George Meredith
Richard Feverel
George Meredith

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Achtzehntes Kapitel.

Die Theorie des Austobens tritt dem System gegenüber.

Das Gerücht verbreitete sich, daß Sir Austin Feverel, der Einsiedler von Raynham, der entschiedene Weiberfeind, der reiche Baron, in der Stadt wäre, um für seinen einzigen, unverdorbenen Sohn und Erben eine Braut zu suchen. Doktor Benjamin Bairam war die nicht anzuzweifelnde Autorität für diese Nachricht. Dr. Bairam 176 hatte Frau Fama von diesem Kindlein entbunden, das nun Dutzende von Frauen auf ihren Schoß nahmen und hätschelten. Dr. Bairam konnte sich rühmen, der erste gewesen zu sein, der mit dem berühmten Einsiedler gesprochen hatte. Er hatte es aus seinem eigenen Munde, daß es der Zweck des Barons wäre, für seinen unverdorbenen Sohn und Erben eine Braut zu suchen; »und,« fügte der Doktor hinzu, »glücklich die, die ihn gewinnt.« Was man sich so auslegte, daß er eine gute Partie wäre, während der Doktor augenscheinlich darauf anspielte, daß gewisse außergewöhnliche Schwierigkeiten mit der Wahl verknüpft wären.

Der Verleger des »Manuskripts des Pilgers« verkaufte alle noch vorhandenen Exemplare. Man überging alle gesellschaftlichen Formalitäten. Ein Sommerregen von Einladungskarten fiel auf den Tisch des Barons.

Er hatte wenige intime Freunde. Er vermied die Klubs, weil er sie für Klatschnester hielt. Die Karten, die er vor sich sah, kamen meist von dem schönen Geschlecht; der Gatte, wenn einer vorhanden war, war augenscheinlich nur anstandshalber bei diesen Einladungen beteiligt. Er las die Karten und lächelte. Er kannte ihren Zweck. Was für ein schreckliches Licht hatten Thompson und Bairam auf einige von ihnen geworfen! Himmel! In welchem Zustand war das Blut dieses Landes!

Bevor er seinen Feldzug anfing, machte er zwei alten Bekannten, Lord Heddon und seinem entfernten Verwandten Darley Absworthy, seinen Besuch. Beide waren Parlamentsmitglieder, beide, obgleich gichtisch, brauchbare Männer, die sich in ihrer Jugend recht tüchtig ausgetobt hatten und sehr befriedigt darauf zurückblickten, da sie meinten, daß sie dadurch nicht schlechter geworden wären. Er fand den einen mit einem schwachsinnigen 177 Sohn, den andren mit schwindsüchtigen Töchtern. »Das genügt,« schrieb er in sein Taschenbuch, »für die Theorie des Austobens.«

Darley war stolz auf die weiß und rote Haut seiner Töchter. »Wundervollen Teint,« nannte er es. Die Älteste war auf dem Heiratsmarkt und wurde ungeheuer bewundert. Sir Austin wurde ihr vorgestellt. Sie plauderte gewandt und liebenswürdig. Ein Jüngling, der nicht auf seiner Hut war, von einfacher Schuljungenart, auch vielleicht ein Mann hätte sich in sie verlieben können, sie war so freundlich und hübsch. Es war etwas Poetisches an ihr. Sie wäre ganz gesund, sagte sie, als der Baron sie wiederholt über diesen Punkt ausfragte. Sie wäre sehr kräftig, meinte sie, aber gegen Ende ihrer Unterhaltung preßte sie die Hand ab und zu auf ihre Seite, atmete mühsam einen Augenblick und sagte dann: »Ist es nicht wunderlich? Dora, Adela und ich haben alle dasselbe komische Gefühl – am Herzen ist es, glaube ich – immer wenn wir viel gesprochen haben.«

Sir Austin nickte mit traurigem Blick, während es in ihm rief: »Austoben! austoben!«

Er verzichtete auf das Vergnügen Dora und Adela kennen zu lernen.

Lord Heddon sprach sehr energisch für die Theorie des Austobens. –

»Es ist alles Unsinn, Feverel,« sagte er, »wenn wir versuchen, einem jungen Manne eine ungewöhnliche Erziehung zu geben. Es ist besser für ihn, wenn er etwas wild ist, so lange er noch grün ist, wenn er seine Knochen und Muskeln fühlt, wenn er die Welt kennen lernt. Er wird niemals ein Mann werden, wenn er nicht zu einer Zeit seines Lebens das alte Spiel getrieben hat, je früher er es tut, um so besser. Ich habe immer gefunden, daß die besten Männer recht wild gelebt haben. 178 So lange er ein Grünschnabel ist, ist es mir gleich, was er treibt, es ist außerdem dann leicht, ihn zu entschuldigen. Du kannst doch nicht erwarten, daß er ein Mann wird, wenn er nicht die Nahrung hat, die einem Manne zukommt. – Er wird eine Milchsuppe werden. Und verlaß dich darauf, bricht er dann los, dann geht er zum Teufel und niemand bemitleidet ihn. Sieh dir mal an, was die Gewürzkrämer tun, wenn sie einen neuen – wie nennen sie es doch schon – Lehrling, glaube ich, – wenn sie einen neuen Lehrling erhalten. Sie wissen, daß der Schurke mit einer Leckerschnauze geboren ist. Sie lassen ihm freien Spielraum im Laden, und es dauert gar nicht lange, so wiegt er die Ware sehr ruhig ab und ist viel zu weise geworden, um auch nur einen Bissen zu veruntreuen, selbst nicht einmal, um des Vergnügens des Stehlens willen. Ich weiß, du hast gerade entgegengesetzte Ansichten. Du meinst, des jungen Gewürzes Sinn sollte über Zucker erhaben sein. Das läßt sich nicht machen! Nimm mein Wort darauf, Feverel, es ist ein gefährliches Experiment, Fleisch und Blut im Zaume halten zu wollen. Wenn ein Füllen sich das gefallen läßt, so ist es ein sehr zahmes Tier. Und sieh dir mal die Sache vom medizinischen Standpunkt aus an. Von frühen Ausschweifungen kann sich die Natur erholen, späte vernichten die Gesundheit. Da hast du die Sache in einer Nußschale. – Wie geht es deinem Sohne?«

»Er ist wohl und gesund!« antwortete Sir Austin. »Und deiner?«

»Ach, Lipscombe bleibt immer derselbe!« seufzte Lord Heddon verdrießlich. »Er ist ruhig, das ist wenigstens etwas. Aber man will ihn nicht ins Parlament wählen, so muß ich diese Hoffnung aufgeben.«

Lord Lipscombe betrat grade das Zimmer; Sir 179 Austin sah ihn an und wunderte sich nicht, daß man ihn nicht zum Landesvertreter wählen wollte.

»Austoben,« dachte er, als er das kopflose, entartete Erzeugnis und Resultat dieser Theorie betrachtete.

Darley Absworthy sowohl wie Lord Heddon sprachen von der Heirat ihrer Sprößlinge als von einer ganz selbstverständlichen Sache. »Und wenn ich nicht feige wäre,« sagte sich Sir Austin, »würde ich vortreten und das Aufgebot verbieten! Diese allgemeine Unwissenheit über die unvermeidlichen Folgen der Sünde ist furchtbar. Diese Theorie des Austobens scheint die Welt moralisch gefühllos gemacht zu haben.« Man brachte ihn indessen zum Schweigen. Er mußte die Gefühle der anderen schonen in betreff einer Sache, die ihm selbst so sehr heilig war. Das gesunde Bild seines stolzen Sohnes stieg vor ihm auf, eine siegreiche, lebendige Widerlegung aller feindlichen Vernunftgründe.

Er begnügte sich damit, seinem Doktor gegenüber zu bemerken, daß er glaube, die dritte Generation der Austobetheorie würde nur dünn gesät sein.

Die Familien, gegen deren Vorfahren, weder von väterlicher noch mütterlicher Seite, Rechtsanwalt Thompson oder Dr. Bairam etwas einzuwenden hatten, waren nicht zahlreich. »Sie müssen nur heutzutage nicht gar zu viel verlangen, mein verehrter Sir Austin,« sagte der Arzt, »man kann Ihre Prinzipien unmöglich anfechten, und Sie tun der Menschheit einen unberechenbaren Dienst, wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit auf diese ernsteste Ihrer Pflichten hinlenken. Aber im Fortschritte der Kultur müssen wir auch, sozusagen, etwas mit der Masse gehen. Ich kann Sie aber versichern, die Welt erwacht – und Sie können mir glauben, ich sehe nicht nur die Oberfläche der Dinge – die Welt erwacht und erkennt die Wichtigkeit dieser Lebensfrage.«

180 »Doktor Bairam,« erwiderte Sir Austin, »würden Sie einen edlen Araberhengst mit einer Schindmähre kreuzen?«

»Sicherlich nicht,« erwiderte der Doktor.

»Dann erlauben Sie mir auch zu sagen, daß ich alle mögliche Sorgfalt anwenden werde, um meinen Sohn nach seinem Wert zu verheiraten,« entgegnete Sir Austin. »Ich hoffe auch, wie Sie sagten, daß die Welt erwacht. Ich bin nach meiner Ankunft in der Stadt mit einem Manuskript zu meinem Verleger gegangen, ›Vorschläge zu einem neuen Erziehungssystem für die englische Jugend‹, die vielleicht gerade jetzt zeitgemäß sind. Ich denke, ich kann mir wohl das Recht anmaßen, über diesen Gegenstand zu sprechen.«

»Natürlich,« sagte der Doktor, »Sie werden mir aber zugeben, Sir Austin, daß wir im Vergleich mit den Nationen des Kontinents, mit unsern Nachbarn zum Beispiel, in der Moral, sowie in allem anderen, sehr vorteilhaft erscheinen. Ich hoffe Sie werden das zugeben?«

»Ich finde keinen Trost darin, durch den Vergleich mit einem niedrigeren Maßstab besser zu erscheinen,« sagte der Baron. »Wenn ich zum Beispiel Ihre aufgeklärten Ansichten – denn Sie stimmen meinen Prinzipien zu – mit der eigentümlichen Ungläubigkeit eines Landdoktors vergleiche, der nichts von der Welt sieht und kennt, dann werden Sie sich kaum geschmeichelt fühlen, nehme ich an?«

Doktor Bairam meinte natürlich, daß solch ein Vergleich kaum schmeichelhaft für ihn sein könnte.

»Außerdem,« fügte der Baron hinzu, »erheben die Franzosen keinen Anspruch darauf, moralisch zu erscheinen, machen sich also auch nicht der Heuchelei schuldig. Während wir –! Aber glauben Sie mir, ich werfe mich nicht zu ihrem Anwalt auf. Es ist vielleicht besser, daß wir der Tugend die schuldige Ehrfurcht darbringen. Das 181 hält wenigstens die Verbreitung vollständiger Verderbtheit etwas auf.«

Doktor Bairam wünschte dem Baron den besten Erfolg und bemühte sich eifrig, ihn in seiner Suche nach einer würdigen Gefährtin für seinen edlen Araber zu unterstützen, in dem er verschiedene Mamas, die er besuchte, darauf aufmerksam machte und sie ermahnte, auf dem Posten zu sein.

 


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