George Meredith
Richard Feverel
George Meredith

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Vierundzwanzigstes Kapitel.

Von der Frühlingsblume und der Herbstblume.

Als der junge Gegenstand des Experimentierens wieder zum Bewußtsein der Zeit erwacht war, befand er sich in seinem eigenen Zimmer in Raynham. Nichts hatte sich verändert. Es hatte ihn nur eine starke Faust zu Boden geschlagen und betäubt, und als er die Augen öffnete, lag vor ihm eine graue Welt: er hatte vergessen, wofür er lebte. Er war schwach und mager geworden und hatte nur eine unklare Erinnerung an das Vergangene. Er lebte wie vorher, alles, was ihn umgab, war dasselbe, er sah die alten, blauen Hügel, das in der Ferne liegende Brachland, den Fluß und die Wälder: er kannte sie, aber sie schienen nichts mehr von ihm zu wissen. Auch konnte er in den bekannten, menschlichen Gesichtern nicht mehr das Geheimnis der Vertrautheit erkennen, wie bisher. Es waren dieselben Gesichter, sie nickten und lächelten ihm zu. Er hätte nicht sagen können, was verloren gegangen war. Etwas war aus ihm herausgeschlagen! Er war sich des liebevollen Wesens seines Vaters bewußt, und er war traurig, daß er ihm nicht ebenso begegnen konnte, denn jedes Gefühl der Scham und des Vorwurfs hatte ihn wunderbarerweise verlassen. Er fühlte sich so unnütz. Statt der feurigen Liebe für die eine, empfand er nun ein kühles Mitgefühl für alle.

So starb in dem Herzen des jungen Mannes die Frühlingsblüte, und während sie starb, trieb ein anderes Herz herbstliche Blüten.

Die wunderbare Veränderung in Richard und die Weisheit ihres Verehrers, die nun tatsächlich bewiesen 258 worden war, regten Lady Blandish sehr auf. Sie fühlte sich zurechtgewiesen für gewisse kleine rebellische Gefühle, die ihr sklavisches Gemüt von Zeit zu Zeit ihm gegenüber gehegt hatte. Denn war er nicht beinahe ein Prophet? Es betrübte das gefühlvolle Gemüt der Dame, daß eine Liebe wie die Richards in Rauch vergehen, und daß Worte wie die, die sie ihn im Schloßwald hatte sprechen hören, sich in Nichts auflösen konnten. Ja, sie fühlte sich persönlich gedemütigt, und es war des Barons kluge Voraussagung, durch die sie sich gedemütigt fühlte. Denn wie konnte er es wissen und auszusprechen wagen, daß die Liebe aus Staub gemacht war und von der Wissenschaft zu Boden getreten werden konnte? Aber er hatte es gesagt, und bewiesen, daß er recht hatte. Sie hörte mit Erstaunen, Richard habe von selbst mit seinem Vater von der Torheit gesprochen, deren er sich schuldig gemacht, und ihn um Verzeihung gebeten. Der Baron erzählte es ihr und fügte hinzu, daß der Jüngling es in einer ruhigen, kalten Art getan hätte, ohne eine Bewegung seiner Züge: er hätte es augenscheinlich getan, um die Last der Verpflichtung abzuschütteln, die er auf sich geladen hatte. Er hatte geglaubt zugeben zu müssen, daß er der »törichte, junge Mann« gewesen wäre, der, wenn es möglich war, wünschte, diese Tatsache durch einen Akt der Buße abzuschwören. Er hatte auch Benson Genugtuung gegeben und war von neuem ein friedlicher Geist geworden, dessen Hauptlebenszweck zu sein schien, seine Körperkraft durch allerhand Übungen zu stärken und nicht durch Worte zu vergeuden.

In Gesellschaft von Lady Blandish war er ruhig und höflich; selbst wenn sie allein waren, zeigte er keine Spur von Melancholie. Er erschien nüchtern, wie jemand, der sich von der Trunkenheit erholt hat und beschlossen hat, nicht mehr zu trinken. Es kam ihr in den Sinn, daß 259 er vielleicht nur eine Rolle spielte, aber Tom Bakewell, mit dem sie eine Unterredung hatte, erzählte ihr, daß er von seinem jungen Herrn, eines Tages, als sie miteinander boxten, den Befehl erhalten hätte, so lange er lebte, den Namen der jungen Dame nie mehr zu erwähnen; und Tom konnte sich nur denken, sie müsse ihn beleidigt haben. Lady Blandish hatte immer geglaubt, daß der Baron in der Theorie weise wäre, sie war nicht darauf vorbereitet gewesen, ihn auch praktisch so weise zu finden. Sie sank in ihrer eigenen Achtung, und da sie etwas brauchte, an das sie sich anklammern konnte, so klammerte sie sich an den Mann, der sie so zu Boden geworfen hatte. So war die Liebe also irdisch; ihre Tiefe konnte durch die Wissenschaft erforscht werden. Es lebte ein Mann, der sie von Anfang bis zu Ende messen, der ihr Ende voraussagen und den jungen Gott behandeln konnte, als ob er eine erschossene Eule wäre! Wir, die wir uns zur Verwandtschaft mit dem Göttlichen aufgeschwungen und uns im Kreis der Unsterblichen ergötzt haben, wir werden an unsere niedrige Geburt als Kinder der Zeit erinnert – unsere Flügel werden beschnitten! Ach, wenn die Wissenschaft wirklich der siegreiche Feind der Liebe ist, dann wollen wir die Wissenschaft lieben! das war die Logik in dem Herzen der Dame; und wenn sie im geheimen auch noch die Überzeugung hegte, daß sie ihn doch noch widerlegen würde und ihm würde beweisen können, daß er ganz und gar unrecht hätte, so gab sie ihm doch die Frucht des augenblicklichen Erfolgs, wie es die Art der Frauen ist, ihnen selbst halb unbewußt. Die Flamme hatte sie ergriffen. Sie fühlte eine sanfte Erregung wie ein junges Mädchen und fühlte sich dadurch geschmeichelt. Es war, als wenn sie noch einmal jung würde. Reine Frauen haben eine zweite Jugend. Eine herbstliche Blüte entfaltete sich.

260 Das Manuskript des Pilgers sagt uns:

»Das Wesen der Frauen ist Involution, und ihr Benehmen, das Opposition ist, wird am besten verstanden durch Erraten und durch ein kühnes Wort – denn es ist unmöglich, der Spur ihrer Gedanken zu folgen und sie auf dem gewöhnlichen Wege zu erjagen.«

Damit wir nicht in Verwirrung und Widerspruch kommen, mag jeder von uns selbst versuchen, es zu erraten und ein kühnes Wort darüber zu sagen, wie es kam, daß die Dame, die darauf vertraut hatte, daß Liebe ewig wäre, sich dem zuneigte, der ihren schönen Glauben zertrümmert hatte, und ihn liebte.

Bis jetzt war es nur eine Tändelei der Gefühle gewesen und Klatschsucht hatte sie verleumdet. Gerade als die Klatschzungen müde wurden sie zu verleumden und geneigt waren, liebevoller über sie zu urteilen, fing sie an, jedes Wort zu verdienen, das sie von ihr gesagt hatten. Daraus können wir mit Erlaubnis des Lesers lernen, daß Klatschzungen nur nötig haben mit Ausdauer zu lügen, um mit Wahrheit gekrönt zu werden, oder andererseits, daß man böses Gerede nur eine Zeitlang über sich ergehen lassen muß, um Straflosigkeit zu erlangen. Sie war jetzt immer auf dem Schlosse. Sie saß viel mit dem Baron allein. Es schien sich von selbst zu verstehen, daß sie Mrs. Dorias Stelle eingenommen hatte. Benson in seinem weiberfeindlichen Herzen meinte, sie versuche Lady Feverels Stelle einzunehmen, aber jede Nachricht, die von Benson herrührte, konnte sicher sein, mit Mißtrauen aufgenommen zu werden, und machte die Klatschzungen nur von neuem auf ihn aufmerksam, was seinen Überlegungen etwas Tragisches verlieh. Kaum war eine Frau besiegt, so eroberte eine andere das Feld! Das Objekt des Systems war kaum gerettet, als sein großer Urheber in Gefahr geriet!

261 »Ich verstehe gar nicht, was mit Benson los ist,« sagte Sir Austin zu Adrian.

»Er scheint wieder einmal mehrere Pfund Blei geerbt zu haben,« erwiderte der weise Jüngling, und fuhr, indem er Dr. Cliffords Art nachmachte, fort: »Veränderung fehlt ihm! Zerstreuung! Schicke ihn für einen Monat nach Wales und laß Richard mit ihm gehen. Die beiden Opfer der Frauen könnten einander gut tun.«

»Unglücklicherweise kann ich ihn nicht entbehren,« sagte der Baron.

»Dann muß seine drückende Gegenwart uns also weiter bei Tage und bei Nacht belasten,« rief Adrian aus.

»Ich denke, so lange er diesen Ausdruck beibehält, wollen wir ihn nicht bei Tisch aufwarten lassen,« sagte der Baron.

Adrian meinte, daß das das Essen viel bekömmlicher machen würde, und fügte hinzu: »Du weißt doch, was er sagt?«

Da der Baron verneinte, erklärte ihm Adrian auf zarte Weise, wie Bensons außergewöhnlich schwerfälliges Wesen durch die Sorge um die Sicherheit seines Herrn veranlaßt worden sei.

»Du mußt dem treuen Narren verzeihen,« fuhr er fort, denn der Baron errötete und rief aus:

»Seine Dummheit ist unglaublich! Ich werde wirklich meine Bibliothekstür vor ihm verschließen müssen!«

Im Geiste sah Adrian sofort eine reizende, kleine Szene im Innern des Studierzimmers, wie Benson sie tatsächlich gesehen hatte. Damit seine Prophezeiungen durch die Zukunft auch wirklich bestätigt werden möchten, war Benson als vorsichtiger Prophet darauf bedacht gewesen, die Erscheinungen der Gegenwart zu beobachten, denn das Manuskript des Pilgers, dessen fleißiger Leser 262 er war, hatte ihm zufälligerweise einen Wink erteilt, indem es ziemlich nachdrücklich sagt: »Könnten wir der Zeit voll ins Gesicht sehen, so würden wir sie verstehen können.«

Wenn man nun aber der Zeit voll ins Gesicht sehen will, ist es zuweilen nötig, durch Schlüssellöcher zu gucken, denn die ehrwürdige Veteranin hat manchmal die Laune, dich mit einer Wange friedlich anzulächeln, während sie mit der andern hinter dem Vorhang verwirrend grinst. Der Anstand und ein Gefühl von Ehre halten die meisten von uns davor zurück, uns so für alle Zeiten weise und elend zu machen.

Bensons Entschuldigung war, daß er seinem Herrn vertraute und ihn bedroht sah. Und außerdem war es ihm, trotz seiner früheren, bösen Erfahrungen, eine angenehme Beschäftigung, Cupido zu belauschen. So guckte er durchs Schlüsselloch und sah auch etwas. Er sah der Zeit voll ins Gesicht, oder mit andern Worten, er sah die List der Frau und die Schwachheit des Mannes, was die Geschichte unseres Lebens ausmacht. So würde sie wenigstens Benson dargestellt haben und so ist sie von vielen Dichtern und Philosophen dargestellt worden.

Und doch war es nur das Pflücken der Herbstblume gewesen, was Benson gesehen hatte, ein Vorgang, sehr verschieden von dem Pflücken der Frühlingsblüte: sehr unschuldig! Unsere gesetzte, ältere Schwester hat blasseres Blut und hat auch etwas Vernunft an der Wurzel, oder bildet sich doch wenigstens ein, sie zu haben. Sie ist nicht nur Instinkt. »Um dieser edlen Sache willen und weil ich die Männer kenne und weiß, daß er die Krone aller Männer ist, gebe ich mich ihm hin!« Innerlich redet sie sich mit solch erhabenen Worten an, während die Hand sie von der Wurzel löst. Sie bedarf einer so starken Selbstrechtfertigung. Ihr fehlt das blinde 263 Triumphgefühl, mit dem ihre jüngere Schwester den gefährlichen Sprung verklären kann. Und wenn sie der Motte gleich nach den Sternen strebt, so hütet sie sich doch, mit vorsichtiger Ängstlichkeit, vor den Kerzen. Daher zieht sie weite und vorsichtige Kreise um die gefährliche menschliche Flamme. Mit immer neuen Vernunftgründen muß sie näher gezogen werden. Sie liebt es, mit Gefühlen zu spielen. Lady Blandish hatte zehn Jahre lang mit Gefühlen gespielt. Sie hätte das Spiel gerne fortgesetzt. Der dunkeläugigen Dame gefiel ihr glattes Dasein und die sanfte Erregung, die es doch nicht aufregte. Sie ließ sich nicht gerne besiegen.

»Gefühlsmenschen,« sagt das Manuskript des Pilgers, »sind diejenigen, die genießen wollen, ohne doch die unermeßlichen Verpflichtungen auf sich nehmen zu wollen für das Getane.«

In bezug auf Gefühlsschwelgerei sagt der Verfasser an einer anderen Stelle: »Sie ist ein hübscher Zeitvertreib und eine wichtige Wissenschaft für die Schüchternen, Müßigen und Herzlosen, aber verhängnisvoll für diejenigen, die etwas dabei zu verlieren haben.«

Indessen kann jemand, der das Sterben aus Liebe für Sentimentalität ausgibt, wohl kaum als Autorität auf diesem Gebiet angesehen werden. Sicherlich gehörte er nicht zu denen, die das Aufsichnehmen der großen Verpflichtungen vermeiden wollten: aber er war noch in den Banden der Frau, die ihn verlassen hatte, und ein bindendes Wort würde es ihm zur Pflicht gemacht haben, dem öffentlichen Gerede die Stirn zu bieten, was für ihn das Schlimmste gewesen wäre, das ihm hätte begegnen können. Was den tugendhaften Benson so entsetzt hatte, hatte Richard schon in Daphnes Laube gesehen, einfach einen Kuß auf eine schöne, weiße Hand! Zweifellos diente das Schlüsselloch dazu, Bensons Entsetzen noch zu erhöhen. 264 Die beiden gleichen, so sehr unschuldigen Vorgänge hatten wunderbar entgegengesetzte Wirkungen. Der erste entflammte Richard zur Bewunderung der Frauen, der zweite zerstörte Bensons Glauben an den Mann. Aber Lady Blandish verstand den Unterschied. Sie verstand es, warum der Baron nicht sprach, entschuldigte und achtete ihn dafür. Da sie lieben mußte, war sie zufrieden damit, demütig zu lieben und tröstete sich selbst durch ihr Mitleid mit seinem Kummer. Hundert neue Gründe für ihre Liebe zu ihm entstanden und vermehrten sich täglich. Er las ihr aus seiner eigenen Handschrift das geheime Buch vor, das er, als Führer durch Richards Ehe, verfaßt hatte. Es enthielt Rat und Vorschläge für einen jungen Ehemann voll der liebevollsten, zartesten Weisheit, wie sie meinte, ja, es war voller Poesie, obgleich es weder in Reimen, noch in Versmaß war.

Er erklärte ihr die unterscheidenden Merkmale der verschiedenen Lebensalter und reichte die Palme derjenigen Blume, die sie jetzt erzeugte, stellte sie über die Blüte des Frühlings oder die sommerliche Rose.

Und während sie saßen und sprachen, sagte er: »Meine Wunde ist geheilt.« »Und wodurch?« fragte sie. »An der Quelle Ihrer Augen,« erwiderte er und sog neue Lebensfreude aus ihrem Erröten, ohne eine weitere Verpflichtung auf sich zu laden für das Getane.

 


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