George Meredith
Richard Feverel
George Meredith

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Zwölftes Kapitel.

Blütezeit.

Geistererscheinungen zu erklären ist jedermanns Pflicht, und da der geheimnisvolle Vorfall, der die kleine Klara erschreckt hatte, auf dem Schauplatze der Ereignisse in Raynham niemals aufgeklärt wurde, und das Schreckliche weiter im Schlosse umging, wollen wir einen Augenblick hinter die Kulissen blicken. Obwohl der Baron im Grunde seines Herzens abergläubisch war, widersetzte sich sein Verstand doch jeder übernatürlichen Einwirkung auf menschliche Verhältnisse, und als ihm das Rätsel aufgeklärt wurde, schüttelte er die ihn bedrückende Schwäche ab und erlangte sein geistiges Gleichgewicht wieder, so daß er von dieser Zeit an wieder der Alte war und die große Wahrheit fester erfaßte, daß »diese Welt wohl ersonnen war«. Ja, er konnte lachen, als er hörte, wie Adrian, im Andenken an das böse Geschick, das einen der Familie bei der ersten Kundgebung des Geistes betroffen hatte, dieses unruhige Wesen »Algernons Bein« nannte.

Mrs. Doria war empört. Sie blieb dabei, ihr Kind hätte gesehen – daran nicht zu glauben, war beinahe so schlimm wie Raub an ihrem persönlichen Eigentum. Nachdem Sir Austin seinen eigenen früheren Gemütszustand genügend an ihr studiert hatte, bewog ihn das 106 Mitleid, sie eines Tages beiseite zu nehmen und ihr zu zeigen, daß ihr Geist Worte schreiben konnte, wie ein lebendiges Wesen. Es war ein Brief von der unglücklichen Dame, die Richard das Leben gegeben hatte, – kurze, kalte Zeilen, in denen sie ihm einfach mitteilte, daß sein Haus künftig nicht mehr von ihr beunruhigt werden würde. Kalte Zeilen, aber welch tief traurige Selbstverleugnung hatte sie geschrieben, und welche Seelenqual lag ihnen zu Grunde! Wie die meisten Leute, die mit ihm zu tun hatten, hielt Lady Feverel ihren Gatten für einen unbeugsamen, harten und unversöhnlichen Mann; und sie handelte, wie törichte Wesen zu handeln pflegen, wenn sie sich einbilden, das Schicksal wäre gegen sie: weder bat sie um das, was ihr zukam, noch beanspruchte sie es. Sie hatte versucht, die Sehnsucht ihres Herzens heimlich zu befriedigen und nun verzichtete sie auf alles. Mrs. Doria, der es nicht an Familiengefühl und Warmherzigkeit fehlte, schauderte, als sie sah, wie gelassen er das Opfer annahm. Er bat sie zu bedenken, wie beunruhigend für den Knaben der Einblick in solche Beziehungen zwischen Mutter und Vater sein müßte. Noch einige Jahre später, und als Mann sollte er alles erfahren und selbst urteilen und sie lieben. »Laß dies ihre Buße sein, sie ist von mir nicht verschuldet.« Mrs. Doria beugte sich vor seinem Erziehungssystem, da es eine andre betraf, und bedachte nicht, daß die Zeit kommen könnte, in der auch sie sich davor würde beugen müssen.

Noch weiter hinter den Kulissen erblicken wir Rizzio und Maria, älter geworden und aus der Verzauberung erwacht; sie ihrer Krone beraubt und unordentlich, – er mit gichtischen Fingern auf einer abgenutzten Harfe spielend. Der vielversprechende Diaper Sandoe leiht seine Feder für geringen Lohn. Sein Ruhm ist gesunken, sein körperlicher Umfang hat merklich zugenommen. Er 107 spricht noch immer über das, was er tun kann und was er tun wird; mittlerweile ist ihm der Wachholderlikör zum Bedürfnis geworden, es scheint, als ob die kleinen Lohnarbeiten nicht ohne diese Hilfe ausgeführt werden können. Als die Dame von ihrer traurigen Reise zu ihrem noch viel traurigeren Heim zurückkehrte, mußte sie den milden Vorwurf des leichtsinnigen Diaper hören – ein Vorwurf, der so milde war, daß er ihn in Jamben kleidete; denn da er jetzt selten metrisch schrieb, gewöhnte er es sich an in Versen zu sprechen. Mit einer stets bereiten Träne des Mitgefühls erklärte er ihr, daß sie durch ein solches Vorgehen ihre Interessen geschädigt hätte, schreckte auch nicht davor zurück ihr ausführlich zu erklären, inwiefern sie es getan hätte. Mit einem Lächeln auf seinen feuchten Lippen, sagte er ihr, wie die Armut, in der sie lebte, so ganz und gar nicht ihrer zarten Erziehung angemessen wäre und er Grund hätte zu glauben, – er könne sie versichern – daß ihr Gatte im Begriff wäre, eine Jahresrente für sie auszusetzen. Und er ließ die Knospe seines Lächelns sich zu voller Blüte entfalten, als er ihr diese Nachricht mitteilte. Sie erfuhr, daß er sich an ihren Gatten um Geld gewendet hatte. Es ist hart, wenn uns die letzte Stütze der Selbstachtung entzogen wird, grade wenn wir die Qualen eines Märtyrers auf dem Scheiterhaufen erdulden. Eine fünf Minuten lange tragische Unterredung folgte nun, die besonders traurig für Diaper war, der so darauf gehofft hatte, sich in den warmen Strahlen jener Jahresrente zu sonnen und sich aus seinem Zustand der Verpuppung wieder zum Schmetterling zu entfalten. Dann schrieb die Dame jenen Brief, den Sir Austin seiner Schwester zeigte. Aber ich halte die Luft hinter den Kulissen für ungesund, und da wir die Erscheinung erklärt haben, wollen wir umkehren und vor den Vorhang treten.

108 Die unendlich kleine Dosis »Welterfahrung«, die durch Ripton mit solch schnellem und überraschendem Erfolg dem System beigefügt worden war, hatte nach Sir Austins Meinung ihre Schuldigkeit getan und genügte für eine Weile; so erhielt Ripton keine weitere Einladung nach Raynham, und Richard hatte zur Anregung seiner starken Lebenskraft keinen besondern Vertrauten seines eigenen Alters und vermißte ihn auch nicht. Er hatte genug zu tun mit Tom Bakewell. Außerdem war er mit seinem Vater ein Herz und eine Seele. Das Gemüt des Knaben tat sich auf und wandte sich mit ehrfurchtsvoller Liebe seinem Vater zu. In dieser Periode, in der der junge Wilde höherem Einfluß entgegenreift, ist die Fähigkeit zu verehren vorherrschend in ihm. In dieser Periode drücken die Jesuiten ihrer Zöglingsschar den Stempel auf; und alle, die die Jugend nach einem System erziehen und sie beobachten, wissen, daß sie zu dieser Zeit das Eisen schmieden müssen. Für Knaben mit irgend einer starken geistigen oder moralischen Veranlagung ist diese Zeit die entscheidende, und wenn sie unter Aufsicht stehen, nehmen sie zu dieser Zeit die Richtung an, die ihnen gegeben wird, um sie meistens nicht wieder zu verlieren und jedenfalls nie ganz zu verlieren.

In Sir Austins Taschenbuch fand sich niedergeschrieben: »Zwischen dem einfachen Knabenalter und dem Jünglingsalter – in der Blütezeit – auf der Schwelle der Pubertät gibt es »Eine selbstlose Stunde« – nennen wir sie die »Geistige Saatzeit.«

Er war darauf bedacht, daß gute Saat in Richard gelegt würde, und daß die fruchtbarste Saat für einen Jüngling, nämlich das Beispiel, von der Art wäre, die in ihm die Liebe zu jeder Form des Edelmuts zum Keimen bringen könnte.

»Ich bemühe mich nur meinen Sohn zu einem Christen 109 zu machen,« gab er denen zur Antwort, die ihn wegen des Systems zur Rede stellten. Und seinen Belehrungen gab er ein bestimmtes Ziel. »Zunächst sei tugendhaft,« sagte er zu seinem Sohn, »und dann diene deinem Vaterland mit Herz und Seele.« Der Ehrgeiz des Knaben wurde auf die Staatskunst gerichtet, und er las mit seinem Vater die Geschichte und die Reden der großen englischen Staatsmänner, und nicht ohne Erfolg, denn eines Tages fand ihn Sir Austin, wie er, das Kinn auf die Hände gestützt, gegen eine Säule lehnte, die die Büste Chathams trug, und, mit Augen voller Tränen, den Helden des Parlaments betrachtete.

Man meinte, der Baron ginge in dem Prinzip des Beispiels so weit, daß er seinen zechenden, magenkranken Bruder Hippias nur in Raynham behielt, um seinem Sohn die traurige Vergeltung vor Augen zu führen, mit der die Natur ein charakterloses Leben straft; denn der arme Hippias war zu einer verkörperten Klage geworden. Das war ungerecht, aber zweifellos machte er sich in seiner Umgebung jedes Beispiel zu nutze, das bei seinem Sohne Abneigung oder Nacheiferung erregen konnte. Er schonte seinen Bruder nicht, gegen den Richard eine Abneigung hegte, die im richtigen Verhältnis zu der Bewunderung für seinen Vater stand, und die ihn dazu führte, sich eine übertriebene Enthaltsamkeit aufzuerlegen, die sein Vater dämpfen mußte.

Der Knabe betete mit seinem Vater morgens und abends.

»Wie kommt es, Vater,« sagte er eines Abends, »daß ich Tom Bakewell nicht dazu bringen kann zu beten?«

»Weigert er sich?« fragte Sir Austin.

»Er scheint sich zu schämen,« erwiderte Richard. »Er will wissen, wozu es gut ist. Und ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll.«

110 »Ich fürchte, es ist schon zu weit mit ihm gekommen,« sagte Sir Austin, »und so lange er keinen tiefen Kummer hat, wird er das göttliche Bedürfnis nach Gebet nicht empfinden. Strebe danach, mein Sohn, wenn du eines Tages das Volk vertreten wirst, für seine Erziehung zu sorgen. Tom fühlt jetzt alles durch eine stumpfe, undurchdringliche Rinde; Geistesbildung ist der halbe Weg zum Himmel. Sage ihm, mein Sohn, wenn er dich jemals fragen sollte, wie er die Wirkung des Gebetes erfahren und wissen kann, ob sein Gebet erhört ist, sage ihm (er zitierte aus dem Manuskript des Pilgers):

»Dessen Gebet ist erhört, der sich vom Gebet erhebt als ein besserer Mensch.«

»Das will ich, Vater,« sagte Richard und ging glücklich zu Bett.

Der Knabe lebte jetzt in glücklicher Zufriedenheit mit seinem Vater und sich selbst. Das Gewissen wurde in ihm lebendig, und er fing an einen Teil der Last zu tragen, die die Menschen tragen müssen, doch noch in einer so unfertigen Form, daß sie bald nach der einen, bald nach der andern Seite das Übergewicht hatte.

Der weise Jüngling Adrian beobachtete diese weiter fortschreitende Entwicklung seines Schülers kühl und zynisch. Sir Austin hatte es ihm streng untersagt, den Knaben zu hänseln, und so erleichterte er sich die bittere Stimmung, in die ihn der Anblick eines zum Heiligen gewordenen jungen Brandstifters versetzte, durch scheinbar ernsthaftes Mitempfinden und führte ein genaues Verzeichnis der nicht weit auseinander liegenden Daten seiner verschiedenem Veränderungen. Der Brot- und Wasser-Zustand dauerte vierzehn Tage, der vegetarische – eine Nachahmung Vetter Austins – etwas länger als einen Monat, der fromme noch etwas länger; der religiöse Bekehrungszustand, in dem er sich bemühte, die gottlosen 111 Bewohner von Lobourne und Bursley und die Dienstboten des Schlosses, einschließlich Tom Bakewells, der Religion zuzuführen, dauerte wieder etwas länger und war schwer zu ertragen, denn Richard versuchte auch Adrian zu bekehren. Die ganze Zeit wurde Tom Bakewell wie ein Rekrut gedrillt. Richard ließ einen Unteroffizier von der nächsten Kaserne für ihn kommen, um ihm die rechte Haltung zu geben, und ließ ihn mit unendlicher Befriedigung auf und ab marschieren. Großen Kummer erlebte er, als er es versuchte, dem rundschultrigen Landmann die ersten Anfangsgründe des Lesens beizubringen, denn er setzte unbegrenzte Hoffnungen auf Tom und traute ihm alle Eigenschaften eines Helden zu.

Auch seinen Stolz legte Richard ab. Er stellte sich demütig und glaubte auch wirklich es zu sein. Worauf Adrian ihm beiläufig die Tatsache mitteilte, daß alle Menschen Tiere wären, und er ein Tier wäre, wie alle andern.

»Ich ein Tier!« rief Richard voller Hohn, und quälte sich wochenlang ebensosehr mit diesen Anfangsgründen der Selbsterkenntnis, wie Tom mit seinen Buchstaben. Um ihm seine Selbstachtung wieder zu geben, sorgte Sir Austin dafür, daß er in die Wunder der Anatomie eingeweiht wurde.

So verging die Saatzeit ohne Störung, und das Jünglingsalter nahte, und seine Cousine Klara fing schon an zu fühlen, daß sie einem anderen Geschlecht angehörte als er. Sie wuchs auch heran, aber niemand kümmerte sich darum, wie sie aufwuchs. Äußerlich schien sich sogar ihre Mutter mehr für das Aufschießen des grünen Sprößlings des Feverel-Stammes zu interessieren, und Klara war nur eine seiner Dienerinnen, die er wenig beachtete.

Lady Blandish fühlte eine ehrliche Zuneigung zu dem Knaben. Sie sagte mehr als einmal zu ihm: »Wenn ich ein junges Mädchen wäre, würde ich dich zum Manne112 nehmen.« Und mit der Freimütigkeit seiner Jahre pflegte er zu erwidern: »Und wie können Sie denn wissen, ob ich Sie genommen hätte?« Worauf sie lachte und ihn einen törichten Jungen nannte, denn hatte er nicht gehört, daß sie ihn nehmen würde? Schreckliche Worte, deren Bedeutung er damals noch nicht erkannte!

»Du liest ja nicht in deines Vaters Buch,« sagte sie. Ihre eigne Ausgabe war in purpurnen Samt gebunden, mit goldenen Ecken, wie Damen mit Sinn für Dekoration ihre frommen Bücher gerne haben. Sie trug es mit sich herum und zitierte daraus und jagte – wie Adrian zu Mrs. Doria bemerkte – ein edles Wild und faßte ihr Ziel besonnen ins Auge. Auch Mrs. Doria war davon überzeugt und sprach ihr Bedauern darüber aus, daß ihr Bruder nicht mehr auf seiner Hut wäre.

»Sieh her,« sagte Lady Blandish und legte ihren rosigen Fingernagel auf einen der Aphorismen, welcher davon sprach, wie Alter und Trübsal erst eine undurchdringliche Schicht um uns bilden müßten, bevor wir dem Magnetismus jedes menschlichen Geschöpfes, das unsern Pfad kreuzt, wirksam widerstehen könnten. »Kannst du das verstehen, Kind?«

Richard meinte, wenn sie es läse, könnte er es.

»Nun wohl, mein edler Ritter,« sie berührte sanft seine Wange und ließ ihre Finger durch sein Haar gleiten, »lerne es so schnell du kannst, dich nicht von hundert verschiedenen anziehenden Gegenständen hierhin und dorthin leiten zu lassen, wie es mir erging, ehe ich einen weisen Mann traf, der mich führen konnte.«

»Ist mein Vater sehr weise?« fragte Richard.

»Ich halte ihn dafür.« Die Dame legte einigen Nachdruck auf ihr persönliches Urteil.

»Haben Sie ihn –« platzte Richard heraus, und wurde durch das starke Klopfen seines Herzens zurückgehalten.

113 »Habe ich – was?« fragte sie ruhig.

»Ich wollte sagen, haben Sie ihn – ich meine, ich habe ihn so sehr lieb.«

Lady Blandish lächelte und errötete leicht.

Sie näherten sich häufig diesem Thema und zogen sich immer wieder davon zurück, immer mit demselben Herzklopfen bei Richard, welches von dem wachsenden Bewußtsein von etwas Geheimnisvollem begleitet war, das ihn indessen bis jetzt noch nicht beunruhigte.

Das Leben wurde ihm in Raynham sehr angenehm gemacht, da es zu Sir Austins Erziehungsprinzip gehörte, daß der Knabe vollkommen heiter und glücklich sein sollte. Jedesmal wenn Adrian einen befriedigenden Bericht über die Fortschritte seines Schülers abgab, womit er ziemlich freigebig war, wurden Zerstreuungen ersonnen, ebenso wie man fleißigen Knaben in der Schule Preise gibt. So lange er seinen Studien oblag, sollte keiner seiner Wünsche unerfüllt bleiben. Das System blühte. Groß, stark, von kräftiger Gesundheit wurde er zum Führer aller seiner Gefährten zu Wasser und zu Lande und hatte mehr als einen Gefolgsmann in seinen Diensten außer Ripton Thompson – dem Knaben ohne besondere Bestimmung. Vielleicht war sich der Knabe mit einer Bestimmung derselben ein klein wenig zu sehr bewußt. Seine Großmut seinen jeweiligen Gefährten gegenüber war fürstlich, wurde aber auch etwas zu sehr nach der Art eines Fürsten ausgeteilt, und trotz seiner Verachtung für niedrige Gesinnung konnte er diese doch leichter übersehen, als eine Beleidigung seines Stolzes, welcher unbegrenzte Unterwerfung verlangte, sobald er einmal erregt war. Hatte Richard seine Gefolgsleute, so hatte er auch seine Fehden. Die Papworth waren ebenso unterwürfig wie Ripton, aber der junge Ralph Morton, der Neffe von Mr. Morton auf Poer Hall, war in zahlreichen, vielversprechenden 114 Eigenschaften, den Faustkampf mit eingeschlossen, Richard gewachsen, und dieser Jüngling sprach seine Meinung zu offenherzig aus und duldete keine verächtliche Behandlung. Für Richard gab es bei seinen Kameraden keinen Mittelweg zwischen inniger Freundschaft oder absoluter Sklaverei. Es fehlte ihm an jenen weltmännischen Gewohnheiten und Gefühlen, die es Knaben und Männern möglich machen zusammenzuhalten ohne gegenseitige Neigung; und wie jeder alleinlebende Sterbliche schrieb er diesen Mangel, dessen er sich wohl bewußt war, der Tatsache zu, daß er eine höher stehende Natur sei. Der junge Ralph war ein lebhafter Plauderer, daraus schloß Richards Eitelkeit, daß er keinen Verstand besäße. Er war liebenswürdig, daher müsse er oberflächlich sein. Die Frauen liebten ihn, daher wäre er ein Schmetterling. Kurz, der junge Ralph war populär, und da unserm erhabenen Prinzen das Recht genommen war ihn zu verachten, fing er an ihn zu hassen.

Schon in den frühesten Tagen ihrer Nebenbuhlerschaft sah Richard ein, wie abgeschmackt es sein würde, Verachtung gegen seinen Rivalen zu heucheln. Ralph war ein Eton-Schüler und, da er kräftig und gewandt war, als solcher natürlich ein Schwimmer und Kricketspieler. Ein Schwimmer und Kricketspieler kann in der Republik der Jugend niemals verachtet werden. Da also dieses Mittel ihm gegenüber versagte, sah sich Richard ein- oder zweimal dazu veranlaßt, sich hinter seinem größeren Reichtum und seiner Stellung zu verschanzen; aber bald gab er das auch auf, zum Teil weil seine Furcht vor dem Lächerlichen ihm sagte, daß er sich damit eine Blöße gäbe, und hauptsächlich weil sein Sinn zu ritterlich war. Und so wurde er von Ralph in die Schranken gefordert und lernte das Schicksal eines Kämpfers kennen. Im Kricket und im Tauchen trug Ralph den Preis davon. Richards 115 Mittelpfahl wankte vor seinem Ball und er konnte selten mehr als drei Eier unter Wasser aufnehmen, während Ralph ein halbes Dutzend herauf holen konnte. Auch beim Springen und Laufen wurde er geschlagen. Warum streben die törichten Sterblichen nach den steilen Höhen der Meisterschaft? Oder wenn sie sie einmal erreicht haben, warum sind sie nicht großmütig und vorsichtig genug, sich sofort in das Privatleben zurückzuziehen? Gereizt durch seine Niederlagen, schickte Richard einen seiner untergebenen Papworth nach Poer Hall mit einer Herausforderung an Ralph Barthrop Morton, in der er sich verpflichtete über die Themse und zurück zu schwimmen, ein-, zwei- oder dreimal in kürzerer Zeit als Ralph Barthrop Morton dazu gebrauchte. Die Herausforderung wurde angenommen, die Erwiderung erfolgte ebenso förmlich mit dem Austrompeten aller Namen und meldete, daß Ralph Barthrop Morton die Herausforderung Richard Doria Feverels erhalten hätte und sich ihm stellen würde. Der Wettkampf sollte an einem Sommermorgen ausgefochten werden und Kapitän Algernon der Schiedsrichter sein. Sir Austin war unter dem Schutze einer Anpflanzung am Flußufer Zuschauer, ohne daß sein Sohn es wußte, und, zur Schande ihres Geschlechts muß es gesagt werden, Lady Blandish begleitete ihn. In ihrer freimütigen Art und da sie wußte, was das Manuskript des Pilgers über Prüderie sagte, hatte sie sofort eingewilligt, dem Wettkampf beizuwohnen, was Sir Austin außerordentlich gefiel. »War das nicht eine Frau, die des goldenen Zeitalters wert wäre? eine, die den Mann als ein göttlich geschaffenes Wesen ansehen konnte, ohne daß sie sich durch die Schlange verführt oder verhöhnt fühlte! Solch eine Frau war selten!« Sir Austin unterließ es, seinem Gefallen Ausdruck zu verleihen, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen. Sie fühlte nur seinen Beifall 116 in einer noch größeren Zartheit seines Benehmens, durch ein etwas in seiner Stimme und in den Mitteilungen, die er ihr machte, die ihr bewiesen, daß er zu ihr wie zu einer Vertrauten sprach, was von seiner Seite ein großes Kompliment war.

Während die Knaben bereit standen und auf das Zeichen zum Sprunge von dem grünen Rasen in das glänzende Wasser warteten, forderte Sir Austin sie auf, ihre Schönheit zu bewundern, und das tat sie auch und streckte sogar ihren Kopf etwas über seine Schulter vor. Es wurde gerade das Zeichen zum Sprung gegeben, als sie dieses tat, und so bekam Richard einen Damenhut zu sehen. Des jungen Ralph Hacken waren in der Luft, ehe Richard sich noch rührte, der dann ins Wasser fiel wie Blei. Er wurde mit mehreren Längen geschlagen.

Das Resultat des Wettkampfes war allen Anwesenden unerklärlich, und Richards Freunde drangen alle einstimmig in ihn, einen falschen Start geltend zu machen. Aber obgleich der Jüngling, in vollem Vertrauen auf seine bessere Kunst und seine ebenbürtige Stärke, sehr hoch gegen seinen Nebenbuhler gewettet und seine kleine Segeljacht an Ralph verloren hatte, so wollte er doch nichts derartiges tun. Der Damenhut hatte ihn geschlagen, nicht Ralph. Der Damenhut als Symbol des Geheimnisses, das ihm solch heftiges Herzklopfen verursachte, war sein geliebter und sein gehaßter Feind.

Und nun, wie er von Stimmung zu Stimmung fortschritt, wandte sich sein Ehrgeiz einem Felde zu, wo Ralph nicht mit ihm wetteifern konnte und wo der Damenhut, in höhere Regionen versetzt, als glänzende Königin herrschte. Ein Dämpfer für seinen Stolz führt einen Knaben häufig auf den Pfad, auf dem seine schönsten Gaben liegen. Richard gab seine Gefährten auf, die dienstbaren und die feindlichen; er überließ die materielle 117 Welt dem jungen Ralph und zog sich in sich selbst zurück, wo er ein Herrscher von Königreichen wurde, wo die Schönheit seine Dienerin wurde und die Geschichte sein Minister, die Zeit sein alter Harfner und die Romantik seine Braut; wo er in einem Reiche wandelte, das größer und prächtiger als der weite Orient und mit Helden aller Zeiten bevölkert war. Denn kein fürstlicher Reichtum, keine stolze Erbschaft kommt diesem Erbteil der Jugend gleich, das so vielen freigebig zu teil wird, wenn das reifende Blut die Einbildungskraft entzündet hat und man die Erde durch den rosigen Nebel tausend neu erwachter namenloser und zielloser Wünsche sieht; wenn man nach Glück lechzt und es ergreift, wo es sich bietet, und aus jedem Bild oder Ton, vermöge der Zauberkraft, die ihnen eigen ist, den Schlüssel macht zu unendlichen, weil unschuldigen Freuden. Noch sind die Leidenschaften wie junge spielende Bären, nicht die gierigen Ungeheuer späterer Jahre. Sie haben ihre Zähne und ihre Krallen, aber noch beißen und zerreißen sie nicht. Noch stehen sie in Einklang und in guter Kameradschaft mit dem Verstande und dem schneller schlagenden Herzen, und das ganze schöne Dasein gestaltet sich vollkommener Harmonie.

Sir Austin hatte ähnliche Anzeichen von Veränderungen, wie sie sich jetzt in dem Gemüte seines Sohnes offenbarten, als seinem System gemäß erwartet und in seinem Plane vorgezeichnet. Das Erröten des Jünglings, seine langen Nachtwachen, seine Neigung zur Einsamkeit, seine Zerstreutheit, seine niedergeschlagene, aber nicht traurige Miene, gaben dem alles vorherwissenden Herrn Veranlassung zur Freude. »Denn« sagte er zu Dr. Clifford von Lobourne, nachdem er dessen ärztlichen Rat in betreff des Jünglings eingeholt und völlig beruhigt worden war, »es ist nur der Ausdruck vollkommener Gesundheit. Das Blut ist frisch, das Gemüt tugendhaft; 118 keines treibt das andre zum Bösen an, und beide reifen der Blüte der Männlichkeit entgegen. Wenn er diese rein erreicht – in der unbefleckten Fülle und Vollkommenheit seiner natürlichen Kräfte – dann bin ich in der Tat ein glücklicher Vater! Das eine wenigstens wird er mir zu danken haben: daß er zu einer Zeit seines Lebens das Paradies gekannt hat und Gottes Handschrift in der Natur lesen konnte! Und dagegen diese Scheusale, die man frühreife Knaben nennt – diese kleinen, verhätschelten Ungeheuer, Doktor! – wer kann sich wundern, daß die Welt jetzt so aussieht, wenn sie so voll von dieser Sorte ist. Diese Knaben können in ihrem eignen Leben auf keine göttliche Zeit zurückblicken, wie können sie da an Unschuld und Güte glauben? oder wie können sie etwas anders sein, als Söhne der Selbstsucht und des Teufels? Aber mein Junge,« und des Barons Stimme sank zu einem Ton herab, der rührend zu hören war, »wenn mein Junge fällt, dann fällt er von einer Region wirklicher Reinheit. Daran kann er niemals zweifeln. Wie dunkel auch sein Leben wird, er wird das führende Licht seiner Vergangenheit hinter sich haben. Das wenigstens ist sicher.«

Im Ton tiefster Überzeugung unsinnig oder poetisch zu reden oder eine Mischung von beidem, und feierlichen Widerspruch gegen überlieferte Ansichten in so feierlichem Tone auszusprechen, daß es den Eindruck höchster Einsicht hervorruft, das ist die besondere Gabe, durch welche Leute mit einer fixen Idee, nachdem sie sich selbst überzeugt haben, versuchen, auch ihre Umgebung zu beeinflussen, um durch diese die größere Hälfte der Welt im Guten oder im Bösen zu erobern. Sir Austin hatte diese Gabe. Er sprach, als ob er die Wahrheit vor sich sähe, und beharrte so lange dabei, daß diejenigen, die ihn nicht verstanden, ihm glaubten, und diejenigen, die ihn verstanden, still wurden.

119 »Wir werden ja sehen,« war alles, was Dr. Clifford und andern Ungläubigen dagegen einzuwenden blieb.

So weit war das Experiment entschieden gelungen. Man konnte sich keinen hübscheren, stattlicheren, besseren Knaben vorstellen. Er war zweifellos sehr vielversprechend. Und wenn auch das Fahrzeug noch im Hafen lag und sich noch nicht in der Gewalt der Elemente auf dem offenen Meere bewährt hatte, so hatte es doch schon eine gute Probefahrt gemacht und stürmisches Wetter bestanden, wie es die Bakewell-Komödie bewiesen hatte, deren Zeuge man in Raynham gewesen war. Keine Vorzeichen konnten hoffnungsvoller sein. Das Schicksal müßte in der Tat dunkel und hart sein, die Prüfung schwer, um einen so glänzenden Frühling zu zerstören! Aber so glänzend er auch war, der Baron ließ in seiner wachsamen Aufsicht nicht nach. Er sagte zu seinen Vertrauten: »Jede Handlung, jede Neigung, der er folgt, beinahe jeder Gedanke dieser Blütezeit trägt den Samen der Zukunft in sich. Der lebendige Baum bedarf jetzt unausgesetzter Wachsamkeit.« Und dieser Auffassung gemäß wachte Sir Austin. Der Jüngling mußte sich jeden Abend, ehe er zu Bett ging, einer Prüfung unterwerfen; vorgeblich um einen Bericht über seine Studien zu geben, in Wahrheit aber, um seine moralischen Erfahrungen kurz zu wiederholen. Er konnte es tun, denn er war rein. Irgend eine Wildheit, die sein Vater in ihm fand, irgend welche fremdartigen oder phantastischen Ausdrücke wurden, als der Blütezeit eigentümlich, vermerkt. Es gibt nichts, was einen Weisen so blind machen kann, wie eine Theorie. Sir Austin wußte, trotz seiner strengen Behütung und Beobachtung, weniger von seinem Sohne als die Dienstboten des Hauses. Und er war ebenso taub wie blind. Adrian hielt es für seine Pflicht ihm mitzuteilen, daß der Jüngling sehr viel Papier verbrauche. Auch Lady 120 Blandish spielte auf seinen Hang zum Schwärmen an. Sir Austin behauptete, daß er das von dem erhabenen Wachtturm des Systems vorausgesehen hätte. Aber als er hörte, daß der Jüngling dichtete, fühlte sich sein Herz verwundet und sehr beunruhigt.

»Sie wußten doch sicherlich, daß er schriftstellert?« sagte Lady Blandish.

»Das ist etwas ganz anders, als dichten,« sagte der Baron, »kein Feverel hat je Verse geschmiedet.«

»Ich halte es nicht für ein Zeichen der Entartung,« bemerkte die Dame, »meiner Meinung nach reimt er sehr hübsch.«

Ein Londoner Phrenologe und ein befreundeter Oxforder Professor beruhigten Sir Austin.

Der Phrenologe sagte, daß es Richard vollständig an der Gabe der Nachahmung fehle, und der Professor sagte dasselbe in bezug auf sein rhythmisches Gefühl, und zum Trost führte er in den Ergüssen, die ihm vorgelegt wurden, verschiedene falsche Verslängen an. Außerdem konnte Sir Austin Lady Blandish noch mitteilen, daß Richard auf sein Geheiß das getan hätte, was noch nie ein Dichter vor ihm vollbrachte, er hätte mit eignen Händen und kalten Blutes sein jungfräuliches Manuskript den Flammen übergeben, was Lady Blandish den Seufzer entlockte: »Armer Junge!«

Sein eignes Lieblingskind töten zu müssen, ist eine harte Aufgabe. Von einem Jünglinge, der sich für einen Dichter hält, zu verlangen, daß er in seiner Blütezeit sein Erstgeborenes zerstören soll, ohne ihm einen Grund dafür anzugeben – obgleich es Hohn wäre zu behaupten, daß irgend ein Grund zwingend genug wäre für solch ein Verlangen – ist eine Tat des abscheulichsten Despotismus, und Richards Blüten welkten darunter. Man hatte einen fremden Mann zu ihm geführt, der seinen Schädel mit 121 steifen Fingern scharfsinnig untersuchte und erforschte und seine Seele zu Boden drückte, als er mit unfehlbarer Stimme erklärte, was für eine Art von Tier er wäre, und ihm so sehr das Gefühl erweckte, ein Tier zu sein! Nicht nur seine Blüten welkten, sein ganzes Wesen schien seine Triebe und Schößlinge einzuziehen. Und als noch zu alledem – der fremde Mann hatte seine Arbeit getan und war abgereist – sein Vater in seiner sanftesten Weise sagte, daß es ihn freuen würde, wenn er jene verfrühten, gänzlich wertlosen Kritzeleien im Feuer sähe, fiel auch die letzte Blüte ab. Richards Geist stand kahl. Er widersetzte sich nicht. Wenn man so etwas überhaupt von ihm verlangen konnte, dann wollte er auch nicht einen Augenblick mit der Ausführung zögern. Er bat seinen Vater ihm zu folgen, ging an eine Kommode in seinem Zimmer, und aus einem Wäschefach, das Sir Austin nicht im Verdacht gehabt hatte, zog der verschwiegene Jüngling ein Bündel nach dem andern heraus, jedes sorgfältig gebunden, mit Nummer und Namen versehen, und warf alles in die Flammen. Und so lebe wohl, du junger Ehrgeiz, und lebe wohl, jedes wahre Vertrauen zwischen Vater und Sohn!

 


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