluckte uns mit anderen ein – wir standen vor der Sechzigtausendpferdigen.

Etwas unbehilflich stand ich vor der Dampfturbine. War sie klein? War sie groß? Mir fehlte der Maßstab. Ich sah nur, meines Freundes Augen glänzten.

»Eigentlich«, sagte ich unsicher, »hatte ich mir das Ding doch etwas größer –«

»Das ist ja das Wundervolle«, sagte mein Freund, »die Dampfturbine braucht für gleiche Leistung nur ein Fünftel Bodenfläche unsrer alten Kolbenmaschinen.«

»Und dann geht mir das Schwungrad ab, das Gestänge, die Zylinder –«

»Herrlich, nicht wahr, diese auf alles Drum und Dran verzichtende Einfachheit.«

»Ja, aber ich kann nicht sehen, wie aus Dampf Elektrizität wird.«

»Dort, die gleiche Welle der Turbine erzeugt sie durch Dynamos, so geht keine Kraft verloren.«

»Ich bin begierig, wie das sein wird, wenn das Ganze läuft.«

»Das tut es schon.«

»Nicht möglich – ich sehe keine Bewegung, spüre kein Erschüttern –«

»Herrlich, nicht wahr – es ist dasselbe bei den Menschen und Maschinen – die ihre Arbeit mit verhaltener Kraft und ohne Lärm vollbringen, sind die besten – übrigens, wo die Welle aus den Rundgehäusen vorlugt, kannst du die Bewegung sehen.«

Ich blickte auf die Welle. Lautlos rotierte sie. Des Tages Lichter spielten still darüber. Kaum, daß ein leis und lustig zwinkernder Widerschein die Bewegung verriet.

»Tausend Umdrehungen in der Minute«, sagte mein Freund. Leicht lag seine Hand auf einer Schraubenmutter des Gehäuses. Ich tat desgleichen. Ein feines Summen und Erschüttern lief durch meine Fingerspitzen, nichts weiter.

Ich trat zurück. Eine Wolke vor dem Hallenfenster zog über die Sonne. Es ward düster in dem großen Saale. Gespenstisch lagerte es sich um die Maschine.

Wie eine beringte Riesenkatze lag das funkelnde Ding vor uns, unbeweglich, lauernd. Riesenkraft in den gespannten Sehnen. Gleich wird sie sich zum Sprunge ducken – wird springen – durchs Fabrikdach – hinüber über Mauern – hinaus ins Land mit den Eisentatzen auf die Fluren. –

Nein, nein, sie ist ja angeschmiedet, fest an die Erde angesaugt, aus der sie ihre Kohlenkraft bezieht. Gelöst von Mutter Erde wär' sie totes Eisen, mit ihr verbunden läßt sie Riesenkräfte in die Kabel rinnen, beleuchtet Städte, läßt weit im Kreis Maschinenheere surren, treibt Bahnen, läßt Leben aus den dünnen Kupfernerven springen, mit denen sie das Land umzieht.

Nein, keine wilde Katze auf dem Sprunge – ein braver Arbeitsriese, ein unermüdlicher.

»Augenblicklich der Erde größte Dampfmaschine«, ergänzt der Freund mein Denken.

Noch immer standen wir davor. Wir konnten uns nicht trennen. Mit ihr um die Wette wirbelten Gedanken.

Endlich gingen wir. Wie man aus einer Kirche geht. Aus keinem Gottesdienst bin ich andächtiger gekommen.

»Und die Maschine geht –?«

»Ins Herz der deutschen Industrie. Dort wird sie dicht an einem Kohlenschachte ruhen. Ein für allemal. Neben ihr sausen Förderwagen in die Tiefe und bringen ihr das Futter, täglich, stündlich, nächtlich, unaufhörlich.«

»Wieviel?«

»Wenn sie voll läuft, sechzig Doppelwagen Kohle täglich.«

»Das sind?«

»Sechsmalhunderttausend Kilogramm im Tag.«

Ich erschrecke vor den Zahlen. Sie geben mir kein Bild mehr. Sie zerfließen.

»Und was tut sie dort, die Sechzigtausendpferdige?«

»Sie erzeugt Elektrizität – läßt die Wagen in den Schächten elektrisch auf und nieder schnurren – zieht elektrisch die schlagenden Wetter aus den Flözen – treibt elektrisch frische Luft ins Innere der Erde – setzt elektrisch Sümpfungspumpen in Bewegung – speit Ströme Bergwerkswasser aus den Schächten – schiebt elektrisch unter Tage die Wagen – taucht die Nacht der Städte in die Weißglut ihrer Strahlen – spielt im Walzwerk mit den glühenden Blöcken, hebt sie, wendet sie elektrisch, schiebt sie unter Walzen – speist elektrisch Straßenbahnnetze – dreht die gröbste und die feinste der Maschinen – leuchtet dem Leiter des Stahltrustes ebensogut wie dem Volksschulbuben bei dem späten Einmaleins – heizt elektrisch Räume – läßt die Bügeleisen glühen – summt elektrisch in der Teemaschine – und wird nicht eher ruhen, bis sie eines Tages dem letzten Arbeiter die Suppe auf dem elektrischen Ofen kocht …«

Wir standen an der Haltestelle der Straßenbahn. Mit ganz anderen Augen sah ich jetzt die Röllchen an den Drähten laufen.

Der Lärm der Stadt schlug wieder an die Ohren. Es wimmelte in den Straßen. Scheinbar regellos. Aber – wie war mir denn – gingen die Menschen nicht an unsichtbaren Fäden – elektrischen Fäden, die zusammenliefen in den Arbeitshallen vor den Städten –?

Er stand wieder auf dem Trittbrett seines Zuges.

»Es ist etwas Wunderbares um diese geheimnisvolle elektrische Kraft«, sagte er.

»Ja, diese Riesenleistung –«

»Ihre Zwergenleistung ist nicht minder groß. Denk' an die Telephone, Telegraphen, an die zarten Ströme, welche unser Hirn umspielen und umspülen, wenn wir denken –«

»Also könnte auch das Leben ein elektrisches Wunder sein, meinst du?«

»Warum nicht – in jeder Zelle eines schaffenden Menschen summt und glitzert, richtig eingesetzt, eine Sechzigtausendpferdige.«

Mein Schulkamerad reichte mir die Hand: »Ich danke dir, daß du mir ein Stück des Angesichts deiner Stadt gezeigt hast.«

»Und ich dir, daß du, was mir dunkel war, erklärtest.«

»Nicht ich, mein Freund – dreißig Millionen Kerzen haben uns weit hinein ins Dunkle vorgeleuchtet – ins Dunkel unserer Lebensarbeit –«

Der Zug zog an. »Denk' mal nach«, winkte er mir schon im Fahren zu, »ihr Leute von der Feder solltet euch jetzt wirklich an die Arbeit machen – es wird Zeit dazu – und den neuen Baedeker schreiben – du weißt schon, den der Arbeit.«

Nochmal

Das neue Bähnlein war eingeweiht worden. Ein wenig steif waren die geladnen Gäste beim Festmahl gesessen, währenddem die offiziellen Reden plätscherten. Als aber der siebente Redner sein Weinglas schwang: »Und in diesem Sinne, meine Herren –«, klang von der Straße her ein Posthorn: »Muß i denn, muß i denn zum Städtle naus …«, und mit einem Male waren die Gesichter aus dem harten Leim gegangen.

»Meiner Seel«, sagte der Bezirksamtmann, »das ist der alte Postmichl.«

»Er macht seine letzte Kutschfahrt«, sagte der Bürgermeister, »die nächste macht die Bahn.«

»Es lebe der Fortschritt!« sagte der Regierungsrat.

»In diesem Sinne, meine Herren –«, hub's vom Rednerpulte wieder an. Keiner hörte drauf. Jeder hörte nur das Posthorn: »Wenn i komm, wenn i komm, wenn i wiedrum komm …«

»Er kommt nimmer«, sagte der Sternwirt, »aus is's. Morgen geht er in Pension, der alte Michl.«

Und dann liefen sie mitten »in diesem Sinne« an die Saalfenster und schauten wehmütig der alten Zeit nach, die dort, umkränzt und Fahnen halbmast, in die Grube fuhr. »Zur Grube« hieß der Poststall, wo der alte Michl wohnte.

»Das Neue in Ehrn, aber schad' is's«, sagte der Sternwirt.

»Das Alte in Ehren, aber Fortschritt muß sein«, sagte der Regierungsrat.

Der Lehrer hatte das Fenster aufgeklirrt und das Glas erhoben: »Runter vom Bock, Michl, her mit dir, stoß an!«

Langsam kletterte der Alte vom Kutscherthron. Er lachte nicht. Ernst hob er das dargereichte Glas: »Prost, die neue Bahn!«

Soviel Überwindung stieß sie aus dem Festtagsgleise: »Eigentlich hatten wir die Bahn noch gar nicht nötig«, sagte der Lehrer.

»Ein paar Jahre wäre es noch mit dem Postillon gegangen«, räumte der Bürgermeister ein.

»Der Deifi soll s' holn, die Bahn, mit deiner Kutschen fahr i morgn in d' Stadt!« schrie der Sternwirt.

»Ausgeschlossen«, sagte der Bezirksamtmann bedauernd und schaute nach der Uhr, »die Karriolpost hat um 3 Uhr 35 ihre letzte Fahrt getan.«

»Man kann net wissen, Michl, gelt?« blinzelte der Sternwirt.

Der alte Postillon gab keine Antwort. Er schaute leer ins leere Glas. Man füllte es. Er trank's mechanisch aus. Lachend goß die Kellnerin aufs neue.

»Wie viele Leute mag der Michl schon gefahren haben?« sagte der Lehrer.

»Die Fahrscheinstatistik weist die Ziffer 31 457 Fahrgäste aus«, sagte der Postsekretär. – »Einunddreißigtausendvierhundertsiebenundfünfzig«, murmelten sie im Kreise.

Der alte Postillon warf den Kopf zurück. Die staubige Landstraße sah er hinauf. Der Zug der 31 457 Menschen, welche er gefahren, schlängelte sich die Landstraße herab. Sie schritten an ihm vorüber, einer um den andern. Er nickte ernst und grüßte einen um den andern.

Die am Fenster sahn sich an: Den alten Michl hat's, lang wird er's nicht mehr machen in Pension. Um ihn zu trösten, sprachen sie ihm zu:

»Und nicht einmal in den fünfundvierzig Jahren hat er umgeschmissen, bravo, Michl!«

»Möchte nicht wissen, wie viele Unfälle sich in den nächsten fünfundvierzig Jahren auf der neuen Bahn ereignen werden.«

»Sooft ich in des Michls Kutsche schaute, immer waren drin die Leute fröhlich – denkt euch: Einunddreißigtausendvierhundertsiebenundfünfzig vergnügte Leute!«

»Möchte nicht wissen, wieviel murksige Menschen unsere neue Bahn befördern wird.«

»Wenn man's genau betrachtet: ›Glück ist der Fortschritt keines‹!«

»Man kann verstehen, daß in England die ersten Maschinen zerschlagen wurden.«

»Freilich, was will man machen – prost, Michl, prost!«

Der Alte trank sein fünftes oder sechstes Glas. Gesprochen hatte er nichts. Die Deichsel des abgeschirrten Wagens sah er aus dem Hoftor ragen. Vom Stallfenster herüber glastete ihn ein Roßkopf an. »Herrgott«, murmelte er selbstvergessen, »einmal wenn i no fahrn kunnt!« Und ging.

Betroffen sahen sie ihm aus dem Festsaal nach.

»Soll man –?« hub der Lehrer an.

»Soll man nicht? –« sagte der Sekretär.

»Ausgeschlossen!« sagte der Bezirksamtmann.

In dieser Nacht schüttelte es den alten Michl. Er war fällig. Wenn einer fällig ist, lockt ihn die Pension nicht mehr. Sie ist nicht mehr wesentlich für einen guten Abschluß.

»Einmal wenn i no fahrn kunnt«, murmelte der Michl, als es ihn im Traume hin und her warf, »in England ham s' d' Maschinen selbigsmal derschlagn – derschlagn – derschlagn …«

Er war auf einmal angezogen. Er tappte ins Maschinenhaus. Es war leer. Die Turbine war ausgeschaltet. Die Dynamo stand still. Es fiel ihm ein Streik ein, wo man die Dynamo unbrauchbar gemacht hatte. Er ging zum Fluß hinab. Die hohlen Hände füllte er mit Sand. Den schmiß er unter die elektrischen Schleifbürsten.

Dann schlich er heim. Der Engel des Herrn stand vor ihm.

»Michl«, sagte er, »bist du bereit?«

»Einmal wenn i no fahrn kunnt.«

Der Engel des Herrn ging.

Dann lange nichts.

Tumult vor seinem Fenster: »Michl, Michl!«

»Was gibt's?«

»Fahrn mußt no amal, d' Maschin is hin!«

»Woaß scho –«

Stille. Dann Gemurmel: »Er weiß schon, er hat es schon gewußt …«

Die Türe wurde aufgerissen. Der Bezirksamtmann stand da: »Daß Sie es schon wußten, beweist uns, daß –«

»Die Dynamo hat er verhunzt!« ballte sich dahinter eine Ingenieurfaust.

»Michl, Michl, warum hast du das getan?« stand nun auch der Bürgermeister da.

»I hab' mir denkt – ihr selm habt's gsagt … fahrn möcht' i no amal, nur noch einmal, bittschön.«

Der Lehrer trat heran: »Fünfundvierzig Jahre fährst du deine Postkutsche, was war vorher da?«

»A – a Leiterwagn, dem Botenpeter sei Leiterwagn.«

»Und vor dem Leiterwagen?«

»Nix – halt, die Wabn war da, die Bötin.«

»Glaubst du, Michl, daß die Bötin ein Rad am Leiterwagen ruiniert hat?«

»I – i glaab net.«

»Und daß der Botenpeter deine Kutsche hingemacht hat?«

»I – i woaß net.«

»Schäm dich, Michl –«

Er hatte den Kopf gesenkt: »Grad oamal wenn i no fahrn hätt' könna –«

»Kannst, Michl, kannst«, sagte der Landgendarm, »ins Zuchthaus.«

Da riß es den alten Postmichl im Bett nach der andren Seite. Der Engel des Herrn stand wieder da:

»Michl«, sagte er, »bist du bereit?«

»Na, na, naa, ins Zuchthaus muß i!«

Der Engel lächelte: »Du hast geträumt. Was vergangen ist, läßt sich mit keinem Nochmal halten. Du bist vergangen, Michl, komm mit mir …«

Der Traminer

In Mühlau sitzen die Bauern seit Jahrhunderten auf der gleichen Scholle. Das macht eigenbrötlerisch.

Jeder seinen eignen Grund, jeder unter seinem eignen Dach, das versteht zur Not ein Städter, der, wie ich, sich eingeredet hat, er sei jetzt auch mit seinem Häusel ein Mühlauer.

»Ein Mühlauer will er sein, dersell?« hat man dann beim Altwirt über mich entschieden, »zum Lachen ist's – ein Eing'hockter is er.«

Ich habe ihnen sagen lassen, ich sei keiner jener Sommerfremden, ich sei auch im Winter da, und es sei jetzt schon ein ganzes Jahr, daß ich –

»Ein Jahr? Daß i net lach – was is a Jahr? – a Flohstich is's!«

Wie viele Flohstiche da wohl nötig wären, daß man angewachsen, daß man ein Mühlauer wäre?

»O mei', dir kann ma des net sag'n, des müßt amal der Enkel von dei'm Enkel fragen.«

»Was nicht hindert«, lachte ich, »daß ich jetzt euch was fragen möchte.«

»Frag'!«

»Wie kommt es, daß weitum ein jeder seine eigne Wasserleitung hat?«

Sie sahen mich verdutzt an. Ich hätte sie auch fragen können, wie es komme, daß ein jeder seinen eignen Schnaufer habe.

Ich ließ nicht luck. Hier war ich ihnen überlegen: Wann habe es zum letztenmal gebrannt? – Beim Jackel vor zwei Jahren. – Was gerettet worden sei? – Nix, koa Feserl – hoaßt des: Beim Traminer ein Kanarienvogel und beim Jäckel eine alte Nähmaschin'. – Und bei den früheren Bränden? – Auch so gut wie nix – a Feuer is a Feuer und frißt all's z'samm'. – In der Stadt sei's umgekehrt: ein Kanarienvogel käme um und eine alte Nähmaschine, alles andre werde meistenteils gerettet. – Ob ich lüge? – Nein, die Wahrheit sei es. – Also, wie das komme? – Sie hätten keine Hochdruckwasserleitung. – Sie kratzten sich am Hinterkopf. Das käme ihnen doch zu teuer, eine Hochdruckwasserleitung für jeden einzelnen von ihnen. – Nein, für alle eine. – Das Gestreit, mei' Lieber! – Es gäbe keinen Streit, alle Quellen auf dem Berg vereinigt, gäbe überreichlich Wasser. – Also guat probieren wir's, wenn's nix kost'. – Was nichts koste, sei nichts wert. – Das wäre auch wahr, und ich sollte es in meine Hände nehmen.

Ich war stolz und nahm es in die Hand. Schrieb ein Dutzend Briefe – besuchte – ward besucht – und, Wunder in Mühlau: Mit allem war man einverstanden.

Nur der Traminer setzte seine große Brille auf und suchte auf dem Plane des Regierungsingenieurs herum: Was der Strich da sei? – Der Hauptstrang. – Und die zwei kleinen Striche? – Der eine sei die Leitung für das Innendorf, der andre für die weitverstreuten Höfe. – Und wo man sehen könne, daß das Wasser auch ins Haus hineingeht? – Hier. – Und ob ein jedes Haus auch einen Brunnen auf dem Hofe draußen habe? – Freilich, jedes, sogar mit einem blitzenden Messinghahn daran. – Messinghahn? für was?

Hier war's, daß alle ihre schweren Bauernköpfe hoben.

Wofür? ei, daß man das Wasser absperren könne.

Totenstille. Dann ein Wiegen aller Köpfe: A Wasserleitung, wo man's Wasser absperrt? Wir woll'n a Wasserleitung, wo das Wasser lauft!

Überlegen lächelte der Staatsbeamte: Es liefe schon; nur wenn man's grad' nicht brauche, drehe man den Hahn natürlich zu. – Was natürlich? nix natürlich! unser Wasser is zum Laufen da und net zum Zusperrn! – Aber immer könne man das Wasser doch nicht laufen lassen! – Bei mei'm Vatter is 's glaufen, solang auf unsre Höf wer ghaust hat, is a Brunnen draußen glaufen; wenn i heimkomm von der Arbeit: 's erste, was i hör, 's Wasser lauft; wenn i aufwach in der Nacht, hör i 's draußen laufen, wie's seit dauset Jahr is gronnen, und i weiß, mei Hof, der steht no, wenn des nimmer laufet Tag und Nacht und Nacht und Tag, nimmer arbeiten möchtet i und nimmer schlafen könnt i – is 's net a so, Leut, sagt's!

Die Köpfe senkten sich, die Köpfe hoben sich: »So is 's, Traminer!«

»Aber Leute«, sagte der Regierungsingenieur, »bedenkt doch, daß es Hochdruck sein soll; wenn aber immer alle Hähne offen stünden, woher soll der Druck –«

»Wenn's nur rinnt, was brauchen wir ein' Druck?«

»Fürs Löschen, Leute, wenn es brennen sollte, deshalb baut ihr doch die Leitung. Wir brauchen gut sechs Atmosphären –«

»Uns is a rinnets Wasser lieber wie die Ammosferi – und brennen werd's net auch glei übermorg'n – und wenn's brennen sollt, mir werd'n 's schon in die Höh treib'n, d' Ammosferi – und jetzt soll amal der Brüala reden, der die ganze Gschicht uns einbrockt hat.«

Der Brüala war ich. Zum Brüala, heißt's auf meinem Haus.

Ich war bei der Rede des Traminer besinnlich geworden. An eigne Jugendwanderungen dachte ich, wenn wir Wanderbrüder spät in einer Herberge waren, wach im Bett und ohne Schlaf vor Übermüdung. Trübes Denken schlich uns an. Es würde eine Freinacht werden. Rasch das Fenster auf und Luft herein. Horche der Brunnen draußen, wie der traulich plätschert, immerzu und immerzu. Alles Trübe hat er fortgeplätschert, in den Schlaf hat er uns eingesungen, in den tiefen, süßen Schlaf der Jugend. Und ist unsern großen Denkern nicht oft Wundervolles mit dem Brunnenrauschen zugeflossen? Hat nicht Goethe – hat nicht Nietzsche – hat nicht einst ein Heraklit …

Ich vergaß, daß ich in Mühlau war: »Meine Herren, Goethe saß an einem Brunnen, als er schrieb:

Des Menschen Seele
gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
zum Himmel steigt es,
und wieder nieder
zur Erde muß es.

Meine Herren, solches schreibt man nicht an Brunnen, welche Messinghähne haben. Ewiges kann nur aus Brunnen, die da ewig fließen, kommen. Und hat nicht Nietzsche geschrieben:

Nacht ist es: nun werden lauter alle springenden Brunnen.

Und hat nicht selbst ein Heraklit von dieser Welt behauptet: Alles fließt …«

Lange muß ich noch gesprochen haben. Still haben es die Bauernköpfe aufgenommen. Der Ingenieur nur hat gelächelt.

Als ich fertig war, stand der Traminer auf: »Jetzt habts es von eahm selber ghört. Von ei'n Nitschi hab i nix g'wußt – 's muß einer gwesen sei, der wo si auskennt. Von ei'm Gette hat der Lehrer in der Schul uns was verzählt, i han's vergessen – 's muß einer gwesn sei, der si aufs Wasser aa verstanden hat. Und was den Hariklet betrifft, allen Respekt vor eahm: Alles fließt – mit zwoa Wörterln hat er's troffen. Und daß i also alles z'sammpack, den Gette und den Nitschi, den Hariklet und unser Leitung – entweder ohne Hahnderln oder gar net, Herr Regierungsingenieur!«

Daß ich's also auch zusammenpacke: Die Mühlauer bekamen ihre Wasserleitung ohne jeden Hahn.

Nicht lange drauf: Feuer beim Hechenrainer.

Die Hydranten auf, die Schläuche angeschraubt – es ging alles wie am Schnürchen.

Beim Hechenrainer war der Salvermoser mit dem Schlauchmund an der Leiter hochgeklettert. Über sich in den Dachstuhl, wo das Feuer angefangen hatte, richtete er das Mundstück: »Los!«

Kein Wasser kam.

»Los sag ich, los!«

Ein dünnes Strählchen stieg heraus, einen Meter oder zwei, dann fiel es matt zu Boden.

»Als wenn a Büaberl bieseln taat!« höhnte der Jackel.

»Die Sauwasserleitung, hab i 's net g'sagt!« schrie der Salvermoser.

»Stopft die Röhren zu im Dorf!« schrie ich.

»Des hilft aa nix mehr«, jammerte der Hechenrainer, der mit hängenden Armen vor seinem brennenden Dachstuhl stand und dem die Zähren über das Gesicht herunterliefen, ohne daß er's wußte.

»Helfen oder nicht – die Röhren zugestopft im Dorf!«

Einige mußten es getan haben – der Strahl ward etwas stärker.

»Als wenn unsereiner bieseln taat!« höhnte der Jackel.

Es war für die Katz', ich sah es ein und schüttelte den Kopf: »Solang der lange Strang in die Gehöfte weit hinaus allen Druck abzieht –«

»Botschaft müßte man zu denen schicken«, sagte jemand.

»Was hast d' gsagt?« Der Traminer stand neben mir. Bleich und stammelnd: »I bin schuld, i woaß –«

»Wir sind alle schuld.«

»Nix da, wenn i damals net so gegen alle Hahnderln g'red't hätt' – was hast d' gsagt – der lange Strang – wo geht er an – aha, beim anderen Hydranten –«

Mit ein paar Sätzen war er drüben. Mit gewaltiger Kraft riß er am Hydranten. Der gab nach. Eine Grube tat sich auf. Ein Rohr lag bloß. Das Rohr, das die Gehöfte weit hinaus versorgte.

»Derweil steht vom Hechenrainerhof kein Pfosten mehr«, sagte ich schlaff, »ja, wenn einer jenen ganzen Strang verstopfen könnte –«

Mächtig quoll es aus dem abgebrochenen Rohr. Der Strahl auf der Leiter droben sank zusammen.

»Ausbieselt is 's!« höhnte der Jackel, »aus is 's!«

»An geht's!« schrie der Traminer in der Wassergrube, »einen Prügel her!«

Sie reichten ihm ein Holzstück. Er schob es ins wasserzischende Rohr. Es schoß wieder heraus.

»Lumpen her und Stroh – was 's habts!«

Sie brachten Stroh und Lumpen. Er stopfte es hinein.

»Mehr Lumpen!«

»Ham koane mehr.«

»D' Joppen awa, d' Hemmada herunter!«

Sie rissen und sie gaben, was er wollte. Er stopfte, stopfte, stopfte.

Es hielt dem Druck nicht stand. Es fing an herauszuquellen. Da streifte der Traminer seinen Ärmel auf. Seine Riesenmuskeln sah ich spielen. Hinein ins Rohr fuhr der sehnige Bauernarm. Grimmig lachte drüber ein Gesicht zu mir herauf: »Der bleibt drin – der kimmt nimmer raus, bis daß – bis daß –«

»Ihr seid toll, sechs Atmosphären haltet Ihr nicht aus!«

»I 'leicht net – mei Arm da scho' – geht's nur hera, Deifis-Ammosferi!«

Sie gingen her. Der Arm ging hin. Sie hielten sich die Waage.

»Hurra!« schrie es von der Leiter, »– steigt scho'!«

Tiefer preßte der Traminerarm das Lumpenbündel in die Röhre. Blaurot schwoll's ihm im Gesicht.

»Hurra, höcher, höcher – hurra!«

Zischend kam es aus dem Schlauchmund. Zischend fuhr es ins Gebälk des Dachstocks. Zischend übergoß es jetzt die Flammen. Prasselnd spielte sich dort droben fast der gleiche Kampf ab, wie da unten. Nur, daß das Wasser dort das Feuer übermannte, und der Arm hier unten überwältigte das Wasser.

Der Hechenrainer stand noch immer mit Hängearmen. Doch das Feuer sank.

»Halt aus, Traminer, halt aus!«

Des Traminers stummverbissenes Antlitz wurde dunkel. Er schien zu schwanken.

»Halt aus – a bissel no, a bisserl – Traminer, wennst d' net aushaltst, waar alles umasinscht!«

Er hielt aus.

Als im Dachstuhl droben die letzte Glut gelöscht war, fiel der Traminer um. Matt rutschte aus dem Rohr der Arm. Der Arm nur, keine Hand mehr, die war fort. Nein, nicht fort – jetzt sie hinterher, für sich allein. Nein, nicht für sich allein – zusammen mit den Lumpen und den Wasserwogen spie die Röhre des Traminers Hand aus.

Kohle

Die Menschen waren bequem geworden. Sonnenkraft und Sonnenwärme waren längst herabgestiegen. Alle Arbeit ward durch sie geleistet. Es gab keine Not mehr. Auch keinen Krieg mehr. Gutmütig blinzelten sich Menschen und Völker an: »Wird schon gehen, wird schon gehen …«

Durch Museumssäle führte ein Professor die Studenten, zeigte dies, erklärte dazu, verdeckte jetzt die Tafel über einem Glassturz: »Und hier, meine Herren, eine Seltenheit aus alten Zeiten – weiß jemand, was das ist?«

Die Studenten drängten sich ein wenig um das schwarze Stückchen unter Glas, beäugten es mit mäßiger Begierde: »Vielleicht schwarzer Jaspis? – Oder Erdpech? – Oder verwittertes Ebenholz?«

Der Professor hob die Hand vom Schild.

»Ah, Kohle«, ging es durch die Runde, »natürlich, Kohle.«

»Wir haben dies verschwundene Mineral erst kürzlich in der Kulturgeschichte behandelt. Sie erinnern sich, meine Herren?«

Nicken. Denn Kulturgeschichte zählte dreimal in der Prüfung, nächsten Monat.

Der Professor sah auf die Uhr: »Wir wurden mit dem Rundgang früher fertig als ich dachte, eine volle Viertelstunde früher – die Säle sind fast leer von Menschen – wie wäre es mit einer kleinen Wiederholung?«

Wieder Nicken. Denn, wie gesagt, die Kulturgeschichte zählte dreimal.

»Sie erinnern sich, daß Kohlen Überreste einer versunkenen Pflanzenwelt sind. Ein winziger Prozentbruchteil von Kohlensäure mehr in der Luft genügte damals, Riesengräser bäumehoch in Tropenluft zu treiben. Steter Sommer herrschte, und die Bäume hatten keine Jahresringe. Über diese Treibhauswälder wälzte sich das Erdgeschiebe und verkohlte, was einst blühte. – Sie folgen mir doch, meine Herren?«

Denn in den letzten Reihen war ein unterdrücktes Gähnen: »Gott, das ist schon lange vorbei …«

»Nach Millionen Jahren feierte die Kohle ihre Auferstehung. Keine Ader, wo man ihr nicht nachgegraben hätte. In der Erde Eingeweiden schürften, krabbelten und werkelten die Völker Tag und Nacht. Schlagende Wetter bliesen ihnen Tod und Feuer ins Gesicht – sie gruben weiter nach der schwarzen Sonne – Herr Frick, Sie wissen, was ich meine?«

»Kohle war auf eine rohe Art aufgespeicherte Sonnenwärme«, sagte der Student mechanisch. Auf den Gesichtern stand es: »Gott, was waren das für primitive Menschen!«

»Kohle ward die Quelle ihrer Kraft. Kohle speiste die Maschinen. Kein Ding, keiner ihrer Millionen Gegenstände, in dem die Kohle nicht in irgendeiner Arbeitsform enthalten war! Sie wurde selten. Wettrennen nach der Kohle gingen um die Erde. Kriege wurden drum geführt. Zu denken, daß man morgen keine Kessel mehr heizen, sich die Hände nicht mehr wärmen könnte – die Angst schüttelte das kohlenhungrige Geschlecht.«

Mitleidig überlegen lächelte es in der Runde: Die armen Hascherln!

»Sie hatten Grund dazu. Kesselheizen, Händewärmen war nicht mehr alles, was sich aus der Kohle schälte. Ohne Kohle rann kein Eisen aus den Öfen, schnitt kein Messer, hämmerte kein Hammer, tickte keine Uhr. Ohne Kohle floß kein Strom im Flachlandkabel. Ohne Kohle sanken ihre Glocken in den Gasfabriken, sank die Stadt ins Dunkle. Ohne Kohle schrumpften ihre Ernten auf den Feldern mangels Ammoniak. Ohne Kohle standen ihre Gasmaschinen still und floß kein Teer mehr aus den Retorten. Ohne Kohle schrien die Hupen der Kraftwagen vergeblich nach Benzol. Ohne Kohle schwand ein ganzes Heer von Sprengstoffen und von Wohlgerüchen. Ohne Kohle zuckten Apotheker mit den Achseln und wanden Kranke ungelindert sich in Schmerzen. Ohne Kohle löschten tausend bunte Farben aus und wurde grau die Welt.«

Die Studenten sahen sich an: Na ja, soweit ganz rührsam alles, aber doch nur von historischem Interesse – unbegreiflich, daß er so pathetisch wird, der Herr Professor …

»Kein Wunder also, daß die Kohle ihnen göttlich dünkte, daß sie durch die rauchenden Arbeitsfahnen der Kamine zu Gott im Himmel ihre Hände betend hoben. Kein Wunder auch, daß nach dem großen Völkerkriege, der sie arm machte, erst recht ein Ringen anhob, aus der Kohle ihre letzte Kraft und ihr letztes Geheimnis zu pressen …«

»Wissen wir – ein alter Schnee«, stand's auf den Stirnen der Studenten, »wo er nur hinaus will? – hm, er soll ein Buch geschrieben haben, wo er die Vergangenheit herausstrich – zum Lachen! wenn man vergleicht mit heute, wo wir alle Entdeckungen, die überhaupt zu machen sind, errungen haben – wo es uns gelungen ist, die Sonne selbst in unsern Dienst zu spannen, – wo der Ärmste sich bequem bedienen läßt – nein, ein komischer Professor! wenn wir ihn nicht nötig hätten des Examens wegen –«

Der Lehrer hatte die Glasglocke ein wenig gehoben. Keine Wand war zwischen den Studenten und dem letzten Reste der versunkenen Kohlenzeiten. Des Lehrers Augen glänzten: »Nun, wie wird euch Nachgeborenen –?«

Ein wenig spöttisch zuckt es durch die Hörerreihen.

»– ist euch nicht, als müßtet ihr die Hände auf zu diesem Kohlenstückchen heben: Gott, wenn's möglich wäre, gib uns unsere Kohlenzeit zurück –!«

Einige senkten kichernd die blasierten Köpfe: »Verrückt, wahrhaftig verrückt –«

»Hrrm, Herr Professor«, räusperte sich Student Frick, »nichts für ungut – aber wenn Sie uns nicht beweisen können, was diese – diese armselige Kohlenzeit vor unserer heutigen, bis in den letzten Winkel aufgehellten Zeit voraus gehabt –«

Wieder Kichern: »Hähä, der Frick, der gibt's ihm, was?«

»Was sie vorausgehabt?« richtete sich der alte Lehrer der Kulturgeschichte auf, »wie, das fühlt ihr nicht – das muß ich euch erst sagen?«

»Wenn wir bitten dürften«, kam es kühl zurück.

»Ja, bitten dürft ihr, – bitten sollt ihr – auf den Knien sollt ihr Zufriedenen, ihr Satten bitten, daß es wieder würde, wie es war –!«

»Nun, soviel wir sehen, Herr Professor, war es damals –«

»– eine Lust, zu leben, meine Herren! Ist euch der Sinn dafür denn ganz geschwunden, wie es herrlich war, zu kämpfen und zu ringen – welches Glück für eure Ahnen, streitend zu entdecken – nicht entdeckt zu haben – welcher Lebensüberschwang im Findendürfen – und wie kläglich, nicht mehr finden zu brauchen – euch Armen ist das Leben Spiel geworden – jenen aus der Kohlenzeit war es Arbeit – ihr zwinkert heute müde mit den blanken Äuglein: ›Gott, was ist denn noch der Mühe wert?‹ jene aber in den rauchgeschwärzten Tagen unserer Väter durften Schweiß vergießen, köstlichen Schweiß – durften tasten – durften irren – durften bluten auf dem Schlachtfeld ihrer Arbeit und Gefahren –!«

Betroffen schauten die Studenten. »Herr Professor, aber wir –«

»Ihr? – ihr dürft übermorgen ins Examen steigen, und besteht ihr's: ›Gut‹, besteht ihr's nicht: ›Na, auch gut‹, sagen und euch zublinzeln – denn Nöte habt ihr nicht mehr – was zu tun ist, um es euch behaglich zu gestalten auf der Erde, macht die eingespannte Sonne – und ihr, die ihr besteht, wie dünkt ihr euch so weise – nichts mehr auf der Erde, was ihr nicht schon wüßtet. Keine Ahnung habt ihr mehr von jener Seligkeit des Staunens, wenn in der heißen Kohlenkampfzeit unserer Erde sich ein Zipfelchen des Wundervorhangs der Zusammenhänge lüftete – begreift ihr jetzt, wie arm ihr wurdet?«

Groß wurden da die Augen der Studenten. Aus dem schwarzen Kohlestück vor ihnen stieg ein Lied, ein fernes Lied. Das drang in ihre Adern, kreiste darin und hämmerte mit ihrer Väter Arbeitshämmern: Kinder, wißt ihr noch – wohlan – wohlauf –

Einigen wollte es wie Tränen in die Augen steigen, Tränen der Sehnsucht, wenn nicht Tränen, wenn nicht Sehnsucht längst schon überwunden gewesen wären. Nur der Student Frick versuchte es noch einmal mit Räuspern: »Hrrm, soviel wir wissen, Herr Professor, werden im Examen Tatsachen geprüft, nicht Gefühle, und Tatsache ist, daß –«

»Tatsache ist«, strich sich der Lehrer wie erwachend über die Stirne und blickte nach der Uhr: »Tatsache ist, daß jetzt die Viertelstunde um ist – und was die Gefühle betrifft –

›Wenn Ihr's nicht fühlt
Ihr werdet's nicht erjagen!‹

– Sie wissen doch, wer das gesagt hat, meine Herren?«

»Irgendeiner aus dem Beginn der Kohlenzeit, glaube ich.«

»Goethe war es« – der Museumsdiener rasselte mit den Schlüsseln –, »hm, mit diesen schwarzen Stücken eine lange Nacht zusammen eingeschlossen werden? Das hieltet ihr nicht aus – und auch die Kohle tät mir leid – kommen Sie, meine Herren, kommen Sie …«

Kolumbus

Der »Zyklop« machte seine Jungfernfahrt.

Der »Zyklop« war das größte Schiff der Welt. Es gab schon viele größte Schiffe. Und dann kam immer noch ein größeres. Aber der »Zyklop« bedeutete das Ende der Entwicklungskurve. Jener steilen Kurve, die das Meer mit immer größeren Kolossen peitschte. Die Ingenieure sagten, der »Zyklop« bedeute jene Grenze, wo der Widerstand des Wassers alle Dampfkraft der Maschinen fresse.

Der »Zyklop« trug fünfzigtausend Menschen auf der Jungfernfahrt. Ich war einer von den Fünfzigtausend. Ein Fünfzigtausendstel der Lebensfracht des Schiffes also, und ein Milliardstel von der toten. Das Schiff war alles, und ich war ein Nichts. Eines der verirrten hunderttausend Zitterkringel, die die Sonne durch den Laubwald wirft. Immerhin – Lichtkringel haben was gesehen. Lichtkringel können was erzählen. So darf ich's auch tun.

Ich huschte dahin, dorthin auf dem Schiffe. Seine Länge maß ich ab mit Meterschritten. Der »Zyklop« war tausend Meter lang. Es schwamm ein Kilometer auf den Wellen. Der Kilometer hatte eine Breite, eine Tiefe. Die Breite konnte ich nicht messen mittels meiner Schritte. Zuviel Leben wimmelte mir über meine Füße. In die Tiefe sah ich von der Brüstung. Ich stand auf einem Kilometer.

Hinab zu den Maschinen stieg ich. Wie in einen Krater ging es. Es rollte und stampfte. So bebt in Krämpfen ein Vulkan. Die Feuermäuler fraßen drei Millionen Kilogramm an Kohle Tag für Tag. Eine Eisenwelle ging durchs Schiff wie eine Achse durch die Erde und glänzte stumm in rasend schneller Drehung. Die Schraube saß daran – ein Riesenvogel aus der Vorwelt.

Aufwärts stieg ich wieder zu den Passagieren. Durcheinander sah ich diese branden wie die Menschenwellen einer Großstadt. Sie gingen, standen, liefen in den Straßen dieses Schiffes. Kellnerfräcke wehten, Kapellen spielten. Der Vorhang eines schwimmenden Theaters rollte auf. Schwimmbäder plätscherten im Leib des Schiffes. Tennisbälle flogen, Rennfahrer flitzten über eine Bahn.

Jede Stunde flattert die Atlantik-Zeitung aus der Presse. Männer lesen sie und Frauen in den Liegestühlen. Unaufhörlich knistern Funkapparate. Bündelweise kommt der Strom der Telegramme durch die Lüfte.

Auf der Kommandobrücke steht ein Mann und spielt auf Klaviaturen – das Hirn des Schiffes.


Ich trat an das Geländer. Es ging gegen Abend. Der Ozean flammte. Die Lüfte sangen. Eine leuchtende Stadt brauste durch das Weltmeer.

Wohin? Ostwärts.

Und mit dem Lauf des Schiffes rollte diese Erde um sich selber. Ein Wettlauf.

Und mit dem Schiffe flog die Erde um die Sonne.

Und im Weltraum selbst die Sonne …?

Mir schwindelte.


Oho – was war da vorn am Bug des Schiffes?

Gespenstisch kam es angezogen mit geblähten Segeln. Ganz klein sah's aus von meiner Höhe. Und sonderbar, so sonderbar.

Ein Fischerkahn? Ein Lotsenboot? Nein, nein, ein Segelschiff aus alten Zeiten. Hölzerne Geländer, Säulenreihen liefen zierlich um den Umfang. Der Mastkorb hing so unbehilflich hinterm Segel wie eine umgestülpte Glocke.

Ein Mensch saß darin, ein lebender Mensch. Mit einer sonderbaren Tracht. Im Museum hab' ich sie gesehen und auf Bilderbogen. Spanisch war sie – richtig spanisch.

Ruhig sah der Mann an den »Zyklop« hinauf. Wie man an einem Berg hinaufschaut.

Ein Kreuz sah ich am Segel, ein spanisch Kreuz.

Und vorne am Bug sah ich einen andern Menschen. Hochgewachsen. Das gebogene Knie auf einem Bündel Taue. Die flache Hand am Auge, zu mir aufwärts schauend.

Ich riß das Fernglas aus der Tasche. Es nützte nichts. Es war zu dunkel.

Da ging ein Blitzen übern Himmel. Und nun sah ich das Gesicht des Mannes in einem kurzen Leuchten.

Es war Kolumbus.

Ich wollte rufen – ich wollte zu dem Kapitän – ich wollte halten lassen – ich wollte – ein Dutzend Dinge wollte ich in einem Augenblick.

Und als der Mund sich wölbte zu dem Rufe, war die schlanke Brigg verschwunden. Schluckte die Vergangenheit den Helden vierhundert Jahre rückwärts wieder ein.

Der Buggischt brauste aufwärts. Es sprühte leicht zu mir herauf. Drei Tropfen fielen vom Geländer:

»Ko–«, klatschte eine helle Siegessilbe in die Tiefe, »lum-bus« fielen Tropfen Bleies hinunter in das Wasser.

Der Mann verschwand – das Werk stand auf.

»Sag an, Kolumbus, welches war die Größe deines Werkes? Sag an, Kolumbus, was hast du empfunden, als du unsern Riesen neben deinem Brigglein pflügen sahst?«

Ich fragte in die Ferne – aus mir selber stieg die Antwort:

Die Tat des Mannes auf dem schemenhaften Schifflein wuchs. Wuchs und wuchs ins Riesenhafte. Wuchs aus den Wassern aufwärts, wuchs herauf zu mir. Schwoll über mich hinauf zu der Kommandobrücke. Überschattete den Kapitän und seine Tasten, auf denen er die Melodie des Riesenschiffes spielte. Kletterte hinauf zum Schornstein. Reckte unbekümmert sich durch Qualm und Tuten. Und schoß hinauf in Sternenhöhe.

Weit ließ sie unser Schiff zurück. Und von der Spitze seiner Tat sah jener Mann mit dem gebeugten Knie auf uns herunter, wie ich selber vorhin auf die Brigg.

Da erkannte ich's: Kolumbus' Ausfahrt – ein Sprung ins Dunkle – die unberechenbare Gottheit ward zum Zweikampf aufgefordert. Des »Zyklops« Ausfahrt, unseres größten Schiffes mit den Wunderwerken – eine vorgeschriebene Route – berechnete, ertüftelte Gewalten, sauber auf Papier herausgeklügelt – freilich Riesenwerke schaffend, aber …

Die Technik blies unsere Dinge auf und machte uns selber hohl. Tüftler sind wir und Berechner. Keine Helden mehr wie du, Kolumbus.

»So sind denn unsere Zeiten heldenlos geworden – sag an, Kolumbus?«

Er wies mit ausgestreckter Hand zurück ans Land.

Nebel sah ich wallen. Türen sprangen auf von Kammern. Denker sah ich und Gelehrte.

Kühne Geistesblitze schossen aus der Denker Stirnen. Wie ein Wetterleuchten suchten sie den Horizont der Menschheit ab.

An Retorten sah ich die Gelehrten. Über Mikroskope sah ich sie gebückt. Ihr Leben sah ich sie in Schweigen an ein Tröpfchen hängen. In die Schanze schlugen sie ihr Herz und Leben für einen Spatenstich am Schachte der Erkenntnis.

Da ward ich wieder froh.

»Nein, deine Brüder sind nicht ausgestorben, Held Kolumbus. Nur die Gewänder sind vertauscht.«

 


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