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Fünfzehntes Kapitel.

»Wie voll von Wundern ist doch die Welt!« – Pats Großmutter. – Hans hat einen gescheiten Gedanken.

 

Karl hatte zuerst die Sachlage begriffen und seine Fassung wiedergewonnen. Er sprang herzu, riß Hans von dem Räuber, der dem Tode nahe zu sein schien, los und schloß ihn stürmisch an sein Herz.

Nun kamen auch Heinrich und Philipp herbei.

»Ist es denn möglich?« rief der erstere. »Du lebst?«

»Und du kannst sehen?« fügte der letztere hinzu.

Und lachend und weinend vor Freude überhäuften sie den Erstandenen mit Liebkosungen, die dieser aber nur schwach erwiderte, denn jetzt, nachdem die Erregung in ihm nachgelassen hatte, folgte auf die gewaltsame Anspannung aller Kräfte der notwendige Rückschlag. Eine Schwäche überkam ihn, und er wäre niedergesunken, wenn die andern ihn nicht aufgefangen und sorglich auf sein Bett getragen hätten.

Auf Goring achtete keiner, der lag bewußtlos am Boden.

Als Hans ruhig auf den Kissen lag und sich zusehends wieder erholte, eilte Philipp an Deck hinauf und gab aus seinem Revolver drei Schüsse ab.

Wie er vorausgesehen hatte, erregten dieselben die Aufmerksamkeit der am Lande Befindlichen; alle Mann rannten zu den Booten, und bald darauf stiegen Friedrich und Johann Bernsdorf mit ihren Begleitern über die Reling.

»Was ist geschehen?« fragte der letztere hastig. »Ich will nicht hoffen, daß du dir nur einen Scherz erlaubt hast. Die Zeit wäre dazu, schlecht gewählt.«

»Im Gegenteil, Vater«, lachte Philipp fröhlich. »Jetzt wollen wir lustig sein, so lustig wie noch nie!«

Damit machte er ein paar Luftsprünge und stieß zugleich einen hellen Jauchzer aus, der in den Schluchten des Eisberges widerhallte.

Da faßte der Vater ihn hart am Arm.

»Laß die Tollheiten und stehe mir Rede!« gebot er finster und streng. »Wenn du in dieser ernsten Stunde –«

»Es sind ja keine Tollheiten, lieber Vater«, entgegnete Philipp, bittend. »Ich bin nur so froh und glücklich darüber, daß unser Hans wieder lebt!«

Friedrich Bernsdorf taumelte zwei Schritte zurück, als hätte ihn ein Schlag getroffen.

»Was sagst du da?« stammelte er. »Habe ich recht gehört?«

»Ja, Onkel«, antwortete Philipp. »Dein Sohn Hans ist wieder lebendig geworden.«

Friedrich hielt sich an der Schulter seines Bruders; es war ihm, als drehe sich das Schiff, das Meer, der Himmel mit ihm in der Runde.

»Wo ist er?« stieß er hervor.

»Gegenwärtig wieder in seiner Koje«, versetzte Philipp. »Heinrich und Karl sind bei ihm und auch Freund Goring.«

Und in kurzen Worten schilderte er die Szene, deren Zeugen sie in der Kajüte geworden waren.

»Komm, Bruder«, sagte Friedrich zu Johann. »Noch kann ich es kaum fassen und glauben.«

Sie stiegen die Kajütentreppe hinunter.

Goring lag noch immer bewußtlos am Boden.

Heinrich und Karl standen neben Hansens Lager.

Die offene, erbrochene Schublade, die auf dem Teppich zerstreuten Papiere, Banknoten und Münzen redeten eine so deutliche Sprache, daß es einer weiteren Erklärung nicht bedurfte.

Hans lag auf seinem Bett; er erholte sich nur langsam von dem überstandenen Kampfe mit dem Einbrecher.

Sein Vater beugte sich über ihn, wortlos, aber glücklich. Die höchste Freude ist stumm ...

Nach und nach begann man den zu neuem Leben, zu neuem Lichte Erweckten auszufragen. Es währt jedoch eine lange Weile, ehe dessen Erinnerungen einigermaßen klar wurden.

Anfänglich wußte er nur, daß er krank gewesen sei und in einer Art Halbtraum gelegen hatte, bis er schließlich die Augen wieder öffnete und Goring in der offenen Schublade kramen sah.

Erst allmählich erinnerte er sich auch des Blitzes und seiner Erblindung und endlich auch der todesähnlichen Erstarrung, die ihn in Bande schlug.

Nun stand alles wieder lebhaft vor seiner Seele.

»O lieber Vater,« sagte er, »du kannst dir gar nicht denken, was ich gelitten habe! Dunkel, traumhaft, aber doch auch wieder ganz deutlich wurde ich mir bewußt, daß ihr alle mich für tot hieltet. Ich war also scheintot; diese Erkenntnis erfüllte mich mit unbeschreiblicher Angst. Wie lange ich so lag und mich mit tausend Befürchtungen zermarterte, das weiß ich nicht. Ich sah nichts, aber ich hörte alles; vergeblich versuchte ich mich zu bewegen; ich lag wie eingemauert. Ihr redetet von meiner Beerdigung, und meine Angst überstieg alle Grenzen. Dann wurde es plötzlich Licht um mich; ich lag mit offenen Augen und sah den Matrosen Goring in die Kajüte treten. Er schaute sich nach mir um, und ich merkte an seinem ganzen Wesen, daß er etwas Böses im Schilde führe. Noch konnte ich mich nicht rühren, daher schloß ich wieder die Augen, damit er mir nichts zuleide täte. Verstohlen aber beobachtete ich ihn. Er brach die Schublade auf, und ich hörte das Geld unter seinen Fingern klingen und klirren. Ein heftiger Zorn erfaßte mich, und zu meiner Freude gewahrte ich, daß ich die Hände ballen konnte. Ich bot meine ganze Willenskraft auf, mich zu bewegen; da schwand die Lähmung mit einem Schlage, und ehe ich mich noch recht besann, war ich schon aus der Koje und hatte den Spitzbuben am Halse. Den Schrei aber, den er ausstieß, als er mich sah, den werde ich in meinem Leben nicht vergessen.«

»Er schrie aber auch gar zu entsetzlich, gar nicht mehr wie ein Mensch«, sagte Philipp.

»Was Wunder,« meinte Karl lächelnd, »wenn die Toten aufstehen und ihm die Luft abdrücken! Mich wundert nur, daß er vor Schreck nicht gleich gestorben ist.«

»An sein Gesicht werde ich noch lange denken«, bemerkte Heinrich. »Das war ja beinahe schwarz, und die Augen sprangen ihm fast aus den Höhlen. Hans muß ihn fürchterlich gepackt haben. Er ist übrigens wieder zu sich gekommen, aber sein Verstand scheint einen Knacks gekriegt zu haben, wenigstens stiert er ganz dumm um sich und versteht nicht, wenn man zu ihm spricht.«

»Wahrscheinlich simuliert er«, sagte Karl. »Aber lassen wir ihn. Unser Hans lebt, kann wieder sehen und auch zupacken, das genügt. Mir ist's wie ein Traum!«

»Mir war's so, jetzt aber spüre ich die Wirklichkeit«, lächelte Hans. »Gott sei Dank dafür!«

»Ja, Kinder, Gott sei Dank dafür!« wiederholte der Vater bewegt.

»Von Herzen,« nickte Johann Bernsdorf, »von Herzen! ... Da höre ich den Kapitän und die Leute an Bord kommen. Rufe sie herunter, Philipp.«

Philipp sprang leichtfüßig die Treppe hinauf, und gleich darauf erschienen nicht nur der Schiffer und der Steuermann, sondern auch Lot, Hiob, Morton, Pat und Murphy, der Junge, in der Kajüte.

Der Kapitän wollte erst seinen Augen gar nicht trauen.

»Hab' ich auf allen meinen Fahrten je so etwas erlebt!« rief er in höchstem Erstaunen. »Wie voll von Wundern ist doch die Welt!«

»Das ist richtig«, raunte Pat seinen Gefährten zu, mit denen er zur Tür hereinlugte. »Da liegt er, so lebendig wie ein Fisch, ja, justement wie meine alte Großmutter!«

»Dummkopf!« herrschte Lot ihn an. »Wie kann Master Hans wie deine alte Großmutter daliegen! Da ist doch noch ein ganz Teil Unterschied.«

»Das sagst du, ich aber weiß es besser«, entgegnete der Irländer. »War meine Großmutter vielleicht nicht gestorben, gerade wie der junge Mann da? Und ist sie vielleicht nicht wieder aufgelebt, justement in dem Augenblick, als wir den alten Strumpf aus dem Bettstroh zogen, wo sie ihr gespartes Geld drin aufbewahrte? Wie? Na siehst du, habe ich also nicht recht? Ich kann dir sagen, wir haben uns damals nicht schlecht geärgert.«

»Kann ich mir denken«, brummte Lot.

Inzwischen hatte Armstrong den Patienten beglückwünscht.

»Den Goring aber,« so schloß er seine Rede, »den hängen wir an die Nock der Fockrahe. Sein Maß ist voll.«

Damit sah er sich nach dem Elenden um, der sich vom Boden aufgerafft hatte und nun, an den Tisch gelehnt und hin und her schwankend, die Anwesenden mit blödem Grinsen betrachtete.

»Goring!« fuhr der Schiffer ihn hart an.

Der Gerufene stierte irr im Kreise herum und lachte.

»Er ist durchgedreht, beim Donner!« rief Armstrong. »Der Schreck hat ihn verrückt gemacht!«

Aller Augen richteten sich auf den Elenden, der stumpf vor sich hin kicherte und einige Silbermünzen betrachtete, die er in der Hand hielt.

»Wir müssen ihn an Land schaffen«, fuhr der Kapitän fort. »Hiob und Lot, führt ihn an Deck. Wir andern wollen auch hinauf, Hans und Mr. Bernsdorf wünschen hier unten Ruhe zu haben. Also vorwärts!«

Die ganze Schar verließ die Kajüte.

Hiob und Lot hatten Goring in die Mitte genommen; der unselige Mensch war völlig hilf- und willenlos. An seinem Halse zeigten sich noch deutlich die dunklen Fingermale, die Hansens Griff zurückgelassen hatte. Der plötzliche Überfall durch den Totgeglaubten hatte ihn um den Verstand gebracht. Mußte er doch wähnen, daß der Leichnam wider ihn aufgestanden war, um seine Schandtat zu strafen, und was die würgenden Hände des unheimlichen Rächers begonnen, das vervollständigten der Schreck, der Aberglaube und die Stimme des Gewissens.

Der Kapitän übergab ihn der Obhut des Irländers, der ein ganz besonderes mitleidiges Interesse für den armen Teufel empfand, weil die ganze Sache ihn so lebhaft an seine Großmutter erinnerte, die auch so unerwartet – und unverlangt, wie er hinzusetzte – aus dem Todesschlafe wieder erwacht war.

»Hat man je so was für möglich gehalten!« sagte der Schiffer zu seinem Steuermann. Der alte Seebär konnte sich von seinem Erstaunen noch gar nicht erholen.

Der Steuermann schüttelte den Kopf und schwieg, Lot aber warf einen fragenden Blick auf seinen Partner, und da er in dessen braunem Gesicht Ermutigung zu finden schien, warf er die Bemerkung hin:

»So sehr merkwürdig ist das nun gerade nicht, so was kommt schon vor.«

»Oh, du meinst also, Schwarzer?« entgegnete der Schiffer belustigt.

»Ja, Kapitän, das mein' ich. Fragt Hiob, der wird dasselbe sagen. Wir haben einen Mann gekannt, der drei Wochen und vier Tage scheintot gelegen hat und dann fröhlich wieder aufgewacht ist. Wie ich den Master Hans so liegen sah, da sagte ich zu meinem Freund Hiob: Du, Hiob, sagt' ich, vergiß meine Worte nicht! – Hab' ich das nicht gesagt, Partner?«

»Ja, Lot, das hast du gesagt«, bestätigte der Mulatte mit großem Nachdruck.

»Was waren denn aber deine Worte?« fragte Stevens. »Raus damit, laß hören, Lot.«

»Meine Worte waren: ›Paß auf, Hiob, die Sache ist noch nicht zu Ende!‹ Das waren meine Worte, und die Sache war auch noch nicht zu Ende.«

»Noch lange nicht«, nickte Hiob. »Lot hatte recht; wie er's sagte, so ist's auch gekommen.«

»Und du warst ganz meiner Meinung, Hiob«, sagte Lot mit gönnerhaftem Wohlwollen, um des Freundes treue Gefolgschaft zu belohnen. »Wir waren einverstanden miteinander wie immer, und so geschah es auch, wie wir vorausgesehen hatten.«

»Ihr seid ein ganz prachtvolles Paar!« lächelte der Schiffer.

Das hörte Philipp, der in diesem Augenblick herankam.

»Aha,« lachte er, »Lot und Hiob haben gewiß wieder vorher gewußt, daß Hans wieder zu sich kommen würde; hatten sie das nicht gleich gesagt, wie?«

»Natürlich«, versetzte Stevens. »Das bedarf wohl keiner Frage. Aber, im Ernst geredet, wie ist der ganze Vorgang wohl zu erklären?«

»Nicht allzu schwer, meine ich«, nahm jetzt Karl das Wort. »Die allmähliche Erstarrung des Körpers war eine Folge der Erschütterung der Nerven durch den elektrischen Schlag. Während dieses Zustandes völliger Ruhe aber erholte sich das ganze System wieder; das Leben, das nur betäubt und unterdrückt gewesen, trat aufs neue in seine Rechte, eine starke Willenskraft kam ihm zu Hilfe, dazu ein starkes, intensives Verlangen – nämlich das Verlangen, Goring an die Kehle zu fahren – und die Auferstehung fand statt. So erkläre ich mir wenigstens die Geschichte.«

»Ich erinnere mich, einmal irgendwo gelesen zu haben,« erzählte der Kapitän, »wie ein taubstummer Mensch, ein Seemann, der durch eine Krankheit in den Tropen Gehör und Sprache verloren hatte, ins Theater ging, um einen berühmten Komiker zu sehen. Er stand mit einigen Kameraden auf der Galerie, und als die anderen sich über die Späße des Komikers vor Lachen ausschütten wollten, rief auch er plötzlich: ›Donnerwetter! Ist das ein drolliger Kerl!‹ – In einem Augenblick hatte er Sprache und Gehör wiedergefunden, infolge des starken, intensiven Verlangens – wie Master Karl sich ausdrückte – seine Fröhlichkeit zu äußern. Die Geschichte soll wahr sein.«

Lot und Hiob wechselten Blicke und nickten einander zu, ohne jedoch etwas zu sagen.

Dem Schiffer und den anderen entging diese Pantomime nicht. Da fing der Steuermann an:

»Erscheint euch das so unglaublich, Schiffsmaaten?« fragte er. »Unser Kapitän ist doch nicht der Mann, der sich dazu hergibt, Unsinn und Unwahrheiten zu verbreiten; ihm könnt ihr wohl Glauben schenken.«

»Tun wir auch«, antwortete Lot. »Ich weiß nämlich genau, daß die Geschichte wahr ist, Mr. Stevens, ganz genau.«

»Was du sagst«, versetzte der Steuermann. »Hattest du sie auch zufällig gelesen oder gehört?«

»Das nicht,« entgegnete Lot ruhig, »aber ich selber bin jener Mann, der da taub und stumm gewesen ist, und Hiob war auch dabei, mit Respekt zu sagen.«

»Ja, so ist's«, bekräftigte Hiob mit einem scheuen Blick auf den Kapitän.

Ein dröhnendes Gelächter erhob sich, und während die Anwesenden sich vor Lustigkeit kaum zu lassen wußten, begab sich das würdige Paar in eins der Boote und ruderte dem Lande zu, wo es genug zu tun gab, und wo Troll das Zelt bewachte.

»Du, Lot,« sagte Hiob, als sie das Fahrzeug am Eise festlegten, »dem hast du's gut gegeben.«

»Hiob,« versetzte der Schwarze, »ohne deinen Beistand wäre ich ein Pikkaninny, ein Säugling. Wenn ich dich nicht immer als Zeugen hätte, dann käme ich doch manchmal höllisch in die Klemme.«

»Du, Lot? Nimmermehr! Und alles war doch auch nicht gelogen. Du hast zu mir gesagt: ›Vergiß meine Worte nicht!‹ Das kann ich beschwören.«

»Das stimmt, Partner. Aber jetzt brauchst du dich nicht mehr zu ereifern, hier hört uns keiner, übrigens ist und bleibt es ein blaues Wunder, daß Master Hans wieder von den Toten auferstanden ist! Dir kann ich's ja gestehen, in meinem ganzen Leben ist mir so was noch nicht vorgekommen!«

»Mir auch nicht, Partner – da uns ja doch keiner hört.«

Sie schritten über das Eis dem Lande zu.

Plötzlich blieb Lot stehen.

»Ist das dort nicht ein Walroß?« rief er, nach einer Gruppe von Eisblöcken deutend, zwischen denen ein dunkler Gegenstand sichtbar war.

»Ja, Partner.«

»Es kann auch ein Seelöwe sein!«

»Ja, Partner, es kann auch ein Seelöwe sein.«

»Den müssen wir fangen! Bist du dabei?«

»Ja, Partner.«

Sie eilten dem Zelte zu, versahen sich mit Spießen und Schußwaffen und machten sich dann auf, das Wild auf Umwegen und gegen den Wind zu beschleichen.

Troll blieb auf ihren Befehl zurück ... – –

Wir lassen die kühnen Jäger auf ihrem Streifzuge und begeben uns wieder an Bord der »Seeschlange«, wo anstatt der früheren gedrückten und kummervollen Stimmung jetzt aufs neue ein frisches und tatkräftiges Leben herrschte.

Der Steuermann hatte festgestellt, daß innerhalb der letzten Stunden der Schoner kaum merklich tiefer gesunken war. Die Ausräumungsarbeiten nahmen daher ihren Fortgang.

Hans Bernsdorf erholte sich zusehends, auch sein Augenlicht war ganz wiederhergestellt. Es kam jetzt nur noch darauf an, die geschwundenen Kräfte durch gute Ernährung wiederzuersetzen, und zu diesem Zweck schaffte man ihn an Land, bettete ihn in das tüchtig geheizte Zelt und überließ ihn der Fürsorge und Pflege des Schiffsjungen Murphy, der dazu besonders geeignet war, da er, wie wir wissen, zugleich der Küche des Schoners vorzustehen hatte. Soviel als möglich hielten sich auch seine Vettern und sein Bruder bei ihm auf, um ihm die Zeit zu vertreiben. Das Hauptthema des Gespräches bildete naturgemäß stets das unerklärliche Sinken des Schoners.

»Es muß etwas Belastendes an seinem Kiel sitzen oder vielmehr hängen«, bemerkte Hans bei einer dieser Gelegenheiten, als die anderen wieder bei ihm saßen.

»Gewiß,« sagte Philipp, »Eis.«

»Eis schwimmt doch aber«, versetzte Hans sinnend. »Eis allein würde den Schoner eher emporheben als hinabziehen.«

»Das ist aber nicht der Fall«, entgegnete Philipp. »Der Schoner sinkt mehr und mehr.«

Es entstand eine lange Pause.

Dann fing Hans wieder an:

»Hat man den Boden des Fahrzeugs untersucht? Ich meine, ist ein Taucher unten gewesen?«

»Nein, zum Tauchen ist's doch wohl zu kalt.«

»Wenn Vater an Land kommt, dann möchte ich ihn gern sprechen«, sagte Hans. »In einer Sache von größter Wichtigkeit«, setzte er hinzu.

»Was hast du im Sinne, Hans?« fragte Karl besorgt. »Mache dich nicht wieder krank durch zu viel Grübeln und Denken.«

» Oh, that is all right«, antwortete der Patient. »Sorge dich nicht um mich, mir ist schon wieder ganz wohl.«

Damit schloß er die Augen und lehnte sich zurück, um nicht weiter Rede stehen zu müssen.

Karl und Philipp gingen wieder an Bord, nur Heinrich blieb zurück.

Auf Hansens Drängen gab der letztere nunmehr eine genaue Schilderung von dem Zustande des Schoners. Hans lauschte aufmerksam, und mehr und mehr wurde ihm die Richtigkeit der Ansicht, die er sich über die Ursache der eigentümlichen Erscheinung gebildet hatte, zur Gewißheit.

Er wollte sich jedoch hierüber gegen keinen anderen als seinen Vater aussprechen. Es blieb daher seinem Bruder schließlich nichts übrig, als den Vater herbeizuholen.

Es verging eine Stunde, ehe Friedrich Bernsdorf den Schoner verlassen und an Land kommen konnte.

Er fand das Aussehen seines Sohnes auf das erfreulichste verändert. Fröhlich reichte er demselben die Hand.

»Nun, Hans, was gibt's?« fragte er. »Du hast mir etwas zu eröffnen, wie ich höre.«

»Ja, Vater«, antwortete der Knabe; »ich habe über den Schoner nachgedacht. Er hat etwas an seinem Kiel hängen.«

»Das hat er mein Junge. Eis, und das einen tüchtigen Klumpen.«

»Nein, Vater, nicht nur Eis. Es muß vielmehr irgendein schwerer Körper in dem Eise stecken, der dasselbe, je mehr er sich durch Schmelzen verringert, desto tiefer hinabzieht, und mit ihm natürlich den in das Eis hineingekeilten Schoner.«

Friedrich Bernsdorf machte große Augen.

»Höre, Hans,« sagte er, »das ist ein gescheiter Gedanke von dir. Das scheint mir einleuchtend!«

»Es kann gar nicht anders sein, Vater«, fuhr Hans fort. »Warum sollte sonst der Schoner, der ganz dicht und unversehrt ist, nicht flott bleiben?«

»Das fragten wir uns auch«, versetzte Friedrich. »Heinrich, spute dich und hole uns den Onkel Johann her.«

Heinrich eilte davon.

Vater und Sohn erwogen die Angelegenheit sorgfältig von allen Seiten.

»Warum habt ihr denn aber nicht gleich zu Anfang einen Taucher hinuntergeschickt?« war Hansens fast ungeduldige Frage.

»Aus dem einfachen Grunde, weil sich unter unseren Leuten keiner befindet, der tauchen kann oder will«, antwortete der Vater.

»Das ist sehr bedauerlich«, klagte der Knabe erregt. »Denn verlaß dich darauf, es ist so, wie ich sagte. Ein schwerer Gegenstand hängt, in das Eis eingeschlossen, am Boden des Schoners; schmilzt das Eis, dann wird dieser Gegenstand frei und versinkt, während die ›Seeschlange‹ ebenfalls frei wird und wieder schwimmen lernt.«

»Es geht doch nichts über die Erleuchtung des menschlichen Hirnkastens durch solch einen Blitz!« rief der Onkel Johann, der soeben in das Zelt getreten war und Hansens letzte Worte gehört hatte. »Friedrich, dein Junge hat recht! Wir müssen alles aufbieten, den Eisklumpen vom Kiel loszukriegen.«

»Aber wie?« warf Friedrich ein.

»Das wird sich finden. Aber ist es nicht toll, daß noch keiner von uns auf den Gedanken gekommen ist, daß solch ein Kind uns erst darauf bringen muß?«

»Bitte, Onkel, ich bin kein Kind mehr, ich gehöre schon längst zu den jungen Männern, die mit im Rate der Krieger sitzen«, lächelte Hans.

»Ja, ja, du bist ein verständiger Junge«, lobte der Onkel, ihm den Kopf streichelnd. »Aber nun komm, Friedrich. Vielleicht bewegen wir Lot dazu, unter den Kiel zu tauchen und uns Bericht zu erstatten, wie es da aussieht. Komm, wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Die Brüder gingen, um Lot und Hiob zu suchen; diese aber hatten sich hinter das Walroß hergemacht und waren nun nirgends zu finden. Es blieb daher nichts übrig, als die Sache zunächst mit dem Kapitän und Stevens zu beraten.

»Wenn's nicht anders sein kann, dann will ich wohl selber hinunter tauchen, obwohl ich solch ein Kunststück noch niemals versucht habe«, sagte der Steuermann nach kurzer Überlegung. »Ich bin nicht von Zucker und auch nicht von Salz, werde also da unten im Wasser nicht zergehen.«

»Sehr brav von Euch, Steuermann,« entgegnete der Schiffer, »aber wir können Euer Anerbieten nicht annehmen. Ihr würdet Euch in Gefahr bringen, ohne uns etwas nützen zu können. Nein, ich denke, wir sprengen das Eis ab; wir haben Sprengöl an Bord. Wenn wir ein Quantum davon in eine der Blechbüchsen einschließen, in denen unsere Konserven sind, die Büchse beschweren und auf das Eis hinabsenken und dann das Sprengöl durch Schlag oder Stoß zum Explodieren bringen –«

»Dann fliegen wir alle mit dem Schoner in die Luft«, unterbrach ihn Hansens Vater.

»Und die ganze Frage wäre auf einmal prompt erledigt«, fügte Johann Bernsdorf hinzu.

»Wenn wir unvorsichtig zu Werke gehen wollten, dann könnte das allerdings so kommen«, lächelte der Schiffer.

Man beriet und erwog noch eine Weile hin und her, und schließlich nahm man den Vorschlag des Kapitäns an.

Der Steuermann machte sich an die Ausführung. Eine Blechbüchse, in der vorher Weißkohl mit Hammelfleisch enthalten gewesen war, wurde mit Sprengöl gefüllt und bei der Großwant vorsichtig auf das Eis hinabgelassen. Bei der Klarheit des Wassers und dem hellen Wetter konnte man die Büchse ganz deutlich auf dem grünlichweißen Eise stehen sehen.

Sodann brachte der Steuermann einen sogenannten »Kuhfuß« herbei, ein langes und schweres Brecheisen, dessen man sich beim Stauen der Ladung bedient. Dasselbe sollte, an eine Leine gebunden, ins Wasser hinunterfallen, die Büchse treffen und den Sprengstoff zum Explodieren bringen.

»Wer bei der Sache nichts mehr zu tun hat, der hat sich jetzt an Land zu verfügen«, befahl der Kapitän. »Niemand bleibt an Bord als der Steuermann und ich.«

»Und weshalb, wenn man fragen darf?« entgegnete Johann Bernsdorf.

»Weil das Ding vielleicht doch schief gehen kann, und ich nicht Lust habe, für euer aller Leben verantwortlich zu sein. Es genügt, wenn schlimmstenfalls wir beide, Stevens und ich, dabei zum Kuckuck gehen.«

»Wenn das so ist, dann verbiete ich als Unternehmer der Expedition dieses Experiment«, sagte Johann mit Entschiedenheit, indem er zugleich dem Steuermann den Kuhfuß aus der Hand nahm. »Meint Ihr, daß ich zwei Menschenleben auf dem Gewissen haben will?«

»Ich muß dir beipflichten, Bruder«, stimmte Friedrich ein. »Solch eine Explosion ist bei aller Vorsicht immer gefährlich, namentlich, wenn man sie unmittelbar unter seinen Füßen veranstaltet. Dabei kann leicht alle Berechnung in die Brüche gehen. Wie wär's, wenn wir den Sprengstoff vom Boot aus durch einen Schuß entzündeten?«

»Bravo!« rief der Steuermann. »Wir laden einen der dicken eisernen Zeltpflöcke in die Kanone, geben derselben die nötige Depression, feuern los –«

»Und treffen nicht!« lachte der Schiffer.

»Das laßt meine Sorge sein, Kapitän«, rief Stevens. »Zweimal kann ich fehlen, das drittemal treffe ich sicher. Und Pflöcke sind auch genug da.«

Die Kanone war bereits an Land geschafft. Es erforderte die Arbeit einer Stunde, auf dem Großboot eine Plattform anzubringen und das Geschütz auf dieser zu befestigen. Endlich war alles bereit. Das Großboot wurde von der Jolle ins Schlepptau genommen und bis in die Nähe des Schoners bugsiert.

Hier ließ der Steuermann das Boot so lange hin und her bewegen, bis er auf eine Stelle gekommen war, wo der auf den Wasserspiegel fallende Schatten des Schoners einen ungehinderten Blick in die Tiefe gestattete.

»Seht Ihr die Büchse, Steuermann?« rief Armstrong.

»Ja.«

»Denkt beim Zielen an die Brechung der Lichtstrahlen im Wasser.«

»Ach was, das Eis will ich brechen und nicht die Lichtstrahlen«, lautete die Antwort, welcher unmittelbar der Schuß folgte.

Ein dumpfer Krach, eine Erschütterung der Boote, ein gurgelndes, schäumendes Aufwallen der See, dann ein lautes, jubelndes Hurra!

Von seiner Last befreit, schaukelte der Schoner auf dem heftig bewegten Wasser, das sich plötzlich rings um ihn mit großen Eisstücken bedeckt hatte, hin und her.

Man wartete, bis die See wieder ruhig geworden war und schob dann die Boote durch die Eisstücke an das Schiff heran.

Die ›Seeschlange‹ saß leicht und graziös auf dem Wasser; ihr Heck hatte sich um drei Fuß gehoben, nur der Vordersteven ruhte noch leicht auf dem Eisberge.

Zwischen den treibenden Eisstücken aber erblickte man nun das in einer Tiefe von etwa zehn Faden festliegende Grundeis und auf demselben, senkrecht unter dem Schoner, einen dunklen, unregelmäßig geformten Gegenstand – einen Felsblock.

Das war der schwere Gegenstand gewesen, der in dem Eise gesteckt und unseren Freunden so bange Sorge verursacht hatte.


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