George Meredith
Richard Feverel
George Meredith

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Zweiundvierzigstes Kapitel.

Die Natur spricht.

Briareus glänzte in zornigem Rot von jenseit der See – wer ist jener nebelhafte Riese? Und warum sieht Hesperus in seinem rosigen Glanze so unbarmherzig lieblich aus? Es ist, weil ein Mann sein lichtes Heim verlassen hat und fortgegangen ist, um düstere Taten zu tun, und weil ein Fleck auf ihm liegt, mit welchem er die Rückkehr nicht wagt. Fern im Westen winkt ihm die schöne Lucy zur Heimkehr. Ach! wenn er es könnte! Wie stark und ungestüm ist die Versuchung; wie umschmeichelt ihn das nie ruhende Verlangen! Wie betäubt es seine Vernunft, seine Ehre. Denn er liebt sie; sie ist ihm noch die erste und einzige Frau der Welt. Würde sonst dieser schwarze Fleck für ihn die Hölle bedeuten? würden sonst seine Glieder gefesselt sein, während ihre Arme sich ihm öffnen? Und wenn er sie liebt, was bedeutet dann ein Sturz in den Abgrund oder ein tausendfacher Sturz? Ist nicht Liebe das Losungswort, das ihm die Pforten zu jenem Segen öffnet? So könnten wir sprechen, ihm aber ist sein Körper zu einem Tempel gemacht worden und dieser Tempel ist entweiht.

Ein Tempel und entweiht! Wozu ist er jetzt noch geeignet, als zu einem Tummelplatz der Teufel? So hat ihn seine Erziehung gelehrt zu denken.

Er kann niemanden anklagen, nur seine eigne Gemeinheit. Aber sich so niedrig zu fühlen und den Segen anzunehmen, der ihm winkt – so tief ist er noch nicht gefallen.

Ach, sein glückliches Heim! seine liebliche Frau! welch tolles, elendes Irrlicht hat ihn von euch fortgelockt, auf der Höhe seines Dünkels? Der arme Elende! der sich für 623 den Hundertarmigen hielt und mit den herrschenden Göttern kämpfen wollte. Jupiter flüsterte der lachenden Dame einen leichtsinnigen Auftrag ins Ohr, sie trat ihm in den Weg – und wie hat er nun den Olymp erschüttert? mit seinem Gelächter?

Es wäre sicherlich besser für ihn, er wäre Orestes und die Furien heulten ihm in die Ohren, als einer, dem eine himmlische Seele zuruft, von dorther, von wo er für immer verbannt ist. Ihm bringt nicht der Wahnsinn das Vergessen. Umkleidet von dem Glanze seiner ersten Leidenschaft, umgeben von der Schönheit heimatlicher Gefilde, ist sie ihm immer nahe; morgens, abends, nachts scheint sie vor ihm her: fällt ihn plötzlich an in den Tiefen des Waldes; legt sich fühlbar auf sein Herz. In Augenblicken des Vergessens stürzt er hin und schließt sie in seine Arme, nennt sie seine Geliebte und ach! ihr unschuldiger Kuß treibt qualvolle Scham in seine Wangen.

Tag für Tag währte der Kampf. Sein Vater schrieb ihm, bat ihn, bei der Liebe, die er zu ihm hätte, zurückzukehren. Von jener Stunde an verbrannte Richard alle Briefe, die er erhielt, ungelesen. Er wußte zu gut, wie leicht er sich überreden lassen könnte. Worte von außen hätten ihn in Versuchung geführt und den Funken des ehrenhaften Gefühls ausgelöscht, das ihn quälte, und an den er sich doch in verzweifelter Selbstrechtfertigung klammerte.

Es ist eine gefährliche und undankbare Aufgabe, junge Herren aufhalten zu wollen, die sich auf der absteigendem Bahn befinden. Trotzdem ist es eine Aufgabe, die von schönen Frauen sehr geschätzt wird und die einige von ihnen sich zum Beruf machen. Lady Judith gehörte, soweit ihr Geschlecht es ihr erlaubte, auch zu den Giganten, die gegen die herrschenden Götter kämpfen; und zu diesem Zwecke hatte sie – man beachte es wohl – den alten Lord 624 geheiratet, der in allem unzulänglich war, nur nicht in seinen Besitztümern. Was sie bis jetzt erreicht hatte, erfuhr niemand; sie sah nicht glücklich aus, wenn sie daran dachte. Sie traf Richard zufällig in Paris; sie erkannte seinen Zustand; sie ließ ihn verstehen, daß sie die einzige wäre, die Verständnis für ihn habe. Infolgedessen blieb er in ihrer Umgebung. Es beruhigte ihn, in der Nähe einer Frau zu sein. Wenn sie auch zu vermuten wagte, was der Grund zu seinem Benehmen war, so ging sie doch mit der Leichtigkeit, die den Frauen eigen ist, darüber hinweg und lehrte ihn, ihre melancholischen Anschauungen darüber zu teilen. Sie sprach von Kummer, von ihrem persönlichen Kummer ebenso viel wie er von dem seinen – in unbestimmten Ausdrücken und mit Selbstanklagen. Und sie verstand ihn. Wie der dunkle, unergründliche Reichtum, der in uns schlummert, sich doch vor dem Blicke einer Frau erhellt! Wir werden gleich so sehr viel interessanter, so sehr viel reicher, als wir es waren! – beinahe so reich, wie wir uns in unsern Träumen erschienen! Aber in dem Augenblick, in dem wir die Frau wieder verlassen, sind wir bankerott, sind wir Bettler. Wie kommt das? Wir fragen nicht. Wir eilen zurück zu ihr und sonnen uns hungrig in ihren Strahlen. Nur ein weibliches Auge kann so schöpferisch wirken, weshalb, das kann ich nicht sagen. Lady Judith verstand Richard, und da er sich unendlich schlecht vorkam, klammerte er sich um so fieberhafter an sie, wie jemand, der das Schlimmste fürchtet, wenn er sie verlieren sollte. Sein Geist bedurfte der Ruhe; er war schwach geworden durch das, was er gelitten hatte.

Austin fand sie zwischen den Hügeln von Nassau im Rheinlande. Titanen, männliche und weibliche, die Jupiter nicht entthront hatten und nun rasch dahin trieben auf den Fluten der Sentimentalität. Der blauröckige Bauer, der am Morgen hinter seinen Ochsen dahinschritt, 625 die Obstfrau mit dem lustigen, bunten Kopftuch, der Eseltreiber, selbst der Doktor in diesen Gegenden hatten schon mehr für ihre Mitmenschen getan, als sie. Schreckliche Erwägung! Lady Judith ist darüber erhaben, aber es zehrt an Richard, wenn er von ihr fern ist. Mit elenden Gefühlen beobachtet er häufig die jungen Leute seines Alters, wenn sie in Scharen an ihre Arbeit ziehen. Ihre Arbeit liegt nicht in den Wolken! Solide Arbeit, ohne Ehrgeiz, fruchtbar!

Lady Judith hatte edlere Arbeit in Aussicht für den Helden. Er griff blindlings nach allem, was es auch sei, und sie breitete die Landkarte von ganz Europa vor ihm aus. Ihm schien nichts zu gewaltig. Er sah sich zu Pferde dahin sprengen über die Trümmer von Weltreichen. Ein gewöhnlicherer Geist, ein unbedeutenderes Wesen wäre vor der Größe der Aufgabe zurückgeschreckt. Schweigend kamen sie überein, die zivilisierte Welt zu verlassen. Nebelgebilde haben die Eigentümlichkeit, sich zu verflüchtigen und zu neuen Gebilden zu verdichten, aber niemals nehmen sie wieder dieselbe Gestalt an. Briareus mit den hundert unbeschäftigten Händen könnte sich in einen ungeheuerlichen Esel verwandeln, der mit den Hinterbeinen ausschlägt, oder in zwanzigtausend schnatternde Affen. Die phantastischen Bilder des jungen Gehirns sind denen sehr ähnlich, die wir in den Wolken sehen und sind ebenso wie diese ein Spiel des Windes. Lady Judith spielte die Rolle des Windes. Es war viel Nebel in ihm und er nahm bald diese, bald jene Gestalt an. Ihr, die ihr zur Abendzeit die Wolken beobachtet und die ihr die Jugend kennt, werdet das Gleichnis verstehen, und es wird euch nicht seltsam, es wird euch kaum töricht erscheinen, daß ein junger Mann in Richards Alter und von Richards Erziehung und Stellung in diesen wilden Zustand geraten konnte. War er nicht in dem Glauben erzogen, für 626 große Dinge bestimmt zu sein? Sagte sie ihm nicht, daß auch sie daran glaubte? Und wenn man fühlt, daß man schlecht ist, und doch weiß, daß man zu Besserem geboren ist, dann greift man nach jedem Wolkengebilde. Stellt euch den Helden vor mit einem lahmen Bein, wird er nicht an Quacksalber glauben? Mit welcher Leidenschaft sehnt er sich danach, irgend jemand den Schädel zu spalten! Sie sprachen leise zusammen über Italien. »Die Zeit wird kommen,« sagte sie. »Und ich werde bereit sein,« sagte er. Welchen Rang sollte er in der Freiheitsarmee einnehmen? Hauptmann, Major, General, oder nur ein einfacher Freiwilliger? Hier war er, wie es ihm zukam, bestimmter und genauer als sie. Einfacher Freiwilliger sagte er. Doch sah er sich schon in Gedanken sein Pferd tummeln. Also natürlich Freiwilliger in der Kavallerie. Ein Kavalleriefreiwilliger, der über die Trümmer von Weltreichen dahin galoppiert. Sie blickte unter dunkeln Augenlidern traurig, träumerisch auf jene unbestimmte Fernen. Sie lasen Petrarca zusammen, um die notwendige Begeisterung in sich zu entzünden. Italia mia! Nichtig und erfolglos waren in der Tat diese Gespräche für die schweren tödlichen Wunden seines schönen Körpers, aber ihre Seufzer folgten dem Tiber, dem Arno und dem Po, und ihre Hände fanden sich. Wer hätte noch nicht über Italien geweint! Die Sehnsucht einer ganzen Welt erhebt sich für Italien, dicht und dauernd, wie der qualmende Rauch von den Zigarren der pannonischen Wachtposten.

So sagte Richard, als Austin kam, daß er Lady Judith nicht verlassen könne, und Lady Judith sagte, sie könne sich nicht von ihm trennen. Man beachte wohl, um seinetwillen nicht! Richard bestätigte das. Vielleicht hatte er Grund dankbar zu sein. Die Hochstraße der Torheit hätte ihn zu schlimmen Zielen führen können. Er ist töricht, Gott weiß, ich aber will nicht über den Helden lachen, dem 627 nur die rechte Gelegenheit gefehlt hat. Tritt ihm gegenüber, wenn die rechte Gelegenheit ihm die Weihe erteilt hat, dann ist er kein Gegenstand des Gelächters.

Richard sah in diesem, was wir der Welt zuliebe Torheit nennen müssen, seine Sicherheit. Es war ein heilsamer Prozeß für ihn, daß seine Grillen sich Luft machten, und diejenige, die ihnen Farbe und Gestalt gab, war ihm eine wohltätige Göttin. Er sagte Austin gradezu, daß er sie nicht verlassen könne, und den Tag auch nicht voraus sähe, an dem er es würde tun können.

»Warum kannst du nicht zu deiner Frau kommen, Richard?«

»Aus einem Grunde, den du mehr als jeder andere gutheißen würdest, Austin.«

Er begrüßte Austin mit allen Zeichen männlicher Zuneigung und eines trauernden Herzens. Er hatte in Gedanken Austin immer mit Lucy in Verbindung gebracht, in jenen Gärten der Hesperiden im fernen Westen. Austin wartete geduldig. Lady Judiths alter Lord versuchte alle Heilquellen in Nassau, ohne einen Schimmer von Gesundheit zu erlangen. Wohin es ihm beliebte zu gehen, dorthin folgte sie ihm. Einer so bewundernswerten Gattin konnte man es verzeihen, daß sie einen alten Mann geheiratet hatte. Sie war eine Enthusiastin, selbst in der Erfüllung ihrer ehelichen Pflichten. Sie hatte den Ausdruck der Enthusiastin. Die richtigen Umstände hätten sie zu einer Charlotte Corday machen können. So wollen wir auch sie vor dem Vorwurf der Lächerlichkeit schützen. Der Unsinn, den die Enthusiasten treiben, ist sehr verschieden von dem Unsinn der Dummköpfe. Sie war zweifellos eine Frau von hohen Ideen, von jener Art, die immer das tut, was sie für recht hält und sich immer auf ihre eignen Sehwerkzeuge verläßt. Sie war der Bewunderung eines jungen Mannes nicht unwert, wenn sie auch nicht 628 dazu geeignet war, ihn zu leiten. Sie kam leicht wieder zu der alten Vertrautheit mit Austin, wobei sie doch ihr neues Verhältnis mit Richard aufrecht erhielt. Sie und Austin waren einander nicht unähnlich, nur ließ sich Austin nicht auf Träumereien ein und er hatte auch keinen alten Lord geheiratet.

Die drei gingen eines Tages über die Brücke in Limburg an der Lahn, wo die steinerne Figur eines Bischofs im Mondlicht ihren Schatten auf das Wasser wirft, das über Schieferplatten dahinrauscht. Eine Frau ging an ihnen vorüber, die ein Kind auf dem Arme trug, dessen Größe ihre Aufmerksamkeit erregte.

»Was für ein prächtiger Kerl!« sagte Richard lachend.

»Ja, das ist ein schöner Bursche,« sagte Austin, »aber ich glaube nicht, daß er viel größer ist, als dein Junge.«

»Er genügt zu einem Arminius des neunzehnten Jahrhunderts,« sagte Richard. Dann sah er Austin an.

»Was sagten Sie eben?« fragte Lady Judith Austin.

»Was habe ich gesagt, das wert wäre, wiederholt zu werden?« fragte Austin dagegen ganz unschuldig.

»Richard hat einen Sohn?«

»Wußten Sie das nicht?«

»Seine Bescheidenheit geht sehr weit,« sagte Lady Judith und machte vor Richards Vaterwürde ein leichtes Kompliment.

Richards Herz schlug mächtig. Er blickte Austin wieder an. Für Austin war die Sache so selbstverständlich, daß er nichts mehr darüber sagte.

»Nein, aber,« murmelte Lady Judith.

Als die beiden Männer allein waren, sagte Richard in raschem Ton: »Austin! war das dein Ernst?«

»Du wußtest es nicht, Richard?«

»Nein.«

»Aber sie haben dir doch alle geschrieben. Lucy hat 629 an dich geschrieben, dein Vater, deine Tante. Ich glaube, selbst Adrian schrieb.«

»Ich habe alle ihre Briefe zerrissen,« sagte Richard.

»Er ist ein feiner Bursche, kann ich dir sagen. Du brauchst dich seiner nicht zu schämen. Er wird bald so weit sein, daß er nach dir fragt. Ich war überzeugt, daß du es wüßtest.«

»Nein, ich wußte es nicht.« Richard trat von ihm fort und sagte dann: »Wie sieht er aus?«

»Nun, er ist dir ziemlich ähnlich, aber er hat die Augen seiner Mutter.«

»Und sie ist –«

»Ja, ich denke, das Kind hat sie aufrecht erhalten.«

»Sie sind beide in Raynham?«

»Ja, beide.«

Fort mit den phantastischen Grillen! Was sind sie im Vergleich hierzu! Wo bleiben die Träume des Helden, wenn er erfährt, daß er ein Kind hat? Die Natur nimmt ihn an ihr Herz. Sie spricht sofort zu ihm. Jeder Bauer, der zwischen diesen Hügeln wohnt, kann sich dessen rühmen, und doch erscheinen dem Helden keine seiner visionären Wundertaten staunenswerter als diese höchst einfache Sache. Ein Vater? Richard starrte vor sich hin, als ob er versuchen wollte, sich die Gesichtszüge seines Kindes vorzustellen.

Er sagte Austin, daß er nach wenigen Minuten zurück sein würde, ging hinaus und ging weiter und weiter. »Ein Vater!« wiederholte er immer wieder vor sich hin: »ein Kind!« Und obgleich er sich dessen nicht bewußt war, berührte er damit die Grundtöne der Natur. Aber das wußte er, daß eine wunderbare Harmonie plötzlich sein ganzes Wesen erfüllte.

Der Mond schien ungewöhnlich hell; die Sonnenluft war still und schwer. Er verließ die Straße und drang 630 in den Wald ein. Sein Gang war rasch; die Blätter der Bäume streiften seine Wangen; die welken Blätter, die sich auf dem Waldboden aufgehäuft hatten, raschelten unter seinen Füßen. Eine fromme Freude – ein seltsam, heiliges Entzücken war in ihm. Allmählich schwand dieses Gefühl; er besann sich auf sich selbst, und nun überfiel ihn ein ebenso starker Schmerz. Ein Vater! er durfte niemals wagen, sein Kind zu sehen. Und er konnte sich nicht länger durch seine Phantasiegebilde aufrecht halten. Seine Sünde lag kahl vor ihm. In seinem beunruhigten Gemüte war es ihm, als sähe Klara auf ihn herab – Klara, die wußte, wie er war; und in deren Augen es eine Schmach sein würde, wenn er hinginge und es wagen würde, einen Kuß auf die Lippen seines Kindes zu drücken. Dann folgte ein finsteres Bemühen, sein Elend zu bekämpfen und die Nerven seines Antlitzes in Eisen zu verwandeln.

An dem Stamme eines alten Baumes, der halb in den dürren Blättern vergangner Sommer begraben war, neben einem Bache, machte er Halt, wie einer, der das Ziel seiner Reise erreicht hat. Da entdeckte er, daß er in Lady Judiths kleinem Hunde einen Gefährten hatte. Er streichelte das kleine Tier, um ihm zu zeigen, daß er es erkannte, und beide schwiegen in dem Schweigen des Waldes.

Es war Richard unmöglich zurückzukehren, sein Herz war übervoll. Er mußte vorwärts und weiter ging er, der kleine Hund mit ihm.

Eine drückende Stille hing über den Zweigen der Bäume. In den Tälern und auf den Hügeln lag dieselbe lähmende Hitze. Hier, wo der Bach murmelte, war es kein Ton von kühlen Lippen, sondern metallisch und ohne den Geist des Wassers. Dort weiter im Mondlicht auf dem üppigen Gras waren die Strahlen wie weißes 631 Feuer für Blick und Gefühl. Kein Nebel breitete sich in der Runde. Die Täler lagen klar, genau umgrenzt durch die Schatten ihrer Ränder; die Ferne scharf und hell, die Farben des Tages nur sanft gedämpft. Richard sah ein Reh, das einen Rasenabhang hinabging, weit außer Schußweite. Die atemlose Stille war bedeutungsvoll, doch der Mond schien aus breitem, blauem Himmel. Mit der Zunge aus dem Munde trabte der kleine Hund hinter ihm her; legte sich keuchend nieder, wenn er einen Augenblick innehielt; stand müde wieder auf, wenn er weiterging. Dann und wann flog ein großer weißer Nachtfalter durch die Dunkelheit des Waldes.

Auf einer kahlen Ecke des waldbewachsenen Hügellandes standen, mit dem Blick ins Land gerichtet, graue, turmlose Ruinen in Nesseln und üppigem Gras. Richard setzte sich mechanisch nieder auf die bröckelnden Steine, um zu ruhen, und lauschte auf das Keuchen des Hundes. Zu seinen Füßen verstreut waren funkelnde Lichter; Hunderte von Glühwürmchen bedeckten den dunkeln, trocknen Boden.

Er saß und blickte auf sie und dachte nicht mehr. Seine Kraft war durch die körperliche Anstrengung erschöpft. Er saß wie ein Teil der Ruinen und der Schatten des Mondes zog von Süden nach Westen hin. Über dem sinkenden Monde sammelten sich in der Höhe unmerklich lange Streifen krauser, silberner Wolken. Sie waren die Vorläufer eines Sturmes. Er beachtete sie nicht, auch nicht das beginnende leise Flüstern der Blätter. Als er seinen Weg wieder aufnahm, dem Rhein entgegen, schien sich ein großer Berg grade über ihm zu erheben, und er hatte es im Sinn ihn zu erklimmen. Aber wie kräftig er auch ausschritt, er kam dem Fuße des Berges nicht näher. Der Boden senkte sich vor ihm, er verlor den Anblick des Himmels. Dann trafen schwere 632 Gewittertropfen seine Wangen, die Blätter rauschten, die Erde atmete auf, es wurde schwarz vor ihm und hinter ihm. Plötzlich sprach der Donner. Der Berg, den er gesehen hatte, öffnete sich über ihm.

Aufflammte der ganze Wald in violettem Feuer. Er sah über der Landschaft am Fuße des Hügels bis zum Rhein hin ein zitterndes Licht aufglühen und verlöschen. Dann trat eine Pause ein und jeder Blitz schien wie das Auge des Himmels und jeder Donner wie die Stimme des Himmels und beide sprachen zu ihm, erfüllten ihn mit staunendem Entzücken. Allein hier – das einzige menschliche Wesen in der geheimnisvollen Erhabenheit des Sturmes – fühlte er sich als der Vertreter seiner Art und sein Geist erhob sich und blickte vorwärts und frohlockte, mochte er zur Seligkeit geführt werden oder zum Verderben! Tiefer unten rollte in den vom Blitz erleuchteten Abgründen das zornige Getöse. Weiße Lichtstrahlen schossen von dem Himmel, große Farnkräuter, die einen Augenblick in dem blassen Licht erschienen, wurden von einer unnatürlichen Bewegung ergriffen und verschwanden. Dann sauste ein schriller Ton durch Laub und Gräser. Länger und lauter tönte er, während tiefer und schwerer der Regen herniederrauschte. Mächtige Wassermassen löschten den Durst der Erde. Selbst hierin empfand Richard, der schon von dem ersten Guß bis auf die Haut durchnäßt worden war, eine wilde Freude. Da er in Bewegung blieb, wurde er sich kaum der Nässe bewußt, und das dankbare Aufatmen des Laubes wehte ihn erfrischend an. Plötzlich hielt er an und sog neugierig den Duft ein. Es kam ihm vor, als hätte er Wiesenspiräa gerochen. Er hatte die Blume niemals im Rheinlande gesehen – niemals daran gedacht, und er konnte kaum erwarten, sie hier im Walde zu finden. Er war überzeugt, es mußte der Duft der frisch betauten 633 Blume sein. Sein kleiner Gefährte wedelte mit seinem nassen Schwanze eine kleine Strecke vor ihm her. Er ging langsam, in unklaren Gedanken. Nach zwei oder drei Schritten bückte er sich nieder und streckte die Hand aus, um nach der Blume zu tasten, denn er empfand, er wußte nicht weshalb, den lebhaften Wunsch sich davon zu überzeugen, daß sie hier wüchse. Umhertastend traf seine Hand auf etwas Warmes, das bei seiner Berührung zurückzuckte, und mit natürlichem Instinkt griff er danach und hob es auf, um es zu betrachten. Das Geschöpf war sehr klein, augenscheinlich sehr jung. Richards Augen hatten sich jetzt an die Dunkelheit gewöhnt und er war imstande zu erkennen, was es war, ein winziges, junges Häschen. Vermutlich hatte der Hund die Mutter verscheucht, kurz ehe er es fand. Er schob das kleine Ding mit der Hand in seine Brust und ging schnell weiter.

Es hatte sich jetzt fest eingeregnet. Von jedem Baume strömte eine Quelle hernieder. Sein Gemüt war so ruhig und leicht geworden, daß er darüber nachsinnen konnte, wie die Vögel wohl Schutz finden mochten, und wie wohl die Schmetterlinge und Nachtfalter ihre bunten Flügel vor der Nässe bewahrten. Sie mochten festzusammengefaltet unter einem Blatte hängen, überlegte er. Liebevoll blickte er in die triefende Dunkelheit des Dickichts zu beiden Seiten, als wenn er zu den Geschöpfen des Waldes gehörte. Dann mußte er über ein wunderbares Gefühl nachdenken, das er empfand. Es lief seinen Arm hinauf mit einem unbeschreiblichen Zucken, ließ aber sein Herz unberührt. Es war ein rein physisches Gefühl, hörte eine Zeitlang auf, fing dann wieder an, bis es sein ganzes Blut wunderbar durchbebte. Es wurde ihm klar, daß das kleine Geschöpf, das er an seiner Brust trug, seine Hand leckte. Die kleine, rauhe Zunge, die immer wieder über seine Handfläche strich, verursachte dies seltsame 634 Gefühl. Nun, da er die Ursache kannte, erschien es ihm nicht länger wunderbar, und nun, da er die Ursache kannte, wurde sein Herz davon berührt und empfand mehr dabei. Das sanfte Lecken wurde ununterbrochen fortgesetzt, während er wanderte. Was sagte es ihm? Eine menschliche Zunge hätte ihm in diesem Augenblick nicht so viel zu sagen vermocht.

Ein blasses, graues Licht am Rande der fliehenden Sturmwolken kündeten die Morgendämmerung an. Richard ging mit schnellen Schritten. Die grünen, aufgeweichten Kräuter lagen auf seinem Pfade schwer herniedergedrückt, die Zweige der Bäume hingen glitzernd nieder. Vorwärts getrieben wie ein Mann, der fühlt, wie eine Offenbarung dunkel in seinem Hirne aufsteigt, ging Richard an einer der kleinen Waldkapellen vorbei, in denen Gedächtniskränze hängen und bei denen der Bauer anhält, um zu knien und zu beten. Kalt und still stand die Kapelle im Zwielicht, Regentropfen fielen klatschend um sie herum. Er blickte hinein und sah die Jungfrau mit dem Kinde. Er ging weiter. Aber er war noch nicht viele Schritte gegangen, als ihn seine Kraft verließ und ein Schauder ihn überlief. Was war es? Er fragte nicht. Er hatte sich in andere Hände gegeben. Lebensvoll wie der Blitz hatte das Licht des Lebens ihn erleuchtet. Er fühlte in seinem Herzen den Schrei seines Kindes, die Berührung seiner Geliebten. Mit geschlossenen Augen sah er sie beide. Sie zogen ihn aus der Tiefe empor. Sie führten ihn, einen blinden, schwankenden Mann. Und wie sie ihn führten, empfand er das Gefühl der Reinigung, so süß, daß er wieder und wieder zusammenschauerte.

Als er von seiner Verzauberung auf die atmende Welt blickte, hüpften und zirpten die kleinen Vögel: warmes frisches Sonnenlicht lag auf allen Hügeln. Er war 635 am Rande des Waldes und trat in eine Ebne voll reifenden Kornes unter einem hochgewölbten Morgenhimmel.

 


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