George Meredith
Richard Feverel
George Meredith

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Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Eine Krisis in der Apfelkrankheit.

Die Nacht war hereingebrochen, als Richard den von alten Ulmen beschatteten, grasigen Pfad erreicht hatte, der von Raynham nach Belthorpe hinabführt. Das blasse Licht der Abenddämmerung war dahin. Der Wind 239 hatte die im Westen ruhenden Wolken aufgejagt, die nun breit und düster über den Himmel dahinflogen, breit und erfrischend wie keuchende Renner vor den rollenden Rädern des Südwests. Als er sich dem Bauernhof näherte, schlug sein unruhiges Herz in schnelleren Schlägen. Er war sicher, sie mußte da sein. Sie mußte zurückgekehrt sein. Warum sollte sie für immer fortgegangen sein, ohne ihm zu schreiben?

Er packte den Argwohn bei der Gurgel und erstickte seine Stimme, wenn er sprechen wollte, er brachte die Vernunft zum Schweigen. Daß sie ihm nicht geschrieben hatte, war ein Beweis davon, daß sie zurückgekehrt war. Er hörte auf nichts, als seine gebieterische, fordernde Leidenschaft, flüsterte seiner Liebsten süße Worte zu, als ob sie ihm nahe wäre: sanfte, zärtliche Ausdrücke, süße Liebesworte unschuldiger Vögel. Sie war da, – irgend wo in dem lieben alten Hause schwebte sie umher wie eine lichte Flamme und erfüllte ihre lieblichen häuslichen Pflichten. Sein Blut fing an zu singen: Ach die Glücklichen da drinnen, die sie sehen, die um sie sind! Auf wunderbare Weise brachte er es fertig, selbst die plumpe Person des Farmers Blaize mit einem Glorienschein zu umgeben. Und ach! wenn man mit einem Engel zusammenlebt, muß man dann nicht auch die Segnungen eines Engels an sich erfahren und mußte man nicht auch den jungen Tom beneiden? Der Duft der herbstlichen Clematis, vom Winde zu ihm getragen, umwehte ihn, erfüllte sein Gehirn und ließ das alte rote Ziegelhaus in einem neuen Licht erscheinen, denn er erinnerte sich, wo die Clematis wuchs, und an den Winterrosenbaum und den Jasmin und die Passionsblume, an den Garten vor dem Hause mit den hochstämmigen Rosen, die von ihrer Hand gepflegt wurden, an die lange Mauer zur Linken, mit den überhängenden Zweigen des Kirschbaums, an den Blick 240 über die Mauer nach dem weiteren Garten und an den Obstgarten und die Felder dahinter – an den ganzen glücklichen Umkreis ihres Wohnortes! es leuchtete alles vor seinen Augen auf, während er in die Dunkelheit blickte.

Und doch war es das Gegenteil der Hoffnung, welches dieses Licht entzündete und die vorübergehende Ruhe erzeugte, die er empfand, es war die Verzweiflung, die die Täuschung bis zum äußersten trieb und eigensinnig auf grundloser Basis baute. »Denn die Zähigkeit wahrer Leidenschaft ist furchtbar,« sagt das Manuskript des Pilgers: »sie stellt sich eher den Heerscharen des Himmels, Gottes großer Heeresmacht der Tatsachen entgegen, als daß sie ihr Ziel aufgibt, und wird sich nicht unterwerfen, so lange sie nicht zermalmt und in den tiefsten Abgrund geworfen ist!« Er wußte, daß sie nicht da war, daß sie fort war. Aber die Kraft des Willens kämpfte bis zum Wahnsinn angespannt dagegen, hielt den Gedanken nieder, beschwor ihren Geist herauf, und bestand darauf, daß alles so war, wie er es wollte. Armer Jüngling! die große Heeresmacht der Tatsachen war in voller Marschordnung.

Er hatte verschiedene Male ihren Namen ausgesprochen und einmal überlaut; es war fast ein Schrei nach ihr, der ihm entschlüpfte. Er hatte nicht das Öffnen einer Türe bemerkt und das Geräusch eines Schrittes auf dem Kieswege. Er lehnte sich über Kassandras unruhigen Hals und beobachtete mit scharfem Blick nur das eine Fenster, als eine Stimme aus der Dunkelheit ihn anredete.

»Sind Sie das, junger Herr? – Mr. Fev'rel?«

Der Zauber, der Richard umfing, war gebrochen.

»Mr. Blaize!« sagte er, als er die Stimme des Bauern erkannte.

»Guten Abend, Herr,« erwiderte der Bauer. »Ich 241 erkannte das Pferd, wenn ich Sie auch nicht erkannte. Es ist ziemlich rauh, heut abend, was? Wollen Sie nicht eintreten, Mr. Fev'rel? es fängt an zu sprühen – es wird 'ne stürmische Nacht werden, glaub' ich.«

Richard stieg ab. Der Bauer rief einen seiner Leute heran, das Pferd zu halten und führte den jungen Mann herein. Sobald er einmal drin war, hörten die Erscheinungen auf. Es herrschte eine Totenstille in dem Zimmer und auf dem Korridor, die deutlich von ihrem Fernsein sprach. Die Mauern, die er berührte – das waren nur die leeren Schalen. Seit er sie kannte, war er nicht mehr in dem Hause gewesen, und nun, welch seltsam süßes Gefühl umfing ihn und welche Schmerzen!

Der junge Tom Blaize war im Wohnzimmer, lag breit über den Tisch gelehnt und betrachtete mit offnem Munde ein altes Journal mit Sommermoden aus der Jugendzeit seiner Mutter. Der junge Tom studierte ehrfurchtsvoll die strahlenden Schönheiten der vornehmen Welt. Auch er war ein Sklave der Frauen, war es erst neuerdings geworden, und war voller Staunen.

»Was, Tom!« rief der Farmer sobald er die Tür geöffnet hatte, »wieder bei deiner Modenzeitung, wirklich wieder? Was hast du nur von den Moden, möchte ich wirklich wissen? Komm, hör auf, und geh und sieh nach Mr. Fev'rels Stute. Er ist jetzt immer hinter der Modenzeitung her. Solche Narrheiten! Und da rede noch einer von schönen Stellungen!«

Der Farmer preßte lachend seine dicken Hüften in einen Sorgstuhl und nötigte seinen Gast zum sitzen.

»Es ist noch ein Trost, daß es meist weibliche Wesen sind,« fuhr er fort und schlug sich klatschend aufs Knie, während er sich behaglich in seinem Stuhl zurechtsetzte. »Es kommt ja nicht viel darauf an, was die tun, außer daß sie sich schnüren und sich Wespentaillen machen. Zeigen 242 Sie mir Natur, sage ich – eine Frau, wie sie geschaffen wurde! nicht wahr, junger Herr?«

»Sie scheinen hier sehr einsam,« sagte Richard, sah sich im Zimmer um und sah zur Decke auf.

»Einsam?« sagte der Farmer. »Na, das sind wir wohl, grade jetzt trifft's sich so, ich habe meine Pfeife, und Tom hat seine Modenzeitung. Er sitzt an einer Seite des Tisches und ich an der andern. Er starrt auf seine Bilder und ich sehe so vor mich hin. Wir sind ein bißchen einsam. Aber sehen Sie – es ist doch zum besten!«

Richard fuhr weiter fort: »Ich hatte kaum darauf gerechnet, Sie heut abend zu sehen, Mr. Blaize.«

»Sie haben sich wie ein Mann benommen, dadurch daß Sie kamen, junger Herr, und ich ehre Sie dafür,« sagte Farmer Blaize mit plötzlicher Energie ganz geradezu.

Was unter Farmer Blaizes Worten verborgen war, ließ Richards Atem schneller gehen. Sie sahen einander an und sahen wieder fort; der Bauer trommelte auf der Armlehne seines Stuhles.

Über dem Kaminsims, umgeben von verblichenen, unbedeutenden Miniaturbildern wohlhabender Bauern früherer Generationen, die sich mit ihren hohen Kragen sehr viel Mühe gaben nicht zu grinsen, und hochgeschnürten alten Damen, die aus ihren vielfach gefältelten Hauben ermutigend heraus lächelten, hing ein ziemlich gut ausgeführtes Porträt in halber Figur von einem Marineoffizier in Uniform, mit einem Fernglas unter dem linken Arm, bei dem es deutlich zu erkennen war, daß er nicht zu dieser Verwandtschaft gehörte. Seine Augen waren blau, seine Haare blond, seine Haltung zeigte den Mann, der wohl wußte, wie er Kopf und Schultern zu tragen hätte. Der Künstler, der ihm die Epauletten gemalt hatte, die seinen Rang bezeichneten, wollte auch zeigen, wie jugendlich ein Mann in der Marine noch aussehen 243 kann, nachdem er zu solch einer Stellung gelangt ist, und hatte ihn mit glatten Wangen und frischen roten Lippen gemalt. Auf dieses Bild richteten sich Richards Blicke. Farmer Blaize bemerkte es und sagte:

»Ihr Vater, Herr!«

Richard dämpfte seine Stimme, um die Ähnlichkeit zu loben.

»Ja,« sagte der Bauer, »ziemlich gut. Es ist wenigstens etwas, wenn man sie nicht haben kann, aber natürlich lange nicht so gut!«

»Eine alte Familie, Mr. Blaize – nicht wahr?« fragte Richard in so gleichgültigem Ton, wie es ihm möglich war.

»Gute Familie – so viel noch von ihnen geblieben ist,« erwiderte der Farmer mit ebenso affektierter Gleichgültigkeit.

»Und das ist ihr Vater?« sagte Richard jetzt kühn genug, um von ihr zu sprechen.

»Das ist ihr Vater, junger Herr.«

»Mr. Blaize,« Richard sah ihn voll an und platzte dann heraus: »Wo ist sie?«

»Fort, Herr, weggeschickt. Kann sie jetzt nicht hier haben.« Der Bauer trommelte noch schneller auf der Lehne des Stuhles und sah entschlossen in das aufgeregte Gesicht des jungen Mannes.

»Mr. Blaize,« Richard lehnte sich vor, um ihm näher zu kommen. Er war ganz benommen und wußte kaum, was er sagte oder tat. »Wo ist sie hingegangen? Warum ist sie fortgegangen?«

»Das brauchen Sie doch nicht zu fragen, Herr! Sie wissen es doch,« sagte der Bauer, den Kopf zur Seite werfend.

»Aber sie ging doch nicht – es war doch nicht ihr Wunsch fortzugehen?«

244 »Nein! ich denke, sie ist gerne hier. Vielleicht zu gerne!«

»Warum haben Sie sie fortgeschickt und unglücklich gemacht? Mr. Blaize.«

Der Bauer bestritt gerade heraus, daß er derjenige wäre, der sie unglücklich machte.

»Niemand kann mich anklagen. Ich werde Ihnen was sagen, Herr. Ich will nicht, daß sich die Klatschzungen ihretwegen in Bewegung setzen, das ist die Sache. So werden Sie und ich uns schon miteinander verständigen.«

In ferner blinden Neigung, sich beleidigt zu fühlen, richtete Richard sich gerade auf. Aber im nächsten Augenblick hatte er es schon wieder vergessen und sagte demütig:

»Bin ich die Veranlassung ihres Fortgehens?«

»Nun!« erwiderte der Farmer, »wenn wir gerade heraus sprechen wollen – das sind Sie!«

»Was kann ich tun, Mr. Blaize, daß sie wieder zurückkommen darf?« fragte der junge Heuchler.

»Nun,« sagte Mr. Blaize, »kommen Sie zur Sache. Ich freue mich, daß Sie so vernünftig sprechen, Mr. Fev'rel. Sie können sich wohl denken, wie sie mir fehlt. Es ist gar nicht dasselbe Haus, nun da sie fort ist, und ich bin auch nicht der Alte. Also, Herr! Eins können Sie tun. Wenn Sie mir versprechen, sich ganz und gar nicht mit ihr einzulassen – ich kann es nicht verstehen, wie Sie überhaupt bekannt geworden sind – wenn Sie nicht versuchen wollen, sie zu bereden, sich mit Ihnen zu treffen – und wenn Sie sie gesehen hätten, wie sie fortging, würden Sie es wohl versprechen – wann trafen Sie sich eigentlich? – im letzten Herbst, nicht wahr? – dann würden Sie wohl als Mann von Ehre versprechen, ihr nicht zu schreiben und hinter ihr her zu spionieren – und dann werde ich sie sofort zurückholen. Dann soll sie zurückkommen.«

»Aufgeben soll ich sie!« rief Richard.

»Ja, das ist es!« sagte der Bauer. »Geben Sie sie auf.«

245 Der junge Mann hielt an sich, um nicht das »Niemals« auszusprechen, das auf seinen Lippen schwebte.

»Sie haben sie also fortgeschickt, um sie vor mir zu schützen?« sagte er zornig.

»Es ist nicht ganz so, aber es mag genügen,« erwiderte der Bauer.

»Glauben Sie denn, daß ich ihr schaden könnte, Herr?«

»Die Leute scheinen zu denken, daß sie Ihnen schaden könnte, junger Herr,« sagte der Bauer etwas ironisch.

»Mir schaden – sie? Wer sagt das?«

»Leute, die Ihnen recht nahe stehen, Herr!«

»Was für Leute? Wer hat von uns gesprochen?«

Richard fing an, ein Komplott zu spüren, und wollte sich seine Beute nicht entgehen lassen.

»Ja, sehen Sie mal, Herr,« sagte der Bauer. »Es ist kein Geheimnis und wenn es auch eins wäre, ich sehe nicht ein, weshalb ich es bewahren sollte. Es scheint, daß Ihre Erziehung sonderbar ist!« Der Farmer zog das Wort so lang aus, als ob er die Figur einer Schlange beschreiben wollte. »Sie sollen nicht so werden, wie andere junge Herren. Um so besser! Sie sind ein schöner, forscher junger Herr, und Ihr Vater hat das Recht, stolz auf Sie zu sein. Er hört also – und ich bin ihm sicherlich dankbar dafür – er hört von Ihnen und Luce, und natürlich will er nichts davon wissen – ich wahrhaftig auch nicht. Darin verstehen wir uns. Ich will gar nichts davon wissen. Sie ist mein Mädel. Man hat sie meinem Schutz überlassen. Und sie ist eine Dame, Herr. Das kann ich Ihnen sagen, Sie werden nicht viele finden, auf die so gut aufgepaßt wird, wie auf sie – auf meine Luce. Also, Mr. Fev'rel, entweder Sie oder Luce, einer von Ihnen muß aus dem Wege geräumt werden. Das hat man uns gesagt. Und was Luce anbetrifft – na, ich glaube, sie ist ebenso besorgt um Ihre Erziehung, wie Ihr Vater – sie hat gesagt, sie 246 wird gehen und wird nicht schreiben und wird alles abbrechen, um Ihrer Erziehung willen. Und sie hat ihr Wort gehalten, nicht wahr? – Man kann sich auf sie verlassen. Was sie sagt, das tut sie! – Treu wie Gold ist meine Luce. Und nun, Herr, machen Sie es ebenso, und ich werde Ihnen dankbar sein.«

Jeder, der jemals ein Blatt Papier in das Feuer geworfen hat und gesehen hat, wie die Hitze es allmählich bräunte, bis es zur Flamme aufloderte, kann sich den Zustand des Liebenden vorstellen, als er dieser Rede zuhörte.

Sein Zorn machte sich nicht in Worten Luft, sondern verhärtete sich und grub sich tief ein. »Mr. Blaize,« sagte er, »das war sehr freundlich von den Leuten, auf die Sie anspielten, aber ich bin in einem Alter, in dem ich für mich selbst denken und handeln kann. – Ich liebe sie, Herr!« Sein ganzer Ausdruck veränderte sich und die Muskeln seines Gesichtes bebten.

»Gewiß!« sagte der Bauer besänftigend, »das tun wir alle in Ihrem Alter, die eine oder die andere. Das ist nur natürlich!«

»Ich liebe sie!« brach der junge Mann von neuem los, zu sehr von seiner Leidenschaft erfaßt, als daß er ein Gefühl der Scham bei seinem Geständnis hätte empfinden sollen. »Mr. Blaize!« seine Stimme sank zur Bitte herab. »Wollen Sie sie zurückholen?«

Farmer Blaize machte ein wunderliches Gesicht. Was verlangte er denn? und wo blieb das geforderte Versprechen? Aber war des Liebenden Beweisführung nicht überzeugend. Er hatte doch gesagt, daß er sie liebe. Und er konnte nicht einsehen, warum ihr Onkel nicht infolgedessen sofort nach ihr schickte, damit sie zusammen sein könnten. Das wäre ja alles ganz schön, meinte der Bauer, aber was denn daraus werden sollte? Was daraus werden 247 sollte? Nun Liebe und immer mehr Liebe! Und etwas zu viel davon! fügte der Bauer grimmig hinzu.

»Sie weisen mich also ab, Mr. Blaize,« sagte Richard. »Dann sind Sie es also, der sie mir fern hält, nicht diese – – diese Leute. Sie wollen sie nicht zurück haben, obgleich ich Ihnen sage, daß ich sie mehr liebe, als mein Leben?«

Farmer Blaize mußte ihm jetzt offen sagen, daß er eigene Gründe und Einwendungen dagegen habe, und daß ihr Ruf auf dem Spiel stände, und Gott mochte wissen, ob sie nicht vielleicht selbst in Gefahr wäre. Er sprach mit freundlicher Offenheit, nicht ohne Würde. Er sprach voller Anerkennung von Richard selbst, aber junge Leute wären eben junge Leute, und Barons-Söhne hätten nicht die Gewohnheit, die Nichten von Bauern zu heiraten.

Zuerst konnte der Sohn des Systems ihn nicht verstehen. Als er ihn verstand, sagte er: »Mr. Blaize! wenn ich Ihnen mein Ehrenwort gebe, so wahr ich auf den Himmel hoffe, sie zu heiraten, sobald ich mündig werde, werden Sie sie dann zurückholen?«

Er glühte so vor Eifer, daß der Bauer vor so viel Feuer nur zweifelnd den Kopf schüttelte und in sich zusammensank. Richard griff auf diesen Anzeichen das auf, was ihm wie ein Funke von Ermutigung schien, und bemerkte: »Es ist also nicht, weil Sie etwas gegen mich haben, Mr. Blaize?«

Der Farmer bedeutete ihn, daß es das nicht wäre.

»Dann ist es, weil mein Vater gegen mich ist,« fuhr Richard fort, und versuchte es ihm zu beweisen, daß die Liebe eine so heilige Sache wäre, daß kein Vater vollständig und für immer der Neigung seines Sohnes widerstehen könne. Da der Bauer ihm auf dem kühlen Gebiete der Beweisführung gewachsen war, stürzte sich der junge Mann in kopfloser Hast in das Fahrwasser der Leidenschaft. 248 Er entwarf Bilder von Lucy, von ihrer und seiner Treue. Er machte Sprünge vom Leben zum Tode, vom Tode zum Leben, mischte Beschwörungen und Bitten in einen Wirbelsturm. Vielleicht rührte er den törichten alten Bauern ein wenig, er war so stürmisch und brachte so sichtbar seinen Stolz zum Opfer.

Farmer Blaize versuchte ihn zu beruhigen, aber es war vergebens. Er wollte und mußte sein Juwel erlangen.

Der Bauer streckte seine Hand nach der Pfeife aus, nach dieser Trösterin in jeder Verlegenheit. »Jetzt darf ich hier rauchen,« sagte er, »nicht wenn – wenn jemand da ist. Rauche dann in der Küche. Ihnen ist der Rauch nicht unangenehm?«

Richard nickte nur und beobachtete, wie der Bauer stopfte und anzündete und zu paffen anfing, als ob von diesen Vorgängen sein Schicksal abhinge.

»Wer hätte gedacht, als Sie damals da drüben saßen, daß es dazu kommen könnte?« rief der Bauer, der nun aus dem Tabak Behagen und Überlegung sog. »Damals hielten Sie nicht viel von ihr, junger Herr! Ich machte Sie miteinander bekannt. Ja! es ändert sich manches. Können Sie denn nicht warten bis zu der Zeit, wo sie so wie so zurückkommt?«

Dieser Vorschlag, das Resultat der Pfeife, brachte nur einen neuen Sturm auf ihn herab.

»Es ist doch sonderbar,« sagte der Bauer und legte das Mundstück seiner Pfeife an seine runzligen Schläfe.

Richard wartete. Dann legte der Bauer die Pfeife ganz fort, da sie ihm in seiner schwierigen Lage doch nichts nützen konnte, und sagte, nachdem er seinen Arm auf den Tisch gestützt und Richard einen Augenblick angestarrt hatte:

»Sehen Sie, junger Herr! Ich habe mein Wort 249 gegeben. Ich hab's versprochen. Ich habe denen da die Versicherung gegeben, daß sie bis zum Frühling nicht zurückkommen soll, und dann will ich sie zurück haben und dann – na! ich hoffe aus mehr als einem Grunde, daß Sie dann beide vernünftiger sein werden – ich habe meine eignen Absichten mit ihr. Aber ich bin nicht der Mann, der ein Mädel zwingt, gegen ihre Neigung zu heiraten. Verlassen Sie sich darauf, Mr. Feverel, ich bin nicht Ihr Feind. Sie sind ganz dazu geeignet, ein junges Mädel stolz zu machen. So warten Sie doch ab – und sehen Sie zu. Das ist mein Rat. Nehmen Sie den an und warten Sie. Mehr habe ich nicht zu sagen.«

Bei Richards ungestümem Wesen fürchtete er von den Plänen zu sprechen, die er für das Glück des jungen Tom hegte, wenn diese Pläne überhaupt ernsthaft waren.

Der Bauer wiederholte, daß er nichts mehr zu sagen habe, und Richard stand auf, um sich zu verabschieden, während: »Warten bis zum Frühjahr! Warten bis zum Frühjahr!« verzweiflungsvoll in seinen Ohren tönte. Farmer Blaize schüttelte seine schlaff herabhängende Hand in freundlichster Weise und rief an der Türe nach dem jungen Tom, der aber weitere Anspielungen auf die Modenzeitung fürchtete und nicht erschien. Auf dem Korridor lief ein Mädchen an Richard vorbei und ließ etwas in seine Hand gleiten, was er nur gerade fühlte und unbewußt festhielt. Das Pferd wurde von dem Kampfhahn vorgeführt. Ein leichter Regen fiel herab, ein starker, warmer Wind wehte und die Bäume rauschten laut in der Nacht. Vor der Türe bat Farmer Blaize Richard, ihm die Hand zu geben und zu sagen, daß nun alles gut wäre. Der junge Mann gefiel ihm in seiner Ernsthaftigkeit und ehrlichen Offenheit.

Richard konnte nicht sagen, daß nun alles gut wäre, aber er gab dem Bauern die Hand und drückte sie fest, als er Kassandra bestieg und in das wilde Wetter hinausritt.

250 Eine ruhige, klare Dämmerung folgte dem tobenden Weststurm und warf ihr rötlich graues Abbild auf den Spiegel des Schloßteiches. Vor Sonnenaufgang war Tom Bakewell unterwegs und traf den verloren gegangenen Jüngling, seinen Herrn, wie er auf dem Lobourner Parkwege langsam auf Kassandra dahintrabte, ein trauriges Paar. Kassandras Flanken waren mit Kot bespritzt, sie ließ den Kopf hängen, diese wilde Nacht hatte ihr alle Lebenskraft genommen. Auf welchen Heiden und schwerem Brachland hatte er nicht ihre edle Kraft verbraucht in planlosem Jagen durch die Dunkelheit.

»Nimm das Pferd,« sagte Richard, stieg ab und streichelte Kassandra zwischen den Augen. »Sie hat genug bekommen, das arme alte Tier! Sorge für sie, Tom, und denn komm in mein Zimmer.«

Tom fragte nichts weiter.

Drei Tage darauf war Richards Geburtstag.

Tom war verschwiegen, aber man hatte von dem Zustand des Pferdes gehört und von der sonderbaren Laune des jungen Herrn, die ganze Nacht herumzureiten und war daher auf den gewöhnlichen unglücklichen Verlauf des Geburtstages vorbereitet, und die Unglückspropheten genossen ein trauriges Gefühl der Genugtuung. Sir Austin mußte Unangenehmes von seinem Sohne verlangen, er sollte Benson demütig um Verzeihung bitten, um das Blut fortzuwaschen, das er vergossen hatte, als er sein Pfund Fleisch nehmen wollte. Man hatte dem gewichtigen Benson gesagt, daß er diese Abbitte erwarten könne, und er übte sich nun in einem höchst christlichen, melancholischen Benehmen, das er bei dieser Gelegenheit zur Schau stellen wollte. Sir Austin überlegte aber, daß so lange sein Sohn in diesem Zustand war, er wohl kaum dazu gebracht werden könnte, das Tugendhafte einer solchen Handlung einzusehen und machte nicht den Versuch, 251 es von ihm zu verlangen. So fuhr der gewichtige Benson fort, als vorsintflutliche Karyatide in feierlicher Erwartung an den Türen und an dem Fuß der Treppen stehen zu bleiben, sobald er nur einen kleinen Vorsprung vor dem jungen Mann gewinnen konnte, während Richard ebenso gleichgültig an ihm vorbeiging, wie an jedem andern, mit gebeugtem Haupte und mit Füßen, die ihn nur trugen wie zufällige Werkzeuge, von denen er nichts wußte. Das gab Bensons blindem Glauben an seinen Herrn einen gewaltigen Stoß; und er fand auch keinen Trost in der philosophischen Erklärung: »Daß das Gute in einer starken, vielseitigen Natur langsamer wächst, als in andern sterblichen Dingen, und daß man nicht versuchen muß, es zu erzwingen.« Lehren von der Verdammung sagten Benson am meisten zu. Er war bereit zu verzeihen, wie es einem Christen zukommt, aber er verlangte, daß sein Feind vor ihm auf den Knieen läge. Sein vorsintflutliches Auge sah mehr, als alle andern Augen im Hause und sah auch, daß zwischen Tom und seinem Herren etwas vorging, was sehr störend für das System sein konnte. Da er aber seine Entschädigung nicht erhalten hatte, wünschte er nicht sich neuen Gefahren auszusetzen und verhielt sich ruhig.

Sir Austin erriet zum Teil, was in der Brust seines Sohnes vorging, ohne sich eine Vorstellung davon zu machen, was für ein tiefes Mißtrauen dieser gegen ihn hegte, oder ganz die Heftigkeit der Leidenschaft zu ermessen, die ihn verzehrte. Er war sehr sanft und freundlich mit ihm. Aber wie ein weiser Arzt, der trotz seiner Weisheit die, durch eine falsche Dosis veranlaßte, Wendung der Krankheit übersehen hat, erwog er seine Verordnungen sorgfältig und zuversichtlich, ganz überzeugt davon, daß er den Fall verstände und ihm gewachsen wäre. Er befahl, daß man Richards launenhaftes Benehmen unbeachtet lassen sollte. Zwei Tage vor dem 252 Geburtstage fragte er ihn, ob er etwas dagegen hätte, wenn Gäste eingeladen würden. Worauf Richard sagte: »Lade ein, wen du willst, Vater!« Demgemäß fing man an festliche Vorbereitungen zu treffen.

Am Vorabend des Geburtstages speiste er mit den andern. Lady Blandish war da und saß voller Schuldbewußtsein zu seiner Rechten. Hippias sagte eine Magenverstimmung voraus, die er von dem folgenden Tage erwartete. Die Großtante sprach davon, ob sie wohl noch einen Geburtstag erleben würde. Adrian trank auf das in zwei Jahren zu erwartende Ende seines Lehramtes, und Algernon sah eine Liste der Lobourner Männer durch, die sich morgen mit Bursley messen sollten. Sir Austin hörte auf jeden und hatte für jeden eine Antwort, war aber im Geiste nur mit seinem Sohne beschäftigt. Um Lady Blandish zu gefallen, wagte Adrian auch einige scherzhafte Bemerkungen über London und Mrs. Grandison. Bemerkungen, die ein ganz klein wenig unpassend waren, aber doch nur so wenig unpassend, daß es nicht anständig gewesen wäre, es zu bemerken.

Nach Tisch verließ Richard die andern. Man bemerkte nichts besonders Auffallendes in seinem Benehmen, außer dem ungewöhnlichen Glänzen seiner Augen, aber der Baron sagte: »Ja, ja, das wird vorübergehen.«

Er und Adrian und Lady Blandish tranken den Tee in der Bibiliothek und saßen bis zu einer späten Stunde in Diskussionen über allerlei Spitzfindigkeiten, die sich meistens auf die Apfelkrankheit bezogen. Eine Unterhaltung, die für den weisen Jüngling sehr amüsant war, da er die beiden keuschen Gemüter mit der Miene eines Mannes, der nur die Wahrheit sucht, auf allerhand zweifelhafte Situationen hinweisen und sie unerwartet dahin führen konnte, wo sie nicht mehr wagten, sich umzusehen. Der Aphorist hatte das Herz seiner schönen, getreuen 253 Verehrerin gerade durch einen neu geformten, wenn auch nicht ganz neu entstandenen Ausspruch entzückt, als sie bemerkten, daß ein Vierter im Zimmer war. Der gewichtige Benson stand hinter ihnen. Er behauptete angeklopft, aber keine Antwort erhalten zu haben. Sein Ausdruck zeigte einen Schatten von Überraschung und Verdruß, als er bemerkte, daß Adrian im Zimmer war, und als dieser Ausdruck schwand, trat an seine Stelle ein Zug matter Strenge.

»Nun, Benson? Was gibt's?« sagte der Baron.

Der Diener antwortete: »Bitte, Sir Austin – Mr. Richard!«

»Nun?«

»Er ist ausgegangen!«

»Nun?«

»Mit Bakewell!«

»Nun?«

»Und einer Reisetasche.«

In dieser Reisetasche lag, so hätte man sagen können, das wunderliche Ding: der beginnende Roman des jungen Helden.

Richard war fort, und mit einer Reisetasche, welche Tom Bakewell trug. Er war auf dem Wege nach Bellingham und eilte trotz des heftigen Regens vorwärts, wie ein entsprungener Gefangener, toll vor Freude, während Tom sich schüttelte und grunzte über all die Unruhe. Der Postzug sollte in Bellingham erreicht werden. Durch die Vermittlung von Miß Davenport wußte er jetzt, wo er sie finden konnte, und dorthin flog er, wie ein vom Bogen abgeschnellter Pfeil; dorthin, trotz Vätern und Freunden und Pläneschmieden, um sein Recht zu fordern, sie zu sich zu nehmen und sich mit ihr der ganzen Welt entgegenzustellen.

Sie waren beide durch und durch naß, als sie 254 Bellingham erreichten und Tom hatte Visionen von heißen Getränken. Er wies seinen Herrn auf die Notwendigkeit einer innerlichen Stärkung hin, worauf dieser nur antworten konnte: »Tom! Tom! morgen werde ich sie sehen!« – Es wäre sehr ungesund, so naß zu reisen, bemerkte Tom noch einmal, worauf nur derselbe sinnlose Ruf erfolgte, und noch obendrein sein Arm gepackt und wütend geschüttelt wurde. Als sie an dem ersten Wirtshaus des Ortes vorbeikamen, sprach Tom ganz deutlich von Branntwein.

»Nein,« rief Richard, »wir haben keinen Augenblick zu verlieren!« und während er das sagte, schwankte er und fiel gegen Tom und murmelte vor Schwäche nur undeutlich, daß sie keinen Augenblick zu verlieren hätten. Tom hob ihn in seinen Armen auf und drang in die Gaststube ein. Wirt und Wirtin rieten zu Branntwein als dem landesüblichen Getränk und zwangen es in seinen Mund, wodurch sie ihn so weit belebten, daß er ausrufen konnte: »Tom, die Glocke läutet, wir werden zu spät kommen,« darauf sank er bewußtlos auf dem Sofa zurück, auf das sie ihn gelegt hatten.

Die Erregung des Blutes und Gehirns hatte ihr Werk an ihm getan. Er duldete es, daß sie ihn entkleideten und zu Bett brachten, und da lag er nun und hatte sogar seine Liebe vergessen, ein geknicktes Rohr, fortgetragen von der Flut der Stunden. So fand ihn sein Vater.

Fühlte der wissenschaftlich gebildete Menschenkenner Gewissensbisse? Er hatte eine solche Krisis in der Krankheit seines Sohnes erwartet als den Punkt, an dem der Körper versagt und dem Geiste Ruhe läßt die Krankheit zu überwinden, denn er wußte wohl, daß der Same des Bösen nicht aus dem Geiste kam. Außerdem: ihn zu sehen und wieder zu haben, gab ihm ein Gefühl der Ruhe, 255 nachdem Benson so zum Alarm geblasen hatte. »Sie werden sehen,« sagte er zu Lady Blandish, »sobald er sich erholt, wird er sich nichts mehr aus ihr machen.«

Die Dame hatte ihn, sobald sie von Richards Anfall hörte, nach Bellingham begleitet.

»Was für ein eiserner Mann können Sie sein,« rief sie und unterdrückte ihre eigene Ansicht. Sie wäre dafür gewesen, dem Knaben sein Spielzeug zu geben; es ihm wenigstens zu versprechen, wenn er nur gesund würde und wieder die glänzende, hoffnungsvolle Blume von ehemals werden wollte.

»Können Sie ihn ansehen,« bat sie, »können Sie ihn ansehen und bei Ihrer Meinung beharren?«

Es war ein trauriger Anblick für diesen Mann, der seinen Sohn so innig liebte. Der Jüngling lag in einem fremden Bett, gerade ausgestreckt und bewegungslos, mit fiebernden Wangen und einem veränderten Ausdruck in den Augen.

Der alte Dr. Clifford von Lobourne war der medizinische Ratgeber, der mit Kopfschütteln und Zusammenziehen der Lippen und Hinweisungen auf altehrwürdige Erfahrungen alles zu tun versprach, was der Arzt in solchen Fällen tun könnte. Der alte Doktor gab zu, daß Richards Konstitution bewundernswert wäre und auf all seine Anordnungen reagierte wie das Instrument auf die Hand des Musikers. »Aber,« sagte er im Familienrate, denn Sir Austin hatte ihm erzählt, wie es mit dem jungen Mann stände, »Medizin kann in einem Falle dieser Art nicht viel tun. Veränderung! Das ist's, was nötig ist, und sobald wie möglich. Zerstreuungen! Er sollte die Welt kennen lernen und erfahren, woraus er gemacht ist. Ich weiß ja aber, daß mein Reden nichts nützt,« fügte der Doktor hinzu.

»Im Gegenteil,« sagte Sir Austin, »ich bin ganz 256 Ihrer Meinung. Und er soll die Welt sehen – jetzt soll er es.«

»Wir haben ihn, wie Sie wissen, Doktor, in den Styx getaucht,« bemerkte Adrian.

»Haben Sie aber schon einen ähnlichen Fall kennen gelernt?« fragte Lady Blandish.

»Noch nie, meine verehrte Frau,« antwortete der Doktor; »solche Fälle sind in diesem Teil des Landes nicht gewöhnlich. Die Landleute sind geistig ziemlich gesund.«

»Aber es sind doch Leute – und auch Landleute aus Liebe gestorben, Doktor?«

Der Doktor meinte, er hätte noch von keinem solchen Falle gehört.

»Meinen Sie Männer oder Frauen?« fragte der Baron.

Lady Blandish meinte, wohl meistens Frauen.

»Fragen Sie den Doktor, ob dieses geistig gesunde Frauen waren,« sagte der Baron. »Nein! Sie betrachten beide die Sache von der falschen Seite. Zwischen einem hochgebildeten Wesen und einem empfindungslosen Tier liegt ein großer Unterschied. Aber der Doktor kommt der Wahrheit näher als Sie. Die gesunde Natur ist ziemlich sicher. Er hätte vollkommen recht, wenn er dem Einfluß der Bildung Zugeständnisse machte. Zu fühlen und doch nicht im Übermaß zu fühlen, das ist das Problem.«

»Und kann es nicht die Eine sein,
So will ich eine andre frein«

summte Adrian, eine Zeile aus einem ländlichen Liede. 257

 


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