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Vierzehntes Kapitel.

Goring zeigt sich als schlimmer Gesell. – »Der Alte schlägt keine schlechte Handschrift.« – Hans stirbt. – Warum Goring so schrecklich heulte.

 

Noch standen die drei Männer, denen die Verantwortlichkeit für das Wohl des Schiffes und den Verlauf der Expedition oblag, wortlos beieinander, als Friedrich Bernsdorf sich zu ihnen gesellte.

»Nun?« rief er. »So still und sorgenvoll? Was gibt's denn? Meinem armen Hans geht's übrigens besser. Die Augen schmerzen ihn nicht mehr, und gegenwärtig schläft er sanft und ruhig. Aber was macht Ihr denn für ein Gesicht, Kapitän?«

Der Schiffer sah die beiden anderen an. Der Steuermann blickte weg, Johann aber nahm das Wort und teilte seinem Bruder mit, welche neue Gefahr für das Schiff und aller Leben im Anzuge war.

Friedrich sann betroffen eine Weile nach. Dann sagte er:

»Die einzige Erklärung für diese Erscheinung ist meiner Ansicht nach die, daß das Eis, auf welchem der Schoner festsitzt, sich tiefer und tiefer senkt und das Fahrzeug mit sich zieht.«

»Das ist nicht unmöglich,« versetzte Johann, »vorausgesetzt, daß der Schoner sich beim Auflaufen in einer Spalte des Eises festgeklemmt hat. Anderseits aber, können denn Eisberge überhaupt sinken?«

»Das nicht,« antwortete der Schiffer, »aber sie können sich auf einer Seite senken, wenn sie Umfallen wollen.«

»Allmächtiger Gott!« rief Friedrich. »Dann hätten wir ja zu erwarten, daß der Berg demnächst über uns herstürzt!«

»Das haben wir, Mr. Bernsdorf«, sagte der Kapitän dumpf »Morgen sind wir wahrscheinlich alle schon im Himmel, wenn wir nicht so schnell wie möglich in die Boote gehen und uns ans Land retten.«

»Dann wären wir also auf diese Weise am Ende unserer Expedition angelangt«, bemerkte Johann langsam und mit großer Fassung. »Wir müssen die Leute vorsichtig davon in Kenntnis setzen, damit keine Verwirrung entsteht. Vor allen anderen muß der arme Hans berücksichtigt werden.«

Armstrong rief die Mannschaft nach hinten.

»Leute«, nahm Johann auf des Schiffers Wink das Wort, »hört mir zu. Wir haben im ganzen keine ungünstige Reise gehabt, bis wir hier auf dieses Eis aufliefen, auf dem wir nun festsitzen. Wir sind dadurch in eine gewisse Gefahr geraten, was auch euch wohl bereits klar geworden ist.«

Die Leute bestätigten dies, gaben aber auch zugleich zu erkennen, daß sie dadurch nicht entmutigt worden seien.

»Das höre ich gern«, fuhr Johann fort. »Ich sehe, daß wir uns aufeinander verlassen können. Mittlerweile aber hat sich noch ein sehr merkwürdiges Ding ereignet – vielmehr, es ereignet sich noch immer. Habt ihr auf die Veränderung der Wasserlinie des Schoners geachtet?«

»Nein!« riefen die Leute, und zwei von ihnen schauten über Bord.

»Der Schoner sinkt!« ertönte ihr erschrockener Ruf.

Johann schwieg.

»Ja, der Schoner sinkt«, sagte der Schiffer. »Die ›Seeschlange‹ ist verloren, wenn es uns nicht gelingt, die Ursache des Sinkens festzustellen und zu beseitigen.«

Die Leute blickten jetzt so ratlos drein, wie zuvor ihre Vorgesetzten.

Nur einer erhob seine Stimme, und dieser war Goring.

»Wenn der Kapitän meint, daß wir hier freiwillig ersaufen wollen wie die Ratten, dann irrt er sich!« rief er.

»Und wenn Ihr hier versuchen wollt, die anderen Leute rebellisch zu machen, dann jage ich Euch eine Kugel in das Hirn, Ihr Skunk!« rief der Schiffer zornig. »Wenn wir nach Disko kommen, dann setze ich Euch an Land, das soll wahr sein!«

»Wenn ich nicht schon vorher von dem Kasten runter bin«, entgegnete der Matrose frech. »Schiffsmaaten!« wendete er sich dann an seine Genossen. »Habt ihr gehört? Der verdammte Schoner sinkt uns unter dem Leibe weg! Wer kein Dummkopf und feiger Hund ist, der macht mit mir die Boote klar! Besser unter den Eskimos leben, als hier elend ersaufen!«

Keiner der Leute antwortete; die braven Kerle wendeten sich einfach von dem Aufwiegler ab und ließen ihn stehen.

Friedrich Bernsdorf aber zog seinen Revolver und richtete ihn auf den Elenden, der sich ganz erschrocken und mit offenem Munde nach seinen Gefährten umsah.

Plötzlich fiel sein Blick auf die Mündung der drohenden Waffe. Da verließ ihn noch der letzte Mut, und erbleichend sank er in die Knie, die Hände abwehrend ausgestreckt.

»Schuft!« murmelte Armstrong, »hat nicht einmal die Courage einer Laus!«

Friedrich ließ den Revolver sinken und drehte sich verächtlich um.

Goring aber schlich wie ein begossener Hund nach vorn.

»Wir verstehen uns also, Leute«, sagte der Schiffer zu den übrigen. »Wir wollen alle unsere Schuldigkeit tun, und ich hoffe zuversichtlich, daß ich euch mit Gottes Hilfe alle wieder munter und gesund in die Heimat zurückbringe, wo jeder dann ein hübsches Sümmchen in der Tasche haben soll.«

Der Steuermann trat an ihn heran.

»Innerhalb der letzten Viertelstunde ist der Schoner um dreiviertel Zoll tiefer gesackt«, meldete er.

» Very well, Mr. Stevens«, antwortete Armstrong kaltblütig. »Laßt den Leuten Grog reichen, auch können sie dann gleich ihr Abendbrot essen. Hernach werden wir weiter sehen. Mut, Kinder, der alte Gott lebt, die alte ›Seeschlange‹ schwimmt noch!« – –

Die Kaltblütigkeit des Schiffers verfehlte nicht, auf alle an Bord die beste Wirkung auszuüben. Nur einer war hiervon auszunehmen, der Matrose Goring. Verbissen, hämisch und boshaft hatte er nichts im Sinn als seine schlimmen Pläne. Welcher Art dieselben waren, ist aus folgendem zu ersehen.

Der Steuermann und Johann Bernsdorf hatten sich in der Jolle auf den Eisberg begeben, um hier die Wasserkante zu untersuchen. Die übrigen befanden sich in lebhaftem Gespräch teils auf dem Verdeck, teils auf der Back.

Dies benutzte Goring, um sich unbemerkt in die Kajüte hinabzuschleichen. Hier war alles einsam und still. In einer der anstoßenden Kammern lag Hans, der arme Erblindete, in tiefem Schlaf. Nachdem Goring sich überzeugt hatte, daß ihm von der Seite keine Störung drohe, machte er sich an die Schublade, in welcher er bei seiner letzten Anwesenheit hier unten das Geld hatte liegen sehen, betastete das Schloß, zog und rüttelte und versuchte es mit Gewalt zu öffnen. Da er jedoch weder Dietriche noch Stemmeisen, und nichts als sein Messer dabei zur Hand hatte, so gelang ihm dies nicht.

Mit unterdrücktem Fluchen stand er endlich von der Arbeit ab und schlüpfte wieder an Deck, fest entschlossen, den Einbruchsversuch bei nächster Gelegenheit zu wiederholen, sich dann aber besser vorzusehen.

Im Matrosenlogis, wo seine Gefährten mit qualmenden Pfeifen um den kleinen, glühenden Ofen saßen, versuchte er es aufs neue mit seinen aufrührerischen Reden, und jetzt, wo man unter sich und nicht mehr unter den Augen des Kapitäns und der Bernsdorfs war, verhielten sich die Leute auch nicht mehr so ganz ablehnend.

»Was denkt ihr euch eigentlich, was aus uns werden soll, hier an Bord dieses Schoners, der, wenn er nicht wegsackt, doch so fest auf dem Eise sitzt, daß er nie wieder abkommen kann?« so redete er unter eifrigen Gestikulationen. »Verhungern oder ersaufen, das steht uns bevor, weiter nichts. Und wenn wir mit dem Alten und der Bernsdorfschen Sippschaft auch wirklich sicher an Land kommen sollten, was dann? Wir sind alle zusammen nicht mehr als vier Mann, die aber, mit dem Steuermann, denn der hält zum Alten wie Pech, zählen zusammen acht, auch haben sie Schießgewehre und Pulver und Blei. Wenn hernach die Not angeht, denn dort am Lande gibt's verdammt wenig zu beißen und zu brechen, dann hört die Freundlichkeit und die Kameradschaftlichkeit auf, dann sorgt jeder für sich selber und sieht, wo er bleibt. Meint ihr, die werden dann unsere vier Mäuler auch noch mit Futter versorgen, wenn sie für sich selber kaum genug schaffen können? Da irrt euch nur nicht. Froh werden sie sein, wenn sie uns los sind, wenn die Bären und Wölfe uns fressen. Und das wird bald genug geschehen, da wir so gut wie gar keine Waffen haben. Ist euch denn das nicht klar?«

»So schlimm wird's nicht werden«, brummte der Matrose Morton, ein Kanadier. »Allerdings, wenn –«

»Ach was, hört doch nicht auf den verdammten Unglücksraben!« rief Pat, der Irländer. »Wenn der Alte und die Bernsdorfs so an uns handeln sollten, dann gibt's keine Treue und keinen Glauben mehr in der Welt! Ich meinerseits halte zu ihnen, mag es kommen, wie es will!«

»Wir auch, was, Hiob?« grinste Lot.

»Versteht sich, Lot«, antwortete der Mulatte. »Goring kann übrigens schlecht zählen; wir beide gehören auch zu der Bernsdorfschen Sippschaft, das macht zusammen zehn Mann, und nicht acht, wenn ich noch rechnen kann. Noch schlechtere Aussichten, was, Goring?«

»Wartet's nur ab!« rief der rebellische Matrose wütend, »übrigens seid ihr nur neun, denn der blinde Junge zählt nicht mit. Den hat's getroffen, andere wird's auch noch treffen! An meinen guten Wünschen soll's nicht fehlen. Möge der schwarze Tod und alle Seuchen in die hochmütige Brut fahren!«

Schäumend und außer sich vor Wut schlug er mit der Faust auf den Tisch.

Lot und Hiob sprangen entrüstet auf, und dem wüsten Menschen wäre es sicher schlecht ergangen, wenn nicht in diesem Augenblick ein lauter Weheruf in die Ohren der erschrocken aufhorchenden Leute gedrungen wäre.

Der Ruf wiederholte sich – er kam aus der Kajüte.

Die beiden Farbigen eilten nach hinten, so schnell ihre Füße sie tragen wollten.

Die anderen saßen in bangem Erstaunen und lauschten.

Dann vernahmen sie ein Wort, das sie, die sich noch unter dem Eindruck der letzten gottlosen Rede Gorings befanden, mit Grauen erfüllte.

Auch sie eilten jetzt an Deck.

Hier war alles öde und leer.

Nicht einmal der Hund ließ sich sehen.

Sie schauten um sich.

Die Mitternachtssonne stand tief am Horizont.

Kein Wind regte sich, tiefe Stille herrschte allenthalben, nur, im Eise knackte und knisterte es leise.

Die Männer gingen nach hinten, erstiegen das Achterdeck und lugten durch das Oberfenster in die Kajüte hinab.

Dort standen die übrigen Insassen des Schoners Kopf an Kopf – der Kapitän, der Steuermann und die Bernsdorfs alt und jung.

Durch die offene Kammertür erblickten sie den armen Hans auf seinem Lager, regungslos und bleich wie Schnee.

»Großer Gott!« rief Morton, der Kanadier, mit unterdrückter Stimme, »er ist tot!«

Pat, der Irländer, bekreuzte sich.

»Gott stehe uns bei und sei seiner armen Seele gnädig!« flüsterte er erschauernd.

»Nun, was habe ich gesagt?« raunte Goring den Kameraden zu. »Den hat der Tod geholt! Er wird noch mehr von ihnen holen, und hernach auch uns, wenn –«

»Halte dein nichtswürdiges Maul!« schnaubte der Irländer ihn entrüstet an, »oder, bei Sankt Patrick, ich schneide dir die gottlose Zunge aus!«

Goring wich einige Schritte zurück; er war, wie alle seines Gelichters, im Grunde ein Feigling.

Schweigend standen die Matrosen und schauten hinab.

»Der arme junge Mensch!« sagte Pat nach einer Weile voll Mitgefühl. »Wie konnte er nur so plötzlich sterben! Vielleicht ist er gar nicht tot.«

»Tot ist er, schau' doch, wie seine Verwandten weinen«, versetzte Morton. »Wenn ihm nur keiner ein Leid angetan hat.«

Bei diesen Worten wendete sich der Kanadier plötzlich nach Goring um.

»Wer war zuletzt in der Kajüte, als die andern alle vorn und auf dem Eise waren?« fragte er scharf. »Ich sah dich durch die Kajütskappe heraufkommen, Goring.«

»Ganz recht, ich war in der Kajüte«, antwortete dieser in unverschämtem Ton. »Und was weiter?«

»Oh, nichts Besonderes; ich meine nur, wenn der Tod des armen Jungen nicht auf natürliche Weise zu erklären sein sollte, dann würde die Fockrah dein Galgen werden, und ich wäre der erste, der dich hinaufziehen hülfe.«

»Du glaubst, er wäre ermordet?« rief Pat entsetzt. »Dann mag der Mörder sich vor Mr. Bernsdorf hüten! Goring, du bist ein Satan!«

»So? Ist das die Art, zu einem Kameraden und Schiffsmaaten zu reden?« rief Goring erbost.

Damit versetzte er dem Irländer einen Faustschlag ans Ohr, der diesen fast zu Boden gestreckt hätte. Er raffte sich jedoch schnell wieder zusammen, und jetzt begann zwischen den beiden ein erbitterter Faustkampf, der für Pat vielleicht verhängnisvoll geworden wäre, da der tückische Goring bereits nach dem Messer griff, wenn nicht noch zur rechten Zeit der Kapitän und der Steuermann an Deck gekommen wären und die Streitenden getrennt hätten.

»Hierher, Morton!« rief der erstere zornig, »hierher, Lot und Hiob, entwaffnet diesen Halunken!«

Der wütende Matrose stieß und schlug mit dem Messer wie ein Besessener um sich. Als der Schiffer ihm zu nahekam, führte er auch einen Stoß gegen diesen, ohne jedoch zu treffen.

»Ha, Schuft!« schrie Armstrong, der den linken Arm noch immer in der Binde trug. »Deinem Kapitän willst du mit dem Messer zu Leibe? Warte!«

Damit ballte er seine große Faust und fuhr damit, wie mit einem Katapult, dem Elenden ins Gesicht, der wie vom Blitz getroffen rücklings an Deck niederschlug.

Die Knöchel des Schiffers hatten ihm das Nasenbein eingedrückt.

Die Zeugen dieses Vorgangs standen erstarrt.

»Bringt ihn nach vorn«, befahl Armstrong. »Tot ist er nicht, solch Gewürm krepiert nicht so leicht«, fügte er verächtlich hinzu. »Nehmt ihm sein Messer weg und fesselt ihn.«

»Der Alte schlägt keine schlechte Handschrift, was, Hiob?« raunte Lot seinem Partner zu.

»Na ich danke«, antwortete dieser.

Der Steuermann schaute über die Seite ins Wasser.

»Das ist eine Unglücksreise«, brummte er vor sich hin. »Ein sinkendes Schiff, ein Toter an Bord und Meuterei obendrein – dazu die Aussicht, von den Yankees überfallen zu werden ... Der Kuckuck hole die Edelsteininsel!«

Kapitän Armstrong war nach dem soeben geschilderten stürmischen Auftritt in die Kajüte zurückgekehrt.

Hier herrschte Jammer und Schmerz.

Der arme Hans hatte ganz unerwartet sein Leben ausgehaucht, und eigentlich auch auf eine ganz unerklärliche Weise, wenn man nicht annehmen wollte, daß eine durch den Blitzschlag verursachte elektrische Erschütterung seines Nervensystems die Ursache seines plötzlichen Todes gewesen war.

Bereits einige Stunden vor seinem Ableben hatte sein Vater wahrgenommen, wie eine stetig zunehmende Erschlaffung ihn überkam, derselbe hatte dies aber für Ermüdung und Schlafsucht gehalten und diese Erscheinung weiter nicht auffällig gefunden.

Als der Knabe später aber gar nicht erwachen zu wollen schien, da waren Philipp und sein Onkel hinuntergegangen, um zu hören, ob der Leidende nicht etwas Nahrung zu sich nehmen wollte.

Sie fanden ihn regungslos und mit geschlossenen Augen; sie riefen seinen Namen – er antwortete nicht; sie lauschten seinen Atemzügen – sie spürten nichts; sie faßten seine Hände – dieselben waren steif und kalt.

Und jetzt drang jener Weheruf durch das Schiff, der die Matrosen so erschreckt hatte ...

Noch immer umstanden die Bernsdorfs den trauernden Vater und den weinenden Bruder.

»Gott hat es so beschlossen, sein Wille geschehe!« sagte Friedrich in stiller Ergebung, als die andern ihn trösten wollten. »Wir wollen nicht mehr wehklagen. Sein Tod war friedevoller, als der unsere vielleicht sein wird. Wer weiß, was uns noch bevorstehen mag.«

Johann drückte seinem Bruder stumm die Hand.

Karl, Heinrich und Philipp schluchzten leise vor sich hin.

Nach einer Weile begaben sich alle langsam wieder an Deck, und der Tote blieb allein.

Denn das Leben fordert sein Recht.

Der Kapitän brachte den Tumult zur Sprache, der sich auf dem Achterdeck abgespielt hatte, und als Lot und Hiob noch eine Schilderung der vorhergehenden Einzelheiten gegeben, da zeigte sich eine allgemeine Entrüstung gegen den Schuldigen.

Dann aber trat das Nächstliegende wieder in den Vordergrund – der Zustand des Schiffes und seiner Insassen.

»Wir müssen an Land«, entschied der Schiffer, »und zwar so schnell als möglich. Wenn diese Zwischenfälle nicht eingetreten wären, könnten wir jetzt schon festen Boden unter den Füßen haben.«

»Dort können wir dann auch den armen Hans begraben«, sagte Philipp leise.

Karl nickte dem Bruder zu und strich ihm liebevoll mit der Hand über das Haar.

Alle Mann machten sich nunmehr an das Aussetzen der Boote, die zunächst dazu bestimmt waren, soviel von der Ladung und dem Proviant, als sich bergen ließ, auf das mit dem Lande zusammenhängende Eis und von dort auf das Land selber zu schaffen.

Das war keine leichte Aufgabe, denn die Oberfläche des Eisfeldes war stellenweis so hügelig und zerklüftet, daß lange Umwege gemacht werden mußten, die die an sich nicht kurze Strecke bis zur Küste noch um das Sechsfache verlängerten.

Nach vielen Mühen und harter Arbeit waren zwei Bootsladungen am Lande untergebracht. Man errichtete nun ein Zelt, schaffte Proviant, Waffen, Munition, Pelze und andere Dinge hinein, ließ Troll als Wächter zurück und eilte dann, um wieder an Bord zu kommen.

Obgleich der Schoner erheblich erleichtert worden war, senkte er sich dennoch immer tiefer, wenn auch nicht mehr in demselben Maße als zuvor.

Goring, der bisher in Fesseln gelegen hatte, wurde in Freiheit gesetzt und angewiesen, sich an der Arbeit zu beteiligen. Zuerst weigerte er sich trotzig, auch nur eine Hand zu rühren, als ihm aber mit Entziehung des Essens gedroht wurde, da zeigte er sich bald gefügiger und machte sich so nützlich, als sein schmerzendes Gesicht und seine verschwollenen Augen dies zuließen.

Man mußte nunmehr daran denken, die irdischen Reste des armen Hans zur Ruhe zu bestatten, hier, im Lande des ewigen Eises und Schnees, nur wenige Grade südlich vom nördlichen Polarkreise. Und er hatte doch die grüne Erde, die bunten Blumen, die gaukelnden Schmetterlinge, den Sommer und die warme Sonne so liebgehabt!

Johann Bernsdorf und seine Söhne legten die zarteste Fürsorge und das innigste Mitgefühl für den Bruder und Onkel und dessen Sohn Heinrich an den Tag; sie wetteiferten miteinander, denselben die traurigen Vorbereitungen soviel als möglich abzunehmen. Eins aber hatte Friedrich Bernsdorf sich vorbehalten: das letzte Ruhebett für den geliebten Sohn, den Sarg, zimmerte er eigenhändig.

Lot und Hiob hatten an einer eisfreien Stelle des Strandes das Grab gegraben oder vielmehr in den steinhart gefrorenen Boden gehauen, eines jener Gräber, in denen schon so mancher kühne Nordpolfahrer seiner Auferstehung entgegenschlummert.

Am dritten Tage nach Hansens Ableben war alles für seine Beerdigung bereit. Das Wetter war still und freundlich; lichte Wölkchen zogen langsam über den klaren Himmel, die Sonne schien hell hernieder auf das glitzernde Eis und das glatte, rippelnde Wasser, und leichte Welle in den Nationalfarben des Ozeans, blau und weiß, umplätschernden melodisch den Rand der Eisfelder. Die Natur zeigte sich ausnahmsweise auch einmal in dieser Einöde von ihrer liebenswürdigsten Seite, als spotte sie des Schmerzes der armen Menschen, die hier einen so bitteren Verlust beweinten.

Die ganze Schiffsgesellschaft befand sich am Lande, auch die Bernsdorfs und ihre beiden Dienstmannen. Man benutzte das gute Wetter, um einen Schneewall rings um das Zelt aufzuwerfen und Treibholz zur Feuerung zu sammeln, da man nicht wissen konnte, wie lange man hier zu kampieren haben würde.

»Wie würde sich unser Hans über diesen wundervollen Tag gefreut haben!« sagte Philipp zu seinem Bruder.

»Ja«, nickte Karl traurig. »Der gute Junge! Wir werden ihn noch recht vermissen.«

»Ist es nicht grausam, daß er uns so zur Unzeit entrissen werden mußte?« klagte Heinrich, der jetzt herzutrat.

»So darfst du nicht sprechen, Heinz«, verwies ihn Karl sanft. »Vergiß nicht, daß er vielleicht zeitlebens blind geblieben wäre. Sollte der Tod für ihn nicht vielmehr eine Wohltat gewesen sein?«

»Möglich; dann war's aber grausam, daß der Blitz ihn blenden mußte!«

»Lieber Heinrich, schicken wir uns in das Unabänderliche; ich denke, dann tun wir am klügsten«, versetzte Karl. »Komm mit uns in die Jolle; wir haben noch allerlei zu holen, auch wollen wir uns den lieben Toten noch einmal ansehen.«

Die drei jungen Leute schritten über das Eis bis zu der Stelle, wo die Boote festgelegt waren.

Die Entfernung von hier zum Schoner war nur gering; sie hatten dieselbe ungefähr halb durchmessen, als vom Schiffe her ein durchdringender, grausiger Angstschrei, ein gellendes Aufheulen in ihre Ohren drang.

Das Geheul war so durchdringend, so gräßlich, so markdurchbohrend, daß es den dreien die Haare zu Berge trieb.

»Vorwärts!« rief Karl. »Da ist etwas Schreckliches an Bord passiert!«

Nach zwei Minuten hatte die Jolle die Schiffsseite erreicht. Die jungen Leute schwangen sich an Deck. Hier war alles öde und leer.

Aus der Kajüte kamen dumpfe, gurgelnde, fürchterliche Töne.

Obgleich es ihnen eiskalt über den Rücken rieselte, zögerten sie dennoch keinen Augenblick, sondern eilten die Treppe hinab.

In der Kajütentür blieben sie festgebannt stehen, atemlos, erstaunt, entsetzt.

Vor der aufgezogenen Geldschublade kniete Goring; sein Gesicht war blau und verzerrt, der Blick seiner aus dem Kopfe hervorquellenden Augen war der eines von wildem Schrecken gepackten Wahnsinnigen. Denn neben ihm stand, die Hände mit eisernem Griff um seinen Hals gelegt, Hans Bernsdorf, lebendig, stark und zornentbrannt.


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