George Meredith
Richard Feverel
George Meredith

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Dreiunddreißigstes Kapitel.

Wie der Teufel genährt wurde.

Und nun hatte der Verfasser des Systems seine Prüfung zu bestehen und unter den Augen der Dame, die ihn liebte. Was konnte freundlicher sein als diese Augen? Und doch sind sie sehr scharf, diese sanften, beobachtenden Frauenaugen. Wenn du den Maßstab nicht erreichst, den sie für dich errichtet haben, so wirst du es fühlen, wenn die Zeit gekommen ist. Sie kann nicht umhin, dir zu 412 zeigen, daß sie dich für einen Riesen gehalten hat und etwas davon zurückkommen mußte. Du fühlst, wie du wunderbar klein wirst in diesen lieblichen Spiegeln, bis sie sich schließlich freundlich zu deinem Standpunkt herablassen. Aber hüte dich davor, eitler Mann, dich jemals in die wunderbare Vergrößerung der männlichen Kreatur zu verlieben, die sich in ihren bewundernd nach oben gerichteten Augensternen spiegelte! Hüte dich davor, ihr bei der Täuschung zu helfen! Eine Frau, die nicht eine vollständige Närrin ist, wird dir vergeben, daß du nur ein Mann bist, wenn du das nur wirklich bist: sie wird es vielleicht lernen zuzugeben, daß kein irdischer Schneider die Figur hätte bekleiden können, die sie in ihrer Hochachtung aus dir gemacht hatte, und daß das Ideal, das sie aus dir gemacht hatte, in Wirklichkeit (obgleich sie seufzt, wenn sie es bedenkt) nur einem übergroß gewordenen Waisenknaben ähnelte in Anstaltsjacke und Hosen. Zuerst verachtet sie deshalb die geringen Fähigkeiten der Schneider und dann lächelt sie über sich selbst. Solltest du aber in der Stunde, die einfach von dir verlangt: »Sei du selbst« und in der die Frau bereit ist, dich so zu nehmen, wie du bist, solltest du dann noch länger danach streben in ihren Augen das Riesengeschöpf zu bleiben, wirst du dann nicht ebenso verächtlich wie lächerlich erscheinen? Und wenn dann der Sturz kommt, wirst du nicht platt auf das Gesicht fallen statt nur auf die gewöhnliche Höhe des Mannes? Du kannst Meilen unter den Maßstab fallen, den sie für dich gemacht hat, ohne daß es dir etwas schadet; nichts ist zu Schaden gekommen, als ein übergroß gewordener Waisenknabe; aber wenn du unter das Maß gewöhnlicher Männer fällst, dann mach' dich darauf gefaßt, zu sehen, wie ihre Kleider rauschen, und wie sie nach einem Blick in den Spiegel ihre Ergebenheit auf einen andern Gegenstand überträgt. Und die Moral davon ist: 413 wenn wir versuchen, das zu sein, was wir nicht sind, dann wird die Frau, für die wir die Posse spielen, den Betrug entdecken und uns strafen. Und das ist meistens das Ende einer Tändelei der Gefühle.

Hätte Sir Austin dem Schmerz und Zorn, den er naturgemäß fühlen mußte, Luft gemacht, hätte er sich zu einem unphilosophischen Übermaß hinreißen lassen können, wie sehr es auch seinen Ruf als Weiser herabgemindert hätte, Lady Blandish würde ihn entschuldigt haben, sie würde ihn nicht weniger geliebt haben, weil sie ihn näher kennen gelernt hätte. Aber der arme Herr mühte seine Seele und streckte seine Muskeln, um sich auf der Höhe der Vorstellung zu halten, die sie von ihm hatte. Für ihn, für einen Mann, der das Leben kannte, der verpflichtet war durch nichts in der Welt überrascht zu sein, paßte es sich nicht, mehr zu tun, als mit den Augenbrauen zu zucken und die Lippen einzuziehen, als ihm Ripton Thompson, dieser Unglücksvogel von Raynham, die Nachricht brachte.

Alles, was er sagte, nachdem Ripton ihm die Briefe übergeben und seinen reumütigen Kopfschmerz zu Bett gebracht hatte, war: »Sie sehen, Emmeline, es ist nutzlos, ein System auf menschliche Wesen zu begründen.«

Eine sehr philosophische Bemerkung für jemand, der eifrig beschäftigt gewesen ist, beinahe zwanzig Jahre lang, zu bauen. Zu philosophisch, um aufrichtig zu erscheinen. Es enthüllte ihr, wo der Schlag ihn am empfindlichsten getroffen hatte. Richard war nicht länger der Richard seiner Schöpfung – sein Stolz und seine Freude, sondern einfach ein menschliches Wesen, wie alle übrigen. Der helle Stern war in der Masse versunken.

Und doch, was hatte der junge Mann getan? Und worin hatte das System Schiffbruch erlitten?

Die Dame konnte nicht umhin, sich die Frage zu stellen, während sie mit dem beleidigten Vater trauerte.

414 »Mein Freund,« sagte sie, und nahm zärtlich seine Hand, ehe sie sich zurückzog, »ich weiß, wie tief bekümmert Sie sein müssen. Ich weiß, wie groß Ihre Enttäuschung sein muß. Ich bitte Sie nicht, ihm jetzt schon zu vergeben. Sie können nicht an seiner Liebe zu dem jungen Mädchen zweifeln, und hat er nicht nach seinem Verständnis ehrenwert gehandelt, und so wie Sie es wünschen müßten, wenn er sie nicht in Schande brachte? Das werden Sie bedenken. Es ist ein böser Zufall – ein Unglück – ein schreckliches Unglück . . .«

»Der Gott dieser Welt wirkt aus dem Innern der Maschine – nicht von außen,« unterbrach sie Sir Austin und drückte ihre Hand, um dem Gutenachtsagen ein Ende zu machen.

Zu jeder andern Zeit würde ihr Gedankengang unterbrochen sein und sie hätte die Phrase bewundert; nun schien sie unnatürlich, oberflächlich, falsch und sie fühlte sich versucht, die Bedeutung, die darin lag, auf ihn selbst anzuwenden, so sehr sie ihn auch bedauerte.

»Sie wissen, Emmeline,« fügte er hinzu, »ich glaube sehr wenig an das Glück oder Unglück, dem die Menschen ihre Erfolge oder Mißerfolge zuschreiben. Sie sind nützliche Personifikationen für die Romanschriftsteller, ich aber habe eine genügend hohe Meinung von Fleisch und Blut, um zu glauben, daß wir unser eigenes Geschick machen ohne fremde Dazwischenkunft. Böse Zufälle? – Schreckliches Unglück? – Was ist das? – Gute Nacht!«

»Gute Nacht,« sagte sie und sah traurig und verwirrt aus. »Wenn ich ›Unglück‹ sagte, meinte ich natürlich, daß er zu tadeln ist, aber – soll ich Ihnen seinen Brief an mich lassen?«

»Ich denke, ich habe genug zum nachdenken,« erwiderte er und verbeugte sich kühl.

415 »Gott segne Sie,« flüsterte sie. »Und – darf ich es sagen? verschließen Sie nicht Ihr Herz.«

Er versicherte sie, daß er hoffe, das nicht zu tun, und in dem Augenblick, indem sie ihn verlassen hatte, verschloß er es so fest, wie er nur konnte.

Wenn er, statt zu sagen: Begründe kein System auf ein menschliches Wesen, gesagt hätte: Mache keine Experimente mit einem menschlichen Wesen, so wäre er der Wahrheit in seinem Falle näher gekommen. Er hatte mit der Menschheit experimentiert in der Person des Sohnes, den er liebte wie sein Leben, und in demselben Augenblick, in dem das Experiment, wie es schien, fehlgeschlagen war, fielen die Fehler der ganzen Menschheit auf die Schultern seines Sohnes. – Richards Lachen bei dem Abfahren des Zuges – jetzt war es erklärt; es klang in seinen Ohren wie der Spott unserer niedrigen Natur über jeden Versuch sie zu erheben und zu klären. Der junge Mann hatte dies alles geplant. Die seltsame Maske, die er seit seiner Krankheit getragen hatte; der Vorzug, den er dem unfähigen Onkel Hippias vor Adrian gab – es war ein klarer, wohl ausgeführter Plan. Jenes häßliche Lachen hörte er noch immer. Niedrig, wie alle übrigen, verräterisch, ein Geschöpf der Leidenschaften, das seine Fähigkeiten nur dazu benutzte, diese zu befriedigen. – Menschliche Fehler fanden sicherlich nirgends eine bessere Gelegenheit sich zu entwickeln als in ihm. Eine teuflische Neigung, gegen die der sentenzenreiche Lobredner der Natur seit Jahren gekämpft hatte (und die zum Teil dem System zugrunde lag), fing jetzt an sein Gemüt zu verdunkeln und zu erfüllen. Als er allein in der verlassenen Totenstille seiner Studierstube saß, sah er den Teufel.

Wie können wir erkennen, ob wir an dem Urquell des Schicksals derer sitzen, die wir lieben? Da an der Quelle von Richards Zukunft saß sein Vater und der Teufel sagte 416 zu ihm: »Die Hauptsache ist, daß du ruhig bleibst, tue nichts, absolut nichts, dein Ziel muß jetzt sein, der Welt ein tapferes Antlitz zu zeigen, so daß alle erkennen, wie erhaben du über dieser menschlichen Natur stehst, die dich betrogen hat. Denn es ist der schändliche Betrug und nicht die Heirat, was dich verletzt hat.«

»Ja!« antwortete der Baron, »der schändliche Betrug, nicht die Heirat: gottlos und verderblich, wie sie auch sein mag; der Zerstörer meiner zartesten Hoffnungen! meiner liebsten Pläne! nicht die Heirat – der schändliche Betrug!« und er ballte den Brief seines Sohnes zusammen und warf ihn ins Feuer.

Wie sollen wir den dunkeln Fürsten der Finsternis erkennen, wenn er unsere eignen Gedanken vor uns ausspricht?

Weiter flüsterte er: »Und dein System: – wenn du der Welt gegenüber tapfer erscheinen willst, so habe den Mut, diesen Traum von dir zu weisen: gib einen unmöglichen Plan auf; sieh das System als das an, was es ist – tot: zu gut für die Menschen!«

»Ja!« murmelte der Baron: »Alle, die die Menschheit retten wollten, starben am Kreuz!«

Und so saß er und nährte den Teufel. Schließlich nahm er seine Lampe, legte den alten Mantel und die Mütze an und ging hinaus, um einen Blick auf Ripton zu werfen. Dieser erschöpfte Wüstling, dieser Jüngling ohne Bestimmung, schlief wie ein Toter. Ein Taschentuch war um seine Stirn gebunden, sein schlaff herunterhängendes Kinn und seine auf dem Kissen ausgestreckte schnarchende Nase gaben ihm ein abgeschmackt klägliches Aussehen. Der Baron erinnerte sich daran, wie oft er diesen Knaben mit seinem eignen verglichen hatte: seinem eignen glänzenden Jungen! Und wo war nun der Unterschied zwischen ihnen?

417 »Nur äußere Vergoldung!« sagte sein teuflischer Begleiter.

»Ja,« erwiderte er. »Ich glaube, dieser Jüngling hat niemals ernstlich Pläne geschmiedet, um seinen Vater zu betrügen: er folgte ungehindert seinem Appetit und ist innerlich der gesündere von beiden.«

Ripton, mit seinem herunterhängenden Kinn und seiner schnarchenden Nase, erschien bei dem Licht der Lampe als ein Repräsentant der menschlichen Natur, ehrlich, wenn auch verächtlich.

»Ich fürchte sehr, Miß Random – ist eine notwendige Einrichtung!« flüsterte der Teufel.

»Verlangt denn das Böse in uns seine natürliche Nahrung, um nicht das Ganze zu verderben?« rief Sir Austin.

»Und ist kein Engel zu etwas nütze, so lange das nicht aus uns herausgezogen ist? Und ist das unser Kampf – daß wir versuchen müssen, uns vor der Ansteckung seiner Umarmung zu schützen und unverdorben daraus hervorzugehen?«

»Die Welt ist weise auf ihre Art,« sagte die teuflische Stimme.

»Auch, wenn man sie durch das Medium des Portweins betrachtet?« warf er ein und erinnerte sich an seinen Anwalt Thompson.

»Weise, indem sie versucht, nicht zu weise zu sein,« sagte die Stimme.

»Und sie berauscht sich an der Medizin des Genusses!«

»Die menschliche Natur ist schwach.«

»Und Miß Random ist eine zweckmäßige Einrichtung und das Austoben ein feststehender Gebrauch!«

»Es ist immer so gewesen.«

»Und wird es immer so sein?«

»Ich fürchte es, trotz deiner sehr edlen Anstrengungen.«

418 »Und das führt – wohin? Und endet – wo?«

Richards Lachen, das von den höllischen Regionen aufgenommen und zurückgeworfen wurde, antwortete ihm.

Dieses Zwiegespräch in seinem Gehirn wurde dadurch beendet, daß Sir Austin sich fragte, ob wirklich kein Unterschied bestände zwischen der Blüte seiner Hoffnung und jener betrunkenen Pflanze, und die Antwort erhielt, daß ein entschiedener Unterschied in dem Duft der beiden Gewächse vorhanden wäre, und sobald ihm dieses bewußt wurde, zog er sich zurück.

Sir Austin kämpfte nicht mit dem Versucher. Er nahm ihn sofort in sein Herz auf, als wenn er reif für ihn gewesen wäre, und hörte auf seine Einflüsterungen und beugte sich seinen Befehlen. Weil er litt und beschlossen hatte, schweigend zu leiden und der einzige Leidende zu sein, kam er sich selbst sehr großherzig in seinem Unglück vor. Er hatte sich der ganzen Welt entgegengestellt. Die Welt hatte ihn geschlagen. Und was weiter? Er mußte sein Herz verschließen und eine Maske vor sein Gesicht nehmen, das war alles. Der gewöhnlichen Menge weit voraus zu sein, überlegte er, ist ebenso fruchtlos für die Menschheit, als im Nachtrab zu kämpfen. Denn wie können wir wissen, ob die hinter uns Kommenden sich überhaupt bewegen, aber wenn sie sich bewegen, ob sie unsern Spuren folgen? Was wir für sie gewinnen, ist verloren, und wo wir zu Boden geworfen werden, da bleiben wir liegen!

Auf diese Art gefiel es einem edlen Geist und einem edlen Herzen, an den Grenzen eines nicht besonders großen Charakters seinen Rückgang zu beschönigen und seine Unzulänglichkeit zu entschuldigen, und so kam es, daß er sich daran machte, sein eignes Werk zu zerstören. Er konnte wohl sagen, wie er es einmal getan hatte, daß es Stunden gibt, in denen die klarste Seele zum listigen 419 Fuchs wird. Für seinen ganz privaten und besonderen Kummer warf er die Schuld auf die Menschheit, grade wie zu der Zeit, die er seine eigne Prüfungszeit genannt hatte. Wie hatte er es damals ertragen? Er hatte eine Maske vorgenommen. Und jetzt, da er die Prüfung für seinen Sohn vorbereitete, tat er dasselbe. Es entsprach dieses durchaus nicht seinen Ansichten von der Pflicht eines Mannes in den Widerwärtigkeiten des Lebens, über die er große Beredsamkeit entfalten konnte. Aber es war sein Instinkt so zu handeln, und in Zeiten der Prüfung sind es nur wirklich große Naturen, die nicht von ihrem Instinkte abhängen. Außerdem würde ihm das Anlegen der Maske Schmerz bereiten, einen größeren Schmerz, als den, den er damals erduldet hatte, als ihm noch ein Gegenstand geblieben war, dem gegenüber er sein Herz hatte öffnen können, und er verließ sich auf den spartanischen Trost: Leid zu dulden und nicht zu handeln. »Tue nichts,« sagte der Teufel, den er nährte; was in seinem Falle soviel bedeutete wie: »Nimm mich bei dir auf und stoße mich nicht fort.« Vortrefflich und gesund ist ein Zornesausbruch für Männer, wenn er kurz vor dem Mord noch innehält. Denn, kann derjenige, der den Zorn in sich verschließt, um sich im geheimen von ihm zu nähren, sagen, daß er verzehrt ist? Sir Austin hatte eine ebenso schwache Verdauung für den Zorn, wie der arme Hippias für eine junge Ente. Statt ihn herunter zu schlucken, wurde er von ihm verzehrt. Das wilde Ungeheuer in ihm war deshalb nicht weniger verderbenbringend, weil es nicht brüllte, und der Teufel in ihm nicht weniger tätig, weil er beschlossen hatte, nichts zu tun.

Er saß an der Quelle von Richards Zukunft in der verlassenen Totenstille seiner Studierstube, hörte, wie in dem ausgebrannten Feuer die Schlacken niederfielen, und lauschte auf die summende Stille, in der man sich 420 einbilden kann zu hören, wie die mitternächtigen Schicksalsgöttinnen eifrig den Keim ihrer Werke zusammenrühren. Die Lampe warf ihr sanftes Licht auf die Büste Chathams. Gegen Morgen hörte er ein leises Klopfen an der Türe. Lady Blandish glitt in das Zimmer. Mit eiligem Schritt kam sie grade auf ihn zu und ergriff seine beiden Hände.

»Mein Freund,« sagte sie, und ihre Stimme war tränenvoll und zitterte, »ich fürchtete, ich würde Sie hier finden. Ich konnte nicht schlafen. Wie fühlen Sie sich?«

»Gut! Emmeline, gut!« erwiderte er und verzog die Augenbrauen, um die Maske zu befestigen.

Er wünschte, es wäre Adrian gewesen, der jetzt zu ihm kam. Er empfand eine außerordentliche Sehnsucht nach Adrians Gesellschaft. Er wußte, daß der weise Jüngling es erraten würde, wie er ihn zu behandeln hätte, und er räumte innerlich grade genug Schwäche ein, um anzuerkennen, daß er eines gewissen Maßes von Behandlung bedürfte. Außerdem würde Adrian, daran zweifelte er nicht, ihn grade so nehmen, wie er erschien, und ihn in keiner Weise dadurch beunruhigen, daß er versuchte, sein Herz zu erschließen, wohingegen eine Frau, wie er fürchtete, zu frauenhaft werden könnte, und es durch Tränen und Bitten schließlich zu einer Szene bringen würde, was er, mehr als alles andere, verabscheute. So klopfte er mit dem Fuße ungeduldig auf den Boden und zeigte der Dame keinen sehr entgegenkommenden Ausdruck, als er sagte, daß alles gut wäre.

Sie setzte sich neben ihn, seine eine Hand noch immer fest umschließend und die andere sanft zurückhaltend.

»Ach, mein Freund! kann ich Ihnen glauben? Darf ich zu Ihnen sprechen?« Sie lehnte sich dicht an ihn. »Sie kennen mein Herz. Ich habe keinen höheren Ehrgeiz als den, Ihre Freundin zu sein. Ich teile gewiß Ihren 421 Kummer und darf ich nicht auch Ihr Vertrauen beanspruchen? Wer hat mehr über Ihren großen schrecklichen Kummer geweint, als ich! Ich wäre nicht zu Ihnen gekommen, wenn ich nicht glaubte, daß geteilter Schmerz die Last erleichterte, und jetzt ist die Zeit gekommen, in der Sie die Hilfe einer Frau fühlen sollten und erkennen könnten, was eine Frau Ihnen zu sein vermag.«

»Seien Sie versichert,« sagte er ernsthaft, »daß ich Ihnen dankbar bin, Emmeline, für Ihre Absicht.«

»Nein, nein! nicht für meine Absicht! Und danken Sie mir auch nicht. Denken Sie an ihn . . . denken Sie an Ihren lieben Jungen . . . unsern Richard, wie wir ihn genannt haben. – Ach, halten Sie es nicht für einen törichten Aberglauben von mir, aber ich habe einen Gedanken gehabt, diese Nacht, der mich gequält hat, bis ich aufstand, um mit Ihnen zu sprechen . . . Sagen Sie mir erst, daß Sie ihm vergeben haben.«

»Ein Vater hegt keinen Groll gegen seinen Sohn, Emmeline.«

»Ihr Herz hat ihm vergeben?«

»Mein Herz hat genommen, was er ihm gab.«

»Und ihm ganz vergeben?«

»Sie werden mich nicht klagen hören.«

Die Dame schwieg niedergeschlagen, sah ihn ernsthaft an und sagte dann mit einem Seufzer: »Ja, ich weiß, wie edel Sie sind und wie verschieden von andern.«

Er zog eine seiner Hände aus ihrem losen Halt.

»Sie sollten zu Bett sein, Emmeline.«

»Ich kann nicht schlafen.«

»Gehen Sie, und sprechen Sie ein andermal mit mir.«

»Nein, es muß jetzt sein. Sie haben mir geholfen, als ich kämpfte, um mich in eine klarere Welt zu erheben, und trotz all meiner Bescheidenheit denke ich, daß ich jetzt Ihnen helfen kann. Ich habe in dieser Nacht gedacht, daß, 422 wenn Sie nicht für ihn beten und ihn segnen . . . es traurig enden wird. Mein Freund, haben Sie das getan?«

Er fühlte sich getroffen und verletzt und konnte kaum umhin, es zu zeigen, trotz seiner Maske.

»Haben Sie es getan, Austin?«

»Dies ist in der Tat eine neue Art, einen Vater für die Torheiten seines Sohnes verantwortlich zu machen, Emmeline!«

»Nein, das nicht! Aber wollen Sie für Ihren Sohn beten und ihn segnen, ehe der Tag anbricht?«

Er nahm sich zusammen, um ruhig zu sprechen: »Und das muß ich also tun, damit es kein trauriges Ende gibt? Kann ich ihn vor der Saat retten, die er gesät hat? Überlegen Sie, Emmeline, was Sie sagen. Er hat die Sünde seines Vetters wiederholt. Sie kennen das Ende davon.«

»Ach, das ist so anders! Dieses junge Mädchen ist nicht, ist nicht aus der Klasse, mit der sich der arme Austin verbunden hat. Es ist wirklich anders. Und er – seien Sie gerecht und geben Sie seinen Edelmut zu. Ich bildete mir ein, Sie täten es. Dieses junge Mädchen ist sehr schön, sie hat die Grundlagen einer guten Erziehung, sie . . . ich glaube wirklich, wäre sie in einer anderen Stellung gewesen, Sie würden sie nicht ungünstig beurteilt haben.«

»Sie mag zu gut sein für meinen Sohn!« der Baron sprach mit hochmütiger Bitterkeit.

»Keine Frau ist zu gut für Richard, und Sie wissen es!«

»Lassen wir sie aus dem Spiel.«

»Ja, ich will nur von ihm sprechen. Er traf sie durch einen verhängnisvollen Zufall. Wir glaubten, daß seine Liebe tot wäre, und das glaubte er auch, bis er sie wiedersah. Er traf sie, er glaubte, wir hätten Pläne gegen ihn 423 geschmiedet, er glaubte, er würde sie für immer verlieren, und in der Tollheit einer Stunde tat er dies.«

»Meine Emmeline spricht sehr beredt für heimliche Ehen.«

»Ach, scherzen Sie nicht, mein Freund. Sagen Sie, hätten Sie es lieber gesehen, er hätte sich so benommen, wie es junge Leute in seiner Stellung gegen Frauen unter ihrem Stande gewöhnlich tun?«

Sir Austin gefiel die Frage nicht. Sie sondierte ihn zu ernsthaft.

»Sie meinen,« sagte er, »die Väter müßten mit gefalteten Armen dasitzen und entweder niedrige Heiraten gutheißen oder dulden, daß diese Geschöpfe zugrunde gerichtet werden?«

»Das meine ich nicht,« sagte Lady Blandish, und kämpfte, um einen Ausdruck für das zu finden, was sie sagen wollte. »Ich meine . . . daß er sie liebt. Wird das nicht zum Wahnsinn in seinem Alter? Aber was ich hauptsächlich meine, ist, retten Sie ihn vor den Folgen. Nein, Sie sollen Ihre Hand nicht zurückziehen. Denken Sie an seinen Stolz, seine Empfindlichkeit, seine große, wilde Natur – wild, wenn sie auf unrechtem Wege ist: bedenken Sie, wie heftig er wird, wenn er liebt, bedenken Sie, mein Freund, vergessen Sie nicht seine Liebe zu Ihnen.«

Sir Austin lächelte ein bewundernswert mitleidiges Lächeln.

»Daß ich ihn, oder irgend jemand sonst ihn retten könnte, ist mehr verlangt, als der Verlauf der Dinge Ihnen gestatten wird, Emmeline, und liegt nicht in der Ordnung dieser Welt. Ich kann es nicht. Die Folgen sind die natürlichen Kinder der Taten. Mein Kind, Sie sprechen mit Gefühl, und das paßt in keiner Weise in unser modernes Zeitalter – es ist ein phantastischer Dunst, der das 424 Bild des Lebens, das wir leben, verzerrt. Sie bitten mich, ihm ein goldenes Zeitalter zu verschaffen, trotz seines Benehmens. Alles, was getan werden konnte, um ihn auf den Pfaden der Tugend und Wahrheit zu erhalten, habe ich getan. Er ist ein Mann geworden, und als Mann muß er ernten, was er gesät hat.«

Die enttäuschte Dame seufzte. Er saß so gelassen da: er sprach so ruhig, als wenn die Wahrheit ihm mehr wert wäre als die Liebe seines Sohnes. Und doch liebte er diesen Sohn. Da sie sicher fühlte, daß er seinen Sohn liebte, während er so erhaben sprach, verehrte sie ihn noch, so enttäuscht sie auch war und so sehr sie auch fühlte, daß er ihr auswich.

»Alles, was ich von Ihnen verlange, ist, daß Sie ihm Ihr Herz öffnen,« sagte sie.

Er schwieg.

»Wenn Sie ihn auch einen Mann nennen – er ist und muß es immer bleiben, das Kind Ihrer Erziehung, mein Freund.«

»Sie möchten mich mit der Aussicht trösten, Emmeline, daß er, indem er sich zugrunde richtet, die Welt der jungen Mädchen schont. Ja, darin liegt etwas!«

Sie prüfte genau seine Maske. Sie war undurchdringlich. Er konnte ihr in die Augen sehen und den Druck ihrer Hand erwidern und lächeln und dabei nicht zeigen, was er fühlte. Auch glaubte er nicht, daß es Heuchelei wäre, wenn er versuchte, seine hohe Stellung in ihrem sanften Herzen zu bewahren, indem er statt verletzter Liebe erhabene Philosophie fingierte. Auch wußte er nicht, daß ihm ein Engel nahe war: ein blinder Engel und ein schwacher, aber einer, der die Gelegenheit wahrnehmen wollte.

»Wollen Sie mir verzeihen, daß ich zu Ihnen kam?« sagte sie nach einer Pause.

425 »Ich verstehe vollständig die Absichten meiner Emmeline,« erwiderte er liebenswürdig.

»Es sind sehr armselige. Ich fühle meine Schwäche. Ich kann nicht die Hälfte von dem ausdrücken, was ich gedacht habe. Ach, wenn ich es könnte!«

»Sie sprechen sehr gut, Emmeline.«

»So ist mir wenigstens verziehen!«

»Sicherlich.«

»Und bevor ich Sie verlasse, lieber Freund, werden Sie mir vergeben? – darf ich darum bitten? – wollen Sie ihn segnen?«

Er schwieg wieder.

»Beten Sie für ihn, Austin! Beten Sie für ihn, ehe die Nacht vorüber ist.«

Während sie sprach, glitt sie nieder zu seinen Füßen und drückte seine Hand an ihre Brust.

Der Baron erschrak. In aufrichtiger Furcht vor der sanften Anwandlung, die ihn überkommen wollte, stieß er seinen Stuhl zurück, stand auf und ging zu dem Fenster.

»Es ist schon Tag!« sagte er mit verstellter Lebhaftigkeit, stieß die Fensterladen auf und ließ das Licht des jungen Tages herein, das auf dem Rasen schimmerte.

Lady Blandish trocknete ihre Tränen noch kniend, dann trat sie zu ihm und blickte schweigend zu Richards Mond auf, der abnehmend im Westen stand. Sie hoffte, es wäre ihr nur deshalb mißlungen, ihn zu bewegen, weil sie zu früh mit ihren ernsten Bitten gekommen war, und sie beschuldigte sich selbst mehr als den Baron. Aber sie hatte ihn als einen ungewöhnlich hochstehenden Mann behandelt, und nun war sie gezwungen, sich einzugestehen, daß sein Herz gegenwärtig kaum über die Herzen gewöhnlicher Männer erhaben war, wie ruhig auch der Ausdruck seines Gesichts erschien und wie augenscheinlich 426 abgeklärt seine Weisheit. Von diesem Augenblick an wurde sie kritisch ihm gegenüber und fing an ihren Götzen zu studieren – ein Verfahren, das für Götzen gefährlich ist. Er hingegen fühlte sich nun, da sie den peinlichen Gegenstand aufgegeben zu haben schien, zu ihr hingezogen, und wie jemand, der den Wunsch hat, eine vorhergegangene Rauheit wieder auszugleiten, murmelte er: »Gottes kostbarster Segen ist schließlich doch eine gute Frau! Meine Emmeline erträgt ihre schlaflose Nacht gut!« Er blickte auf sie nieder mit liebevoller Zärtlichkeit.

»Ich könnte viele, viele schlaflose Nächte ertragen!« erwiderte sie, seinen Blicken begegnend, »und würde nur immer wohl aussehen, wenn . . . wenn nur . . .« aber sie wurde nicht ermutigt den Satz zu vollenden.

Vielleicht bedurfte er einer stummen Form des Trostes, vielleicht rührten ihn die schönen, ruhigen Züge der dunkeläugigen Frau: jedenfalls machte er einen Fortschritt in seinem Platonismus und legte seinen Arm um sie: Sie fühlte den Arm und sprach von dem Morgen.

So nebeneinander stehend hörten sie beide bald etwas wie ein Stöhnen hinter sich, und sich umsehend, erblickten sie das vorsintflutliche Auge. Lady Blandish lächelte, aber des Barons Verwirrung ließ sich nicht verbergen. Durch ein seltsames Verhängnis war jedes Stadium ihrer unschuldigen Liebe sicher, einen Zuschauer zu haben.

»Ach, bitte um Entschuldigung,« murmelte Benson und hielt seinen Kopf still, der melancholisch auf und ab wackelte. Man hieß ihn das Zimmer verlassen.

»Und ich denke, ich werde ihm folgen und versuchen, noch einige Minuten Schlaf zu finden,« sagte Lady Blandish. Sie schieden mit einem stummen Händedruck.

Der Baron rief Benson herein. »Besorge mir mein Frühstück so schnell du kannst,« sagte er, ohne auf den Ausdruck eines beleidigten Ehrgefühls zu achten, den 427 Benson feierlich darzustellen suchte. »Ich fahre früh zur Stadt. Und, Benson,« fügte er hinzu, »du wirst auch heute nachmittag zur Stadt fahren oder morgen, wie es dir paßt, und du wirst dein Buch mitnehmen zu Mr. Thompson. Du kommst nicht wieder zurück. Du wirst eine Versorgung erhalten. Du kannst gehen.«

Der gewichtige Hausmeister versuchte zu sprechen. Aber der unerhörte Schlag und des Barons Miene erstickten seine Worte. An der Türe machte er noch einen Versuch, welcher die Falten seiner losen Haut mitleiderregend schüttelte. Eine ungeduldige Bewegung ließ ihn verstummen – und Raynham verlor den einzigen, der an das große System glaubte.

 


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