George Meredith
Richard Feverel
George Meredith

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Neununddreißigstes Kapitel.

Der kleine Vogel und der Falke: Berry zur Hilfe!

Zu einer Jahreszeit, wenn die liebliche Insel wenig Anziehendes hat und wenn nur Kranke und Einsiedler, die in Wind und Regen verliebt sind, noch dort verweilen, konnte sich der mächtige Edelmann Lord Mountfalcon noch immer nicht trennen, zum Ärger seiner Freunde und speziellen Parasiten. »Mit Mount ist wieder was los,« sagten sie untereinander. »Zum Teufel mit den Weibern!« folgte dann natürlich daraus. Denn man muß es doch einsehen, wie schändlich es von den Frauen ist, daß sie einen so leicht entzündlichen Gegenstand immer von neuem in Flammen versetzen! Sie begriffen alle, daß Cupido wieder einmal seinen Bogen hatte schwirren lassen und ein englischer Edelmann zum fünfzigstenmale getroffen worden war, aber keiner wollte begreifen, obgleich er es mit den glühendsten Schwüren beteuerte, daß es dieses Mal ganz anders wäre als früher. Das hatte er schon zu oft früher geschworen. Er war ein Mann, der immer ungeheuer wichtige Dinge zu sagen hatte, aber nicht die Sprache beherrschte, der sehr mitteilsam war, sich aber undeutlich ausdrückte. Gute, kräftige Flüche hatten früher seine edlen Gefühle umfassend ausgedrückt. Jetzt waren diese Gefühle über den Umkreis des Fluchens hinaus, selbst über sehr kräftiges, und daher mutmaßte der arme Lord, daß der Fall anders wäre. Es liegt etwas Ergreifendes darin, wenn ein großer, plumper Mensch sich unter den unaussprechlichen Qualen einer Macht windet, gegen die er nicht kämpfen und über die er sich auch nicht Rechenschaft geben kann und für deren Erklärung es ihm 557 an verständlichen Worten fehlt. Zuerst suchte er seine Zuflucht in den Tiefen seiner Verachtung für die Frauen. Cupido ließ die Leine locker. Nachdem er sich so schlimm, wie es ihm möglich war, Luft gemacht hatte, strahlte das schöne Antlitz, das jetzt seinem Gehirn aufgeprägt war, nur um so triumphierender: so kam der an der Harpune zappelnde Walfisch wieder über Wasser und streckte sich nach wenigen Zuckungen in voller Länge hin. Der edle Lord war in Richards junge Frau verliebt. Er zeigte es, indem er sich in ihrer Nähe vor der Gesellschaft begrub. Ihr selbst, hätte sie es verstehen können, gab er noch weitere Beweise einer wirklichen Verehrung, denn er stellte sich so, als fühlte er ein lebhaftes Interesse an ihrem Wohlergehen, und in ihrer Gegenwart fühlte er auch so. Dieses Wunder, daß er in ihrer Nähe kühl und ruhig fühlen konnte und fern von ihr von einem Sturm der Wünsche erfaßt wurde, war genug für die schwache Denkkraft des schwerfälligen Edelmannes.

Der ehrenwerte Peter, dem die Reisen hin und her langweilig wurden, drängte ihn dazu, die Sache zu beschleunigen. Lord Mountfalcon war klüger oder vorsichtiger als sein Parasit. Er sah Lucy fast jeden Abend. Die unerfahrene kleine Frau sah nichts Böses in seinen Besuchen. Außerdem hatte Richard sie dem Schutze von Lord Mountfalcon und Lady Judith anvertraut. Lady Judith hatte die Insel verlassen und war nach London gereist. Lord Mountfalcon war geblieben. Es konnte nichts Unrechtes dabei sein. Wenn sie es jemals gedacht hätte, so dachte sie jetzt jedenfalls nicht mehr so. Im geheimen fühlte sie sich vielleicht geschmeichelt. Lord Mountfalcon war so gut erzogen, wie es der Durchschnitt der titelführenden älteren Söhne zu sein pflegt: und er ließ sie verstehen, daß er schlecht wäre, sehr schlecht, und daß sie einen guten Einfluß auf ihn hätte. Die Heldin 558 hatte ebenso wie der Held den Ehrgeiz, der Welt nützlich zu sein – etwas Gutes zu tun: und die Aufgabe einen schlechten Menschen zu retten ist für gute Frauen sehr verführerisch. Ein schlechter Mann, den sie ausbessern können, ist ihren zarten Herzen so lieb wie zerbrochenes Porzellan! Lord Mountfalcon hatte nichts von den Manieren eines Wüstlings; sein Gold, sein Titel und seine Persönlichkeit hatten ihn bisher davor bewahrt, lange vergeblich schmachten zu müssen, oder möglicherweise überhaupt zu schmachten: die Schurkereien besorgte der ehrenwerte Peter für ihn. Lucys reines Gefühl wurde nicht beunruhigt, was der Fall hätte sein können, wenn der edle Lord sehr gewandt gewesen wäre. In ihrem Märtyrertum war es hübsch, einen treuen Freund zu haben und imstande zu sein, etwas für diesen Freund tun zu können. Zu einfach in ihrem Sinn, um viel Wert auf die hohe Stellung des Lords zu legen, blieb sie doch immer eine Frau. »Er, ein vornehmer Mann, hält es nicht für unter seiner Würde mich anzuerkennen und mich gern zu haben,« das waren vielleicht die Gedanken, die sie dann und wann wie zur Selbsterverteidigung empfand, wenn sie an die stolze Familie dachte, in die sie geheiratet hatte.

Der Januar beschenkte die alte Erde abwechselnd mit Regen und Frost, als der ehrenwerte Peter mit großen Neuigkeiten zu der Sonne seiner Börse gereist kam. Sobald er die augenblickliche Schwäche Seiner Lordschaft aufs Tapet gebracht hatte, stürzte sich dieser mit seiner ganzen Schwerfälligkeit in die Erörterungen seiner Schwierigkeiten. Er schwur bei diesem und jenem, daß er nach all seinen Sünden einen Engel getroffen hätte und daß er ihr kein Leid zufügen wollte. Im nächsten Augenblick schwur er, daß sie die seine werden müsse und wenn sie auch wie eine Katze fauchen würde. Seiner Lordschaft Ausdrücke waren nicht sehr gewählt. »Ich bin noch nicht 559 einen Zoll weiter gekommen,« stöhnte er, »Brayder! auf Ehre, die kleine Frau könnte alles mit mir machen. Beim Himmel! ich würde sie morgen heiraten. Hier bin ich nun und sehe sie jeden Tag in der Woche, in und außer dem Hause, und was meinst du, wovon sie mit mir spricht? – Weltgeschichte! – ist das nicht genug, um einen Mann verrückt zu machen? Und ich halte ihr Vorträge, wie ein alter Pedant, und wahrhaftig! während ich dabei bin, macht es mir Vergnügen, und wenn ich das Haus verlasse, würde ich die größte Befriedigung empfinden, wenn ich jemand über den Haufen schießen könnte. Was reden sie denn in der Stadt?«

»Nicht viel,« sagte Brayder bedeutungsvoll.

»Wann kommt denn der Bursche – ihr Mann – wieder zurück?«

»Ich darf wohl hoffen, daß wir den ein für allemal besorgt haben, Mount.«

Edelmann und Parasit wechselten Blicke.

»Wie meinst du das?«

Brayder summte eine Melodie und unterbrach sich, um zu sagen: »Er ist im Galoppschritt auf Don-Juan-Wegen, das ist alles.«

»Zum Teufel! Hat Bella ihn gewonnen?« fragte Mountfalcon eifrig.

Brayder reichte ihm einen Brief. Er war datiert von der Küste in Sussex, »Richard« unterschrieben und lautete wie folgt:

»Mein schöner Teufel!

Da wir beide Teufel sind und einander erkannt haben, komme sogleich zu mir oder ich gehe in aller Eile selbst zum Teufel. Komm, mein glänzender Höllenstern! Ich bin vor Dir geflohen und nun bitte ich Dich, zu mir zu kommen! Du hast mich gelehrt, wie die Teufel lieben, und ich kann Dich nicht entbehren. Komm eine Stunde nach Empfang dieses Briefes.«

560 Mountfalcon drehte den Brief um, um zu sehen, ob noch mehr folgte. »Eine höfliche Liebesepistel!« bemerkte er, stand auf, schritt durch das Zimmer und murmelte: »Der Hund! wie schändlich behandelt er seine Frau!«

»Sehr schlecht,« sagte Brayder.

»Wie hast du dies in die Hand bekommen?«

»Ich schlenderte in Bellas Ankleidezimmer, als ich auf sie wartete – und drehte zufällig ihr Nadelkissen um. Du kennst ihre Kniffe!«

»Beim Jupiter! Ich glaube, das tut sie mit Absicht. Dank dem Himmel habe ich ihr ewig lange keine Briefe mehr geschrieben. Ist sie zu ihm gegangen?«

»Das nicht! Aber es ist sonderbar, Mount! – hast du schon je vorher gehört, daß sie Geld zurückgewiesen hätte? Sie zerriß den Scheck in großartigem Stil und überreichte mir die Fetzen mit zwei oder drei zarten Ausdrücken, die sie in deiner Schule gelernt hat. Ich höre eine Frau eigentlich gerne fluchen. Es verschönt sie!«

Mountfalcon beriet mit seinem Parasiten, in welcher Art sie den Brief nützlich verwenden könnten. Beide stimmten gewissenhaft darin überein, daß Richards Benehmen gegen seine Frau schändlich wäre und daß er wenigstens keine Barmherzigkeit verdiene. »Aber,« meinte Seine Lordschaft, »es würde nicht richtig sein, den Brief zu zeigen. Zuerst würde sie schwören, daß er falsch ist, und dann würde sie nur noch fester an ihm hängen. Ich kenne die Weiber.«

»Wir wollen grade das Gegenteil tun,« sagte Brayder sorglos. »Sie muß den Verrat mit eignen Augen sehen. Ihren eignen Augen glauben sie. Darin liegt deine Chance, Mount. Du trittst dann ein: du versorgst sie mit Rache und mit Trost – zwei Vögel mit einem Schuß. Das haben sie gern.«

561 »Du bist ein Esel, Brayder,« rief der Edelmann. »Du bist ein höllischer Schurke. Du sprichst von dieser kleinen Frau, als ob sie und andre Frauen alle gleich wären. Ich sehe nichts, was ich durch diesen verfluchten Brief gewinnen könnte. Ihr Mann ist ein roher Kerl, – das ist klar!«

»Willst du es mir überlassen, Mount?«

»Verflucht will ich sein, wenn ich das tue!« murmelte der Lord.

»Danke! Nun sieh mal, wie das enden wird. Du bist zu gutmütig, Mount. Du wirst zum Narren gemacht werden.«

»Ich sage dir, Brayder, es läßt sich nichts dabei tun. Wenn ich sie entführe – ich bin jeden einzigen Tag drauf und dran gewesen, es zu tun – was kommt dabei heraus? Sie wird mich ansehen – ich kann ihren Blick nicht ertragen – ich würde ein Narr sein – schlimmer mit ihr dran, als jetzt.«

Mountfalcon gähnte in seiner Mutlosigkeit. »Und was meinst du wohl?« fuhr er fort. »Ist es nicht genug, um mit den Zähnen zu knirschen? Sie ist . . .« er flüsterte Brayder etwas zu und wurde dunkelrot dabei.

»Hm!« machte Brayder und rieb die Krücke seines Stockes gegen sein Kinn. »Das ist unangenehm, Mount. Du möchtest nicht grade in der Eigenschaft handeln. Du hast ja auch nicht die Berechtigung. Zu dumm!«

»Glaubst du, ich liebe sie deshalb auch nur im geringsten weniger?« brach der Lord wütend los. »Beim Himmel, ich würde an ihrem Bett sitzen und ihr vorlesen, und wenn sie will, über diese gräßliche Weltgeschichte mit ihr reden, den ganzen Tag und die ganze Nacht.«

»Du bildest dich entschieden zur Hebamme aus, Mount.«

Der Edelmann schien die Beschuldigung schweigend hinzunehmen.

562 »Was reden sie in der Stadt?« fragte er wieder.

Brayder sagte, die Frage drehte sich nur darum, ob es dieses Mal ein Mädchen, eine Frau oder eine Witwe sei.

»Ich werde heute abend zu ihr gehen,« fuhr Mountfalcon fort, nachdem er – nach dem Ausdruck seines Gesichtes zu urteilen – sehr tief nachgedacht hatte. »Ich werde heute abend zu ihr gehen. Sie soll erfahren, welche Höllenqualen ich um ihretwillen leide.«

»Willst du behaupten, daß sie das nicht wüßte?«

»Sie hat keine Ahnung davon – hält mich für ihren Freund. Und, beim Himmel! das will ich auch für sie bleiben.«

»Ah – hm!« machte der ehrenwerte Peter. »Immer heran, meine Damen, wenn Sie einen Grünschnabel sehen wollen.«

»Willst du vielleicht aus dem Fenster geworfen werden, Brayder?«

»Einmal hat mir genügt, Mount. Der wilde Mann ist stark. Ich könnte vielleicht verlernt haben, wieder auf die Beine zu kommen. Ruhig – ruhig! Ich möchte darauf schwören, daß sie außerordentlich unschuldig ist und dich für einen selbstlosen Freund hält.«

»Ich werde heute abend zu ihr gehen,« wiederholte Mountfalcon. »Sie soll hören, wie elend es mich macht, sie in dieser Lage zu sehen. Ich kann es nicht länger ertragen. Es ist schrecklich, wenn solch eine Frau betrogen wird. Ich möchte lieber, daß sie mir flucht, als daß sie so zu mir spricht und mich so ansieht. Das liebe kleine Mädel! – sie ist doch nur ein Kind! Du hast keine Ahnung, wie gefühlvoll das kleine Wesen ist.«

»Hast du es denn?« fragte der Schlaue.

»Meine Überzeugung ist, Brayder, daß es Engel unter den Frauen gibt,« sagte Mountfalcon, und vermied es, seinen Parasiten anzusehen, als er so sprach.

563 Für die Welt war Mountfalcon ein durch und durch schlechter Mensch, sein Parasit nur vergnügungssüchtig und leichtsinnig. Manch frommer Mann hätte es für eine leichtere Aufgabe gehalten, den ehrenwerten Peter zu retten.

Lucy empfing ihren vornehmen Freund an diesem Abend am Kaminfeuer und saß selbst ganz im Schatten. Sie bot ihm an, Licht bringen zu lassen. Er bat alles zu lassen, wie es wäre. »Ich habe Ihnen etwas zu sagen,« bemerkte er mit einer gewissen Feierlichkeit.

»Ja – mir?« sagte Lucy schnell.

Lord Mountfalcon wußte, daß er sehr viel zu sagen hätte, aber wie er es sagen sollte, und was es eigentlich war, das wußte er nicht.

»Sie können es wunderbar verbergen,« fing er an, »aber Sie müssen sich hier sehr einsam fühlen – ich fürchte – unglücklich.«

»Ich würde sehr einsam gewesen sein, ohne Ihre Freundlichkeit, Lord Mountfalcon,« sagte Lucy. »Ich bin nicht unglücklich.« Ihr Gesicht war im Schatten und konnte sie nicht Lügen strafen.

»Gibt es irgend etwas, womit jemand, der wirklich Ihr Freund sein möchte, Ihnen helfen könnte, Mrs. Feverel?«

»Nichts, das ich wüßte,« erwiderte Lucy. »Wer kann uns helfen, für unsere Sünden zu bezahlen?«

»Sie könnten mir wenigstens den Versuch erlauben, meine Schulden zu bezahlen, da Sie mir geholfen haben, einige meiner Sünden auszuwaschen.«

»Ach, Lord Mountfalcon!« rief Lucy, nicht unangenehm berührt. Es ist süß für eine Frau zu glauben, daß sie der Schlange das Gift genommen hat.

»Ich sage Ihnen nur die Wahrheit,« fuhr Lord Mountfalcon fort. »Was für einen Zweck könnte es für mich 564 haben, Sie täuschen zu wollen? Ich weiß, Sie sind über Schmeichelei erhaben – so anders, als andere Frauen!«

»Ach, bitte, sagen Sie das nicht,« unterbrach ihn Lucy.

»Nach meiner Erfahrung wenigstens.«

»Aber Sie sagen, daß Sie mit solch – solch sehr schlechten Frauen zusammen gewesen sind.«

»Das bin ich. Und nun, da ich eine gute Frau getroffen habe, ist es mein Unglück.«

»Ihr Unglück, Lord Mountfalcon?«

»Ja, und ich könnte noch mehr sagen.«

Das Schweigen Seiner Lordschaft war sehr eindrucksvoll.

»Wie sonderbar die Männer sind,« dachte Lucy. »Er hat irgend ein trauriges Geheimnis.«

Tom Bakewell, der die Angewohnheit hatte, während der Besuche des Herrn unter verschiedenen Vorwänden ins Zimmer zu kommen, unterbrach weitere Enthüllungen, die Seine Lordschaft beabsichtigt haben mochte.

Als sie wieder allein waren, sagte Lucy lächelnd: »Wissen Sie, ich schäme mich immer, wenn ich Sie bitte, mit dem Lesen anzufangen.«

Mountfalcon starrte sie an. »Lesen? – ach, so! ja!« er erinnerte sich an seine abendlichen Pflichten. »Sehr gern natürlich. Lassen Sie mich sehen. Wo waren wir stehen geblieben?«

»Bei dem Leben des Kaisers Julian. Aber ich schäme mich wirklich, wenn ich Sie bitte zu lesen, Lord Mountfalcon. Für mich ist alles neu; wie eine neue Welt – von den Kaisern zu hören und den Armeen, und von alledem was wirklich auf der Erde gewesen ist, auf der wir jetzt leben. Es beschäftigt meine Gedanken. Aber Sie können kein Interesse mehr daran haben und ich dachte, daß ich Sie nicht länger damit quälen wollte.«

565 »Ihr Vergnügen ist mein Vergnügen, Mrs. Feverel. Auf Ehre, ich möchte lesen, bis ich heiser werde, nur um Ihre Bemerkungen darüber zu hören.«

»Lachen Sie über mich?«

»Sehe ich so aus?«

Lord Mountfalcon hatte schöne, große Augen, und wenn er sie halb schloß, konnte er so aussehen, als ob sie Ausdruck hätten.

»Nein, das tun Sie nicht,« sagte Lucy, »ich bin Ihnen für Ihre Nachsicht sehr dankbar.«

Der Edelmann beteuerte noch einmal »auf Ehre«.

Lucy wollte, daß er las, um seinetwillen, um ihretwillen, und noch um jemandes andern willen; welcher jemand dabei vielleicht am meisten in Betracht kam. Wenn er las, schien seine Anwesenheit legitimiert; und obgleich sie in keiner Weise Furcht oder Argwohn empfand, so fühlte sie sich doch erleichtert, wenn er auf diese Art beschäftigt war. So stand sie auf, holte das Buch, legte es offen auf den Tisch an seiner Seite und wartete ruhig, um nach Licht zu klingeln, wenn er würde anfangen wollen zu lesen.

An diesem Abend konnte Lord Mountfalcon es nicht recht über sich gewinnen, die Posse anzufangen, und das Mitleid, das er mit dem wunderbar unschuldigen, unbeschützten Kinde fühlte, dem solcher Kummer bevorstand, hielt das, was er sagen oder andeuten wollte, zurück. Er saß schweigend da und tat nichts.

»Was mir nicht an ihm gefällt,« sagte Lucy nachdenklich, »ist, daß er seine Religion ändert. Er wäre ein großer Held, wenn das nicht gewesen wäre. Ich hätte ihn lieben können.«

»Wen hätten Sie lieben können, Mrs. Feverel?« fragte Lord Mountfalcon.

»Den Kaiser Julian.«

566 »Ach! den Kaiser Julian! Ja! er war ein Apostat: aber Sie wissen, er war aufrichtig in dem, was er tat. Er tat es nicht einmal um einer Frau willen.«

»Um einer Frau willen!« rief Lucy. »Welcher Mann würde das für eine Frau tun?«

»Ich würde es.«

»Sie, Lord Mountfalcon?«

»Ja, ich würde morgen katholisch werden.«

»Sie machen mich sehr unglücklich, wenn Sie das sagen, mein Lord.«

»Dann werde ich es widerrufen.«

Lucy schauderte. Sie streckte die Hand aus, um nach Licht zu klingeln.

»Würden Sie jemand zurückweisen, der seine Religion gewechselt hat, Mrs. Feverel?« fragte der Edelmann.

»Ach, ja, ja, das würde ich. Ich möchte nicht jemanden haben, der kein Gewissen hat.«

»Wenn er Ihnen sein Herz und seinen Körper gibt, kann er dann noch mehr geben?«

Lucys Hand drückte auf die Klingel.

Es war ihr nicht angenehm in dem ungewissen Licht mit jemand zusammen zu sein, der so wenig gewissenhaft war. Lord Mountfalcon hatte noch nie vorher so gesprochen. Er sprach besser heute. Sie vermißte den aristokratischen, nasalen Ton in seiner Stimme, das zögernde Suchen nach Worten, die geläufige Erhabenheit, mit der er über die Schwierigkeiten der Rede hinwegging.

Gleichzeitig mit dem Läuten der Glocke öffnete sich die Tür und Tom Bakewell erschien. In demselben Augenblick aber ertönte ein doppeltes Klopfen an der Haustüre. Lucy wartete mit ihrem Auftrag.

»Kann es ein Brief sein, Tom? – so spät?« sagte sie und wechselte die Farbe. »Bitte, lauf und sieh!«

567 »Das ist nicht die Post,« bemerkte Tom und gehorchte seiner Herrin.

»Warten Sie sehr auf einen Brief, Mrs. Feverel?« fragte Lord Mountfalcon.

»Ach nein! – ja doch, sehr!« sagte Lucy. Ihr scharfes Ohr hörte den Ton einer Stimme, die sie kannte. »Das liebe, alte Ding kommt mich besuchen,« rief sie und sprang auf.

Tom führte ein schwarzes Atlasbündel in das Zimmer.

»Mrs. Berry!« sagte Lucy, lief ihr entgegen und küßte sie.

»Ich bin es, mein Liebling!« erwiderte Mrs. Berry die Begrüßung, atemlos und rosig von der Reise. »Ich bin es wirklich, aus Mangel an etwas Besserem, denn ich kann nicht dabei stehen und sehen, daß der Teufel freies Spiel hat – sich rumzutreiben! und das Salz ist auf mein Brautkleid verschüttet, gleich von Anfang, und das war sicher kein gutes Zeichen. Wahrhaftig! – Aber da ist er ja!«

Sie sah eine männliche Gestalt in einem Stuhl am Kamin und drehte sich um, um ihn anzureden: »Sie schlechter Mensch!« sie hielt einen ihrer dicken Finger in die Höhe, »nun bin ich wie Blitz und Donner über Sie gekommen und will danach sehen, daß Sie Ihre Pflicht tun, Sie ungezogner Junge! Aber du bist doch mein geliebtes Kind,« sie wurde nach ihrer Gewohnheit wieder gerührt, »und ich kann dich doch nicht wiedersehen, ohne dir einen mütterlichen Kuß zu geben.«

Ehe Lord Mountfalcon Zeit finden konnte sich zu wehren, hatte die liebevolle Frau ihn um den Hals gefaßt und ließ sich auf seinen prächtigen Schnurrbart herab.

»Ha!« sie ließ einen unterdrückten Schrei hören und fiel zurück, »wessen Bart ist das?«

Tom Bakewell beleuchtete grade den Vorgang.

568 »Ach mein Himmel!« rief Mrs. Berry entsetzt, »bin ich hingegangen und habe einen fremden Mann geküßt!«

Lucy bat, halb lachend, halb in schrecklicher Verlegenheit, den Herrn, das traurige Mißverständnis zu entschuldigen.

»Fühle mich außerordentlich geschmeichelt, sehr glücklich natürlich,« sagte Seine Lordschaft und strich sich den derangierten Schnurrbart zurecht, »darf ich bitten, vorgestellt zu werden?«

»Meines Mannes liebe, alte Wärterin, Mrs. Berry,« sagte Lucy, sie bei der Hand haltend, um sie zu beruhigen. »Lord Mountfalcon, Mrs. Berry.«

Mrs. Berry bat um Entschuldigung durch wiederholte Knixe und wischte sich den Schweiß von der Stirne.

Lucy führte sie zu einem Stuhle: Lord Mountfalcon erkundigte sich nach ihrer Überfahrt; er erhielt eine traurig genaue Beschreibung, die es klar machte, daß der Sanftmut ihres Herzens die Schwäche ihres Magens durchaus gleichkam. Die Erzählung gab Mrs. Berry ihre Ruhe wieder.

»Ja, aber, wo ist nun mein – wo ist Mr. Richard, Ihr Mann, meine Liebe?«

Mrs. Berry unterbrach ihre Erzählung, um zu dieser Frage zu kommen.

»Erwarteten Sie ihn hier zu finden?« sagte Lucy mit schwacher Stimme.

»Und wo denn sonst, meine Liebe? da er ganze vierzehn Tage in London nicht zu sehen gewesen ist.«

Lucy schwieg.

»Wir wollen den Kaiser Julian bis morgen entlassen, denke ich,« sagte Lord Mountfalcon, und erhob sich, um Abschied zu nehmen.

Lucy reichte ihm die Hand mit stummem Druck.

Er berührte sie nur flüchtig, schloß Mrs. Berry in 569 seine Abschiedsverbeugung mit ein und wurde von Tom Bakewell hinausgeführt.

In dem Augenblick, in dem er heraus war, warf sie die Arme in die Luft. »Haben Sie je gehört, daß solch eine schreckliche Geschichte kommen kann und einer tugendhaften Frau passieren!« rief sie. »Ich könnte weinen darüber, wahrhaftig! Hingehen und einen fremden Mann küssen, mit einem Bart im Gesicht! Ach Gott, ach Gott! Was wird nun noch kommen, möcht' ich bloß wissen? Bart! denk' ich – denn ich weiß, wie sich ein Bart anfühlt – was hat er sich so schnell 'n Bart stehen lassen, sag' ich zu mir; und da durchzuckt's mich auch schon, daß ich mich schrecklich geirrt habe! und dann kommt das Licht, und ich sehe den großen haarigen Mann – bitte um Verzeihung – den vornehmen Herrn, und wenn es mir möglich gewesen wäre durch den Boden durchzurutschen – wo mich kein Mann mehr sehen kann – zum Teufel mit ihnen, sie sind einem doch immer im Wege – das sind sie wahrhaftig!«

»Mrs. Berry,« unterbrach sie Lucy, »erwarteten Sie, ihn hier zu finden?«

»So feierlich fragen Sie?« erwiderte Berry. »Was ihn? Ihren Mann? Natürlich! Und Sie haben ihn auch hier – irgendwo versteckt.«

»Ich habe von meinem Mann vierzehn Tage lang nichts gehört,« sagte Lucy und schwere Tränen rollten über ihre Wangen.

»Nicht von ihm gehört? – vierzehn Tage lang!« wiederholte Berry.

»Ach, Mrs. Berry! Liebe gute Mrs. Berry! Bringen Sie keine Nachrichten? Haben Sie mir nichts zu sagen? Ich habe es so lange ertragen. Sie sind grausam gegen mich, Mrs. Berry! Ach, wissen Sie, ob ich ihn, ob ich meinen Mann beleidigt habe? So lange er schrieb, habe 570 ich nicht geklagt. Ich könnte Jahre lang nur von seinen Briefen leben. Aber nichts von ihm zu hören! Zu denken, daß ich ihn ins Verderben gebracht habe und daß er bereut! Wollen sie ihn mir denn nehmen? Wollen sie denn, daß ich tot bin? Ach Mrs. Berry! Ich habe in all der Zeit niemand gehabt, mit dem ich mich aussprechen konnte, und ich kann, ich kann nicht anders, ich muß weinen, Mrs. Berry!«

Mrs. Berry war sehr geneigt, über das, was sie von Lucy hörte, auch unglücklich zu werden, und sie hatte selbst die schwärzesten Befürchtungen; aber es war niemals die Art dieses vortrefflichen Geschöpfes, in Gesellschaft unglücklich zu sein. Der Anblick eines Kummers, der sich nicht auf Tatsachen gründete und nicht bewiesen werden konnte, brachte sie entschlossen in die entgegengesetzte Stimmung.

»Papperlapapp!« sagte sie; »ich möchte mal sehen, ob er bereut! Er wird nirgends wo solch eine Schönheit finden, wie seine kleine Frau, und das weiß er auch. Nun sehen Sie mal, meine Liebe, Sie kleiner, weinender Liebling – der Mann, der Sie mit Ihrem schönen Haar so aufgelöst da sehen könnte, und hat noch gesetzlich das Recht dazu und nicht in Ihre Arme stürzt und Sie sein Leben lang darin drückt, der ist überhaupt kein Mann, sage ich, und niemand kann das doch von meinem Kinde sagen! Ich wollte sagen, sehen Sie mal – um Sie zu trösten – ach ja, er hat sicherlich eine Überraschung für Sie. Und das hab' ich auch, mein Lämmchen! Hören Sie mal! Sein Vater ist nach der Stadt gekommen, endlich doch, als guter vernünftiger Mann, um Sie beide zu verbinden, und Ihre Körper zusammenzubringen, wie es Ihre Herzen immer sein werden. Na – ist das keine Neuigkeit?«

»Ach!« rief Lucy, »das nimmt mir meine letzte 571 Hoffnung. Ich dachte, er wäre zu seinem Vater gereist.« Sie brach aufs neue in Tränen aus.

Mrs. Berry schwieg verwirrt.

»Vielleicht reist er ihm auch nach,« meinte sie.

»Vierzehn Tage lang, Mrs. Berry!«

»Ach vierzehn Wochen lang, meine Liebe, einem solchen Manne nach, wie der ist. Er ist wie ein Meteor, der Sir Austin Feverel von Schloß Raynham. Und nun hören Sie mal. Ich sage zu mir – ich, die ich ihn kenne, – denn ich denke, mein Kind ist in seinem natürlichen Nest. Ich sage zu mir, der Baron wird niemals schreiben, daß Sie beide zu ihm kommen und um seine Verzeihung bitten, so will ich hingehen und sie holen. Denn das war Ihr Fehler, daß Sie Ihren Mann auch nur eine Stunde von sich fortließen, in Ihrer jungen Ehe. Das ist gefährlich, das ist toll, das ist unrecht und kann nur wieder gut gemacht werden, wenn Sie mir gehorchen, wie ich befehle: denn ich kann auch böse werden, wenn ich auch gutmütig bin. Gehorchen Sie mir, dann werden Sie morgen glücklich sein – oder doch beinahe!«

Lucy war bereit, sich trösten zu lassen. Sie war müde ihres selbst auferlegten Märtyrertums und froh, sich ganz und gar der Führung einer andern überlassen zu können.

»Aber warum schreibt er nicht an mich, Mrs. Berry?«

»Weil – weil – wer kann die Gründe der Männer sagen, meine Liebe? Aber daß er Sie treu liebt, darauf will ich schwören. Hat er nicht geseufzt in meinen Armen, daß er nicht zu Ihnen kommen konnte? – der schwache, elende Mensch! Hat er nicht vor mir geschworen, wie er Sie liebte, der arme, junge Mann! Aber dies ist Ihr Fehler, meine Süße. Ja, das ist es. Sie hätten gleich von Anfang meinem Rat folgen sollen – anstatt sich einzubilden, daß Sie Ihre eignen Heldentaten ausführen könnten.« Hier ließ Mrs. Berry einige weitere Sätze 572 über die Ehe hören, besonders in bezug auf junge Eheleute. »Ich wäre eine Närrin geblieben, wenn ich nicht selbst gelitten hätte,« gab sie zu, »so kann ich mich bei meinem Berry dafür bedanken, wenn ich Sie noch beizeiten weise machen kann.«

Lucy streichelte ihre dicken, roten Wangen und blickte zärtlich in die freundlichen, braunen Augen der guten Frau. Liebevolle Worte gingen von Mund zu Mund. Und als Mrs. Berry sie ansah, errötete Lucy, wie jemand, der ein großes Geheimnis mitzuteilen hat, etwas sehr Süßes, sehr Wunderbares, sich aber noch nicht entschließen kann, davon zu sprechen.

»So! nun hab' ich also drei Männer in meinem Leben geküßt,« sagte Mrs. Berry, zu sehr von ihrem außerordentlichen Abenteuer erfüllt, um den Kampf der jungen Frau zu bemerken, »drei Männer und einer davon ein Lord! Er hat mehr Bart als mein Berry. Ich möchte wissen, was der Mann gedacht hat. Ich möchte zehn gegen eins wetten, er hat gedacht, daß ich mich über die Gelegenheit gefreut habe – so eitel sind sie, ob sie nun Lord sind oder Bürgerliche. Wie konnt' ich aber auch wissen? Ich denk' doch natürlich, kein anderer als Ihr Mann kann da auf dem Stuhl sitzen. Ha! und auch noch im Dunkeln! und allein mit Ihnen!« Mrs. Berry sah sie scharf an, »und Ihr Mann fort? Was bedeutet das? Sagen Sie es mir, Kind, was bedeutet das, daß er hier mit Ihnen allein ist und ohne ein Licht?«

»Lord Mountfalcon ist der einzige Freund, den ich hier habe,« sagte Lucy. »Er ist sehr freundlich. Er kommt beinahe jeden Abend.«

»Lord Mountfalcon – so heißt er also!« rief Mrs. Berry. »Ich war so verwirrt durch den Mann, daß ich zuerst nicht hinhörte. Er kommt jeden Abend her, und Ihr Mann ist außer Sicht! Meiner Treu! das wird 573 immer schlimmer. Und weshalb kommt er denn her? Nun sagen Sie mir mal aufrichtig, was tun Sie hier zusammen, am Abend, im Dunkeln.«

Mrs. Berry sah sehr ernst aus.

»Ach, Mrs. Berry! bitte, sprechen Sie nicht so – das gefällt mir nicht,« schmollte Lucy.

»Warum kommt er, frage ich?«

»Weil er freundlich ist, Mrs. Berry. Er sieht, daß ich sehr einsam bin, und will mich unterhalten. Und er erzählt mir von Dingen, von denen ich nichts weiß und –«

»Und vielleicht will er Ihnen auch etwas von diesen Dingen beibringen,« unterbrach sie Mrs. Berry sehr aufgeregt.

»Sie sind eine sehr ungerechte, argwöhnische, unartige, alte Frau,« schalt sie Lucy.

»Und Sie sind ein dummer, argloser, kleiner Vogel,« erwiderte Mrs. Berry und klopfte sie auf die Wange. »Sie haben mir noch nicht gesagt, was Sie zusammen tun, und was seine Entschuldigung ist, daß er kommt.«

»Nun denn, Mrs. Berry, beinahe jeden Abend, den er herkommt, lesen wir Geschichte zusammen, und er erklärt mir die Schlachten, und erzählt mir von den großen Männern. Und er sagt, ich bin nicht dumm, Mrs. Berry.«

»Das ist 'n bißchen Leim auf Ihre Flügel, mein Vögelchen. Geschichte also! Geschichte mit einer jung verheirateten, schönen Frau allein im Dunkeln! eine schöne Geschichte! Na, ich kenne den Namen von dem Mann. Er ist ein bekannter Wüstling, dieser Lord Mountfalcon. Keine Frau ist sicher vor dem.«

»Ach, er hat mich aber nicht getäuscht, Mrs. Berry. Er hat nicht behauptet, daß er gut wäre.«

»Um so gewitzter,« meinte die erfahrene Frau. »Sie lesen also zusammen Geschichte, im Dunkeln, meine Liebe!«

574 »Ich war heut Abend unwohl, Mrs. Berry. Ich wollte ihn nicht mein Gesicht sehen lassen. Sehen Sie! Hier liegt das Buch offen, für ihn bereit, wenn die Kerzen herein gebracht wurden. Und nun Sie liebes, geliebtes, gutes, altes Ding, muß ich Sie noch einmal küssen dafür, daß Sie zu mir gekommen sind. Ich habe Sie so lieb. Wir wollen von anderen Dingen sprechen.

»Das wollen wir,« sagte Mrs. Berry, die bei Lucys Zärtlichkeit weich wurde. »Das wollen wir. Also ein Lord! allein mit einer jungen Frau im Dunkeln und sie dabei solch eine Schönheit! Ich sage aber, dem wird ein Ende gemacht werden, ein für allemal und sogleich! Bessy Berry wird er mit seinen Künsten nicht bestricken. So, nun habe ich genug von ihm. Ich sterbe, wenn ich nicht 'ne Tasse Tee bekommen kann, meine Liebe.«

Lucy stand auf, um zu klingeln, und da es Mrs. Berry noch nicht möglich war, ihn ganz fallen zu lassen, fuhr sie fort: »Laß er nur gehen und sich rühmen, daß ich ihn geküßt habe; dabei ist nichts zum schämen, wenn ihn eine anständige Frau küßt – aus Versehen – das passiert den Männern nicht zu oft, kann ich versichern,« – und dabei betrachtete sie Lucys Gestalt.

Und als Lucy zu ihr zurückkehrte, umfaßte Mrs. Berry sie mit ihren Armen und zog sie zu sich nieder. »Ach Sie Gesegnete,« sagte sie mit bedeutungsvollem Ton, »Sie gute, liebevolle, brave, kleine Frau, Sie!«

»Was meinen Sie, Mrs. Berry!« lispelt Lucy und sieht sie höchst unschuldig mit ihren blauen Augen an.

»Als ob ich keine Augen hätte, Sie Liebling! Meine Aufregung hat mich nur zuerst blind gemacht, oder ich hätt' es gleich von Anfang bemerkt. Denken Sie vielleicht mich zu täuschen?«

Mrs. Berrys Augen sprachen ganze Bände. Lucy zitterte; sie wurde über und über rot und verbarg ihr 575 Gesicht an dem wohlwollenden Busen, der ihr entgegen wogte.

»Sie sind ein Liebes,« murmelte die gute Frau, klopfte sie auf den Rücken und wiegte sie hin und her. »Sie sind eine Rose, das sind Sie! und seine Knospe auf dem Stengel. Sie haben Ihrem Mann kein Wort davon gesagt?« fragte sie rasch.

Lucy schüttelte den Kopf und sah sehr verschämt und schüchtern aus.

»Das ist recht. Wir wollen ihn mal überraschen, laß es ganz plötzlich über ihn kommen, und dann wird er denken – der Atem wird ihm ganz vergehen – ›Ich bin ein Vater!‹ Sie haben ihm auch keine Andeutung gegeben?«

Lucy küßte sie nur, um zu zeigen, daß es noch ein vollständiges Geheimnis wäre.

»Ach! Sie sind eine Süße,« sagte Bessy Berry und umfaßte und wiegte sie noch fester und liebevoller.

Dann führten die zwei eine geflüsterte Unterhaltung – mögen sich alle männlichen Wesen wenigstens eine Meile weit entfernen.

Indem wir uns ihnen nach einem angemessenen Zeitraum wieder nähern, sehen wir, wie Mrs. Berry etwas an den Fingern abzählt. Nachdem sie die Summe zusammen hat, ruft sie prophetisch: »Nun, das bringt alles wieder in Ordnung – ein Kind noch zu allem übrigen! Ich sage, dieses Engelskind kommt von oben. Es ist ein Bote von Gott, meine Liebe! und es ist kein Unrecht das zu sagen. Er meint, Sie verdienen es, sonst würden Sie keins haben – wenn Sie sich auch noch so viel Mühe geben wollten, sie würden nicht, und manche geben sich so viel Mühe, die armen Geschöpfe! Nun laßt uns froh und glücklich sein! Ich möchte weinen und lachen, beides auf einmal. Dies ist das gesegnete Siegel der Ehe, das Berry 576 mir niemals aufgedrückt hat. Ich hoffe, es ist ein Junge. Machen Sie den Mann zum Großvater, und sein Enkel ein Junge, dann haben Sie ihn sicher. Ach! das nenn' ich Glück! und ich werde meinen Tee deshalb ein bißchen stärker trinken. Ich erkläre, ich könnte mich betrinken wegen dieser fröhlichen Neuigkeit.«

So jubilierte Mrs. Berry. Sie trank ihren Tee etwas stärker. Sie aß und trank und war fröhlich. Der Segen der Guten lag auf ihr.

Da sagte Lucy schüchtern: »Und nun verstehen Sie, weshalb ich Geschichte lese und solche Bücher.«

»Ob ich das verstehe?« erwiderte Berry. »Vielleicht tue ich es. Da was Sie getan haben, mein Liebchen, so gut ist, gehe ich auf alles ein. Was frag' ich jetzt noch nach all den Lords! Sie können gegen ein Kind nicht aufkommen. Sie dürfen meinetwegen Reisebeschreibungen lesen und Romane und Liebesgeschichten und Kriegsgeschichten. Sie haben das Rätsel auf Ihre eigne liebe Art gelöst und das ist das einzige, was mich angeht.«

»Nein, Sie verstehen aber nicht,« behauptete Lucy. »Ich lese nur verständige Bücher und spreche nur von ernsten Sachen, weil ich sicher bin . . . weil ich sagen gehört habe . . . liebe Mrs. Berry! verstehen Sie jetzt?«

Mrs. Berry schlug sich aufs Knie. »Bloß zu denken, daß sie so bedacht ist! und dabei ist sie noch katholisch! Sag' mir danach keiner mehr, daß die Leute von einer Religion nicht ebensogut sind, wie von 'ner andern. Sie wollen ihn also zum Gelehrten machen? Und dieser liederliche Lord, der herkommt, um den Wolf zu spielen, den haben Sie dazu gebracht – ohne daß er es selbst weiß – daß er so 'ne Art von Lehrer ist für das heilige Ungeborene! Ha! Ha! da sag' noch einer, daß kleine Frauen nicht so schlau sind, wie die Allerschlausten. Ach! nun versteh' ich! Hab' ich nicht eine Dame gekannt, eine Witwe von 577 einem Pfarrer: es war ein nachgeborenes Kind, und vor seiner Geburt hat die Frau nichts gelesen, als Blairs Grabgeschichten, immer wieder, von Anfang bis zu Ende – das ist ein ernstes Buch! – sehr schwer zu lesen! – und mit vier Jahren war das Kind, das daraus geworden ist, wirklich das frommste Kind von der Welt! – er war wie 'n kleiner Pfarrer. Die Augen schlug er immer so auf, und so feierlich sprach er.« Mrs. Berry ahmte des kleinen Pfarrers Ausdruck und Sprechweise nach. »So, die hat wenigstens bekommen, was sie sich gewünscht hat!«

Aber Lucy lachte über diese Dame.

Sie schwatzten fröhlich weiter bis zur Schlafenszeit. Lucy richtete es so ein, daß Mrs. Berry bei ihr schlafen konnte. »Wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, meine Liebe, mit einer Frau zu schlafen,« sagte Mrs. Berry. »Ich weiß, wie es mir war nach meinem Berry und wie ich es fühlte. Es scheint gewissermaßen nicht natürlich nach der Ehe – eine Frau im Bett zu haben! Ich mußte jemanden haben, denn die kalten Laken machen einen schaudern, wenn man an das andre gewöhnt ist.«

Sie gingen zusammen hinauf, da Lucy diese Abneigung nicht teilte. Dann öffnete Lucy verschiedene Schubladen und zeigte hübsche Mützchen und spitzenbesetztes Leinenzeug, alles für ein sehr kleines Körperchen passend, und alles das Werk ihrer eignen Hände: und Mrs. Berry lobte sie und die Arbeit. »Sie erwarten natürlich einen Jungen nach Frauenart,« sagte sie. Dann flüsterten sie zärtlich mit einander und küßten sich und entkleideten sich am Kaminfeuer und knieten zusammen nieder an dem Bette und umschlangen sich und beteten, beteten beide für das ungeborene Kind; und Mrs. Berry drückte Lucy an sich in dem Augenblicke, in dem sie den Himmel anflehte, das kommende Leben zu schützen und zu segnen; und Lucy drängte sich dichter an sie und fühlte 578 eine starke Liebe zu ihr. Dann ging Lucy zuerst zu Bett und überließ es Mrs. Berry das Licht auszumachen, und ehe diese es tat, lehnte sie sich über sie und sagte schelmisch: »Ich kann Sie nie so sehen, ohne selbst ganz verliebt in Sie zu sein, Sie errötende Schönheit. So schön sind Ihre Augen und das Haar – wenn es so zurückliegt. Ich würde meinem Vater nie vergeben, wenn er mich auch nur vierundzwanzig Stunden von Ihnen trennen würde. Davon der Mann sein!« Berry zeigte auf die Lieblichkeit der jungen Frau. »Sie sehen aus, als wenn Sie so voller Küsse wären, und die müssen nun alle verschmachten! – Sie sehen niemals so hübsch aus, als wenn Sie im Bett liegen, Sie Schönheit, Sie – grad' wie es sein muß.« Lucy sagte, sie würde selbst aufstehen und das Licht ausmachen, um Mrs. Berrys verliebte Rede zu Ende zu bringen. Dann lagen sie im Bett zusammen und Mrs. Berry liebkoste sie und besprach alles für ihre Abreise am folgenden Tage und malte sich noch einmal Richards Gefühle aus, wenn er hörte, daß sie ihn zum Vater machen würde, und wies auf Lucys Glück hin, wenn Richard wieder an seinem rechtmäßigen Platz sein würde, den sie, Bessy Berry, sich jetzt angeeignet hatte; und allerhand solch verliebte Sachen, genug, daß man glauben konnte, das alte Sprichwort wäre umgedreht, welches behauptete, gestohlene Früchte wären die süßesten; sie entwarf eine solch glühende Schilderung des Glücks innerhalb der Gesetze und Grenzen des Rechts, bis Lucy zuletzt ganz erschöpft murmelte: »Müde, liebe Berry,« und die gute Frau allmählich mit ihrem Gezwitscher aufhörte.

Bessy Berry schlief nicht. Sie lag und dachte an das süße und tapfere Herz neben ihr und lauschte auf Lucys Atem, wie er kam und ging, und drückte dann und wann die Hand der schönen Schläferin, um ihrer Liebe Ausdruck 579 zu geben, wenn sie bei ihren Überlegungen warm wurde. Ein Sturmwind heulte über den Hügel von Hampshire und peitschte den weißen Schaum auf den Wellen und schüttelte die kahlen Bäume. Er wehte vorüber und hinterließ eine dünne Schneeschicht auf dem winterlichen Lande. Der Mond schien hell. Berry hörte, wie der Haushund anschlug. Er bellte laut und andauernd. Das Geräusch regte sie auf. Allmählich glaubte sie zu bemerken, daß sich im Hause etwas regte; dann schien es ihr, als ob die Haustüre geöffnet würde. Sie spitzte die Ohren und konnte in der mitternächtigen Stille beinahe Stimmen erkennen. Sie glitt leise aus dem Bett, verschloß und verriegelte die Türe des Zimmers, überzeugte sich, daß Lucy nichts hörte, und ging auf Zehspitzen an das Fenster. Die Bäume hoben sich weiß ab gegen den nördlichen Himmel, der Erdboden glitzerte, die Kälte war scharf. Berry kreuzte ihre dicken Arme über der Brust und guckte darüber hinaus so weit in den Garten, wie es die Lage des Fensters gestattete. Berry war eine sanftmütige, aber keine ängstliche Frau: und in dieser Nacht waren ihre Gedanken über die Furcht der Dunkelheit erhaben. Sie war sicher, daß sie Stimmen hörte; Neugierde, ohne einen Schatten von Furcht hielten sie auf der Lauer; sie wickelte sich etwas von ihren Tageskleidern um Hals und Schultern, suchte das Klappern ihrer Zähne so gut sie konnte zu unterdrücken und blieb auf ihrem Posten. Das leise Summen der Stimmen wurde unterbrochen, etwas wurde in lauterem Ton gesagt; die Haustüre wurde leise geschlossen; ein Mann ging aus dem Garten hinaus auf die Straße. Ihrem Fenster gegenüber blieb er stehen und Berry ließ den Vorhang zurückfallen und guckte nur hinter dem Rande hervor. Er stand im Schatten des Hauses, so daß es unmöglich war, viel von seiner Gestalt zu erkennen. Nach einigen Minuten ging er schnell fort und 580 Berry ging zu Bett wie ein Eiszapfen, vor dem Lucys Glieder zurückschreckten.

Am nächsten Morgen fragte Mrs. Berry Tom Bakewell, ob er in der Nacht gestört worden wäre. Tom, der Geheimnisvolle, meinte, er hätte geschlafen, wie ein Murmeltier. Mrs. Berry ging in den Garten. Der Schnee war zum Teil geschmolzen, alles bis auf einen Fleck grade unter dem Torweg, und da sah sie den Abdruck eines Männerfußes. Durch eine sonderbare Fügung kam es ihr in den Sinn einen von Richards Stiefeln zu holen. Sie tat es, und unbeobachtet maß sie die Sohle des Stiefels auf dieser einsamen Fußspur. Es konnte kein Zweifel sein, daß sie paßte. Sie versuchte es von der Hacke bis zur Spitze ein Dutzendmal.

 


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