Johannes Richard zur Megede
Trianon
Johannes Richard zur Megede

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Neuntes Kapitel

Der nächste Tag war ein Sonntag. Die funkelnde Herbstsonne brach in so rotgoldenen Fluten durchs Fenster, erfüllte das ungemütlich große Zimmer mit so frisch-herbem Lebensodem, daß mich ein regulärer Hochsprung auf den Bettteppich brachte.

Unten im Vorgarten klirrten gemütlich die Tassen, der Kaffee sandte lockende Düfte. Die Frühaufsteher waren schon am Werk. Als ich viel später hinunterkam, um auch einmal den jungen Morgen im Freien zu begrüßen, saß der Frühstückstisch in verdächtigem 135 Schweigen. Die graumelierte Baronesse schob gerade der herzlich liebenswürdigen Cousine den Kuchenteller hinüber, aber das sehr leckere Gebäck wurde mit einem gekränkten Lippenzucken refüsiert. Ein Gewitter schien über Trianon niedergegangen, doch die Schwüle dauerte noch. Ich erkundigte mich nach dem Maler, der sonst an einem kleinen Separattische zu trinken pflegte und jedem Nahekommenden lustig zurief: »Vorsicht! Weißer Aussatz!« –Man wußte wirklich nicht, wo er sein könne.‹ Ich erkundigte mich nach der adligen Schulvorsteherin, ohne deren blinkende Brillengläser auch der Himmel nur ein leerer Wahn sein kann. Man hatte gleichfalls keine Ahnung.

Langsam erhoben sich die Damen, lächelten verlegen, verschwanden. Endlich bin ich mit der herzlich liebenswürdigen Cousine des Hauses allein. Sie und der Maler galten sonst als geheime Verbündete in Sachen Frohsinn contra Stumpfsinn. Ich sage auch noch scherzend: »Gerade die beiden verschwunden – das ist bedenklich! Sollte am Ende auch dieses stolze Herz . . .«

Da muß mein Gegenüber wider Willen lächeln: »Kaum. Ich denke auch, Sie spotten lieber nicht. Es handelt sich nämlich um eine sehr unangenehme Geschichte.« Dabei sieht sie dem leichten Morgengewölk nach, das wie Dunst die Buchenhöhen entlang zieht. – »Sie waren diese Nacht lange auf, Herr von Ramingshoven, und haben sogar Selbstgespräche geführt.«

»Wohl möglich, aber nur im Traum. Ich schlief nämlich auf meinem Sofa ein.«

Darauf zeigt sie nach Isas Fenster über uns. Ein fahler Schimmer dringt durch die Jalousieritzen: »Da hat jemand noch jetzt Licht.«

»Oder jemand ist auf der Chaiselongue eingeschlafen wie ich.« 136

Unsre Blicke streiften sich bei dem Dialog flüchtig. Ich fühle mich ein wenig entlarvt. Das ist mir unangenehm. Nach einem kurzen Fieberschlaf stellt sich immer Katzenjammer ein – und der Abend gestern erscheint mir in einem dicken Nebel, aus dem nur der Brillantknopf blitzt.

»Sagen Sie lieber, gnädiges Fräulein, was los gewesen ist!«

»Gehen Sie zu Ihrem Freunde! Ich weiß nichts über die Gründe, ich kenne nur die mir unverständliche Thatsache. Aber grüßen Sie Ihren Freund herzlich von mir – sehr herzlich. Vergessen Sie's nicht! . . . Ich sehe ihn wohl kaum noch.«

Neugierde liegt sonst nicht in meiner Natur – aber ängstliche Andeutungen zeugen phantastische Ungeheuer, und mir schwant allerhand Schlimmes. Im übrigen lasse ich auch Bekannte nie im Stich. Ich gehe sofort hinauf zu ihm in seine Mansarde. Er ist beim Packen und steht inmitten eines Chaos sehr eleganter und sehr nachlässig behandelter Garderobenstücke. Mit der einen Hand feuert er ein buntseidenes Hemd in seinen Rohrplattenkoffer, mit der andern winkt er mir ein »Servus« zu.

»Wußte, daß Sie kommen würden.«

»Was ist denn los?«

»Lesen!« Mit der fast verächtlichen Offenheit, die seine Natur ist, hält er mir einen Brief von der Schulvorsteherin hin, einen gut geschriebenen, gut stilisierten und offenbar lange vorbereiteten Brief. Er war ihm gestern abend aufs Zimmer gelegt worden. Weibergewäsch. Zuerst einige höchst dunkle Andeutungen: »es wären Dinge zu Tage gekommen . . . und obwohl man ihn noch immer für einen Ehrenmann halten möchte . . . aber Trianon dürfe auf keinen Fall einen Schaden erleiden!« Der Kern ist, daß der gute Maler am 15. September spätestens 137 sein Zimmer räumen soll und bis dahin eitel Honig und Liebenswürdigkeit von ihm zu markieren ist. Allerdings eine recht harmlose Zumutung! – Es ist nichts Besonderes vorgefallen, aber in Wahrheit fühlt sich jetzt Pythia zu allein, um fürder diesen Unhold zu bestehen. Dem Faß den Boden schlug eine scheinbare Unhöflichkeit aus. Er hat ihr einmal nicht gute Nacht gewünscht, weil sie in einem sehr intimen Gespräch mit der graumelierten Baronesse stand. Von seiner Seite jedenfalls war's nur Höflichkeit, und er bat mich extra, seine Empfehlungen auszurichten, was ich denn auch gethan habe. Rausgewimmelt jedenfalls ist er. Ich zucke die Achseln: »Allerdings.«

»Allerdings, Herr von Ramingshoven – und geärgert habe ich mich tüchtig! Wir hatten auch sofort eine Unterredung, wo ich Trianon mit den sämtlichen Namen nannte, die es verdient. Blumennamen waren nicht dabei, obgleich ich hier doch wahrhaftig die hübscheste ältere Gänseblumenwiese aufgestöbert habe, die je ein gläubiges Auge entzückte . . . Uebermäßig gelinde ging's bei diesem Abschied, wie gesagt, nicht her. Die adlige Schulvorsteherin, wie Sie die Dame zu nennen belieben, saß vor mir als Pythia auf dem Dreifuß, ernst und gemessen und prophetischer Weisheit voll. Aber unter meinen bitteren Invektiven entwickelte sie sich langsam zu einem heiligen Laurenzius femini generis auf dem Rost. Es giebt so'ne und solche und Märtyrer! Und das Geleitwort, das diese schöne Dulderin mit der Brille mir auf den Weg gab, hieß: ›Es war ein adliges Haus, in das Sie kamen, und Sie hätten es im Augenblicke verlassen müssen, wo Sie fühlten, daß Sie in diesen adligen Kreis nicht paßten!‹ . . . Na, lieber Ramingshoven, hoffentlich werden wir das und noch manches andre verwinden! Im übrigen Adel hin, Adel her. Ich bin mit meinen vierundzwanzig 138 Ahnen doch wohl genau so stiftsfähig wie diese alte Jungfer – aber zu Lebzeiten gehört unsereiner eben noch nicht in ein Panoptikum à la Trianon. Freilich, wenn sie eine Verbrecherkammer einrichten wollten« – er zwinkert belustigt –, »dann gehören wir beide hinein – Sie zu allererst, mein lieber Baron! Jedoch das Zimmer, in dem Sie gelebt und gesündigt haben, ist trotzdem heilig von wegen der Isenberg und dem Excellenz Onkel. Meine Mansarde dagegen wird allen Artusfrauen noch hundert Jahre später mit dem Bemerken gezeigt werden: ›Hier schlich sich einmal eine böse Schlange ein, die Menschengestalt angenommen hatte und sogar zeichnen konnte. Aber die guten Leute, die zu allen Zeiten in diesem Hause versammelt waren, erkannten sofort, wes Geistes Kind der Ankömmling war, und sie ließen die Ausgeburt der Hölle dennoch gewähren, weil sie sich rein wußten in ihren Herzen und ihnen darum der Böse nichts anhaben konnte, und auch um des adligen Namens willen, den die Schlange sich angemaßt hatte. Denn sie waren alle sehr adlig und sehr fromm. Aber eines Tages erglühte Laurenzia, die Brillenbegabte und Hüterin dieses Vorhofes zum Himmel, in heiligem Zorn und befahl dem Ungeheuer, von hinnen zu weichen. Da zeigte sich nun die wahre Natur der Schlange auf das schrecklichste. Sie zischte und spie Gift und ringelte sich um Laurenzia und wollte sie erwürgen. Doch das Gute war mächtiger als das Böse, so daß Laurenzia nach drei Tagen wieder genaß und in dem Tugendheim zu walten vermochte, noch gläubiger, noch sittenreiner, obgleich solche Steigerung allen mit Recht ein Wunder erschien – indes die böse Schlange wutschnaubend von dannen fuhr. Und zum Andenken an jene Errettung stickten die Artusfrauen ein Wappenkissen, und die Artusmänner hielten das Garn. Und rings um den Vorgarten, wo das 139 gottgefällige Werk gar wunderbar gedieh, jubilierten die Vögel, und es war allen klar, daß es gefiederte Engel waren, so lieblich klang die Musik. Das Kissen ward geweiht und in Laurenzias Kemenate niedergelegt, wo sich das alles ereignete. Als nun die heilige Laurenzia, nachdem sie noch viele Teufel in jeglicher Gestalt vermittelst ihrer wunderkräftigen Brille erkannt und ausgetrieben hatte, zu den Freuden des Paradieses eingehen sollte, ward ihr schönes Haupt auf dieses Kissen gebettet, und eine Rangliste ward ihr in die Linke und der Familiennachrichten neueste aus der Kreuzzeitung in die Rechte gegeben, auf daß sie die Englein leichter trügen und allerorten verkündeten, in welchen Zeichen sie gestorben war . . .‹ Darauf wird die Kemenate der heiligen Laurenzia gezeigt.«

»Na, den Humor scheinen Sie wenigstens nicht verloren zu haben!«

»Gott sei Dank. Wo bliebe unsereiner sonst! . . . Denn, lieber Ramingshoven, mir war in den letzten Wochen oft recht blümerant ums Herz.«

»Was werden Sie jetzt zunächst thun?«

»Direkt zu der gehen, die ich liebe.«

»Nach dem Telegramm von gestern?«

Er lächelt: »Was schiert mich das Telegramm? Gestern war ich klein, heute fühle ich mich so sicher, so zuversichtlich! Die Frau liebt mich ganz gewiß und ganz gewiß mich allein. Ich war es, der zögerte und schwankte – und diese unerwartete Ausweisung heute kommt mir wie ein Fingerzeig des Schicksals vor. Ich gedenke einen gordischen Knoten zu durchhauen, wenn er sich eben nicht entwirren läßt.«

»Steht's so? Dann sehen Sie sich vor!«

»Ja, lieber Ramingshoven, wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Auf verbotenen Jagdgründen birscht man verstohlener, aber man zielt besser. ›Er‹ wird 140 wohl gestern gekommen sein, und von diesem ›Er‹ will ich sie mit List oder Gewalt erlösen. Sonst ist keine Romantik dabei. Die alte Geschichte von zwei Menschen, die nicht zu einander passen und sich darum hassen. Ich hoffe, es wird sich leicht machen . . . Und wenn bei der Geschichte wider Erwarten ein toter Mann herauskommen sollte, der mit mir einige Aehnlichkeit hat, dann sagen Sie nicht mit Trianon: ›So mußte es kommen. Wir wußten ja gleich . . .‹, sondern denken Sie, daß ein Mann an der einzig anständigen Regung seines Herzens vor die Hunde ging, und beten Sie, daß die Frau den Ausgang nicht lange überlebt.«

Ich rede darauf sehr klug von kühlem Kopf und sicherer Hand und daß man in solchen Angelegenheiten ebenso überlegt wie entschlossen vorgehen müsse, um einen Skandal eventuell zu vermeiden.

Er geht dabei halb lächelnd im Zimmer umher und sammelt die zerstreuten Stücke seiner sehr eleganten Reiseeinrichtung. »Können recht haben, können auch nicht recht haben, Ramingshoven. Ich kenne den Kerl selbst nur vom Hörensagen, und danach ist er mir allerdings höchst unsympathisch. Aber schließlich, wenn eine Frau ihren Mann verachtet, haßt, und aus solchen Gefühlen nicht den geringsten Hehl macht, da denke ich, sollte er doch froh sein, wenn sie ihm in allen Ehren abgenommen wird.« Einen Augenblick kneift er die Lippe und sieht vor sich hin, dann lacht er wie befreit auf: »Natürlich geht's glatt! Ich war nie in meinem Leben des guten Ausganges einer Sache so bombensicher. Was sollte denn auch eine wohlweise Vorsehung dagegen haben, wenn ein Saulus zum Paulus sich ummodelt – und vor allem, wenn durch diese Wandlung eine liebe, blonde Sünderin glücklich, vielleicht heilig wird? . . . Wenn ich blute – eh bien! Aber dann blutet eine andre 141 auch – und das wird nicht sein . . . Ja, Ramingshoven, ich habe das Vagabundenleben satt . . . Wünschen Sie mir jetzt gleich Glück – dann will ich Ihnen auch Glück wünschen!«

Kurz darauf schieden wir. Ich hatte keine Lust zu gleichen Konfidenzen . . . Ob wir uns jemals wiedersehen? – Wer weiß . . . Er ist allerdings der Kerl, das Schicksal mit einem Witzwort zu packen, mit einem Witzwort zu zwingen. Mir war er ein lieber Kamerad. Wer noch, wie er, die fröhliche Jugend, den fröhlichen Glauben besitzt . . .! Wie sagte er doch? »Die einzige anständige Regung meines Herzens.« Auf deutsch also: Bestes Gefühl! Das allein macht mich für den Ausgang stutzig. Die Vorsehung hat nun einmal eine Abneigung gegen beste Gefühle . . . Schließlich – ich habe mit meinem eignen Schicksal genug zu thun. Zwei Schicksale zugleich haben in einem Egoistenherzen selten Platz.

Es schlägt elf. In zwei Stunden werde ich wissen, ob die blasse Isa mir ganz gehören muß oder nie. Solche Erwartung ist doch ein ganz eignes, das Herz zusammenziehendes Gefühl.

Diese zwei Stunden habe ich übrigens zu einem Morgenspaziergang benutzt. Das Herbstlaub sank, die Herbstsonne schielte. Zuletzt endigte ich, ohne es zu wollen, bei den drei Thronen. Ich sehe am Wiesenhang die Stelle, wo die Perlen des geweihten Rosenkranzes hüpften. Damals war's Sommer, schwüler Sommer. Wie die dunkeln Augen blitzten! Sie ist wohl einer Leidenschaft fähig, einer großen Leidenschaft. Ich weiß nicht, ob ich dabei beben soll oder mich daran freuen . . . Aber während ich über dieses enge Thal hinblicke mit seinen kleinen Häusern, seiner kleinen Moral, fühle ich auch wieder die ganze Empörung des Aristokraten gegen den Herdentrieb, den Gefühlspöbel. Alles, was ich für diese blasse 142 Frau empfunden, wallt auf. Ich bin noch jung, ich kann noch fühlen! Mir ist jetzt, als wenn das Thal in trübem Dunst versänke – und nur die Stelle am grünen Abgrund bleibt und die leidenschaftliche Frau. Mir ist alles so deutlich. Und eine große, schwere Woge von Leidenschaft und Verachtung stürzt über mir brandend zusammen. Ich will die Frau haben, ich muß! Es ist der Instinkt des fast verdursteten Tieres, das endlich die Quelle wittert. Ja, ich liebe die Frau, nur diese Frau allein – und schreite kalt über die tote.

Dann ging ich nach Hause, sehnend, fiebernd. Wenn nun der Brillantstern nicht im schwarzen, schönen Haar glänzt? . . . Es ist mir ein unerträglicher Gedanke. Als ich die Treppe zwischen den grünen Tigern emporsteige, läutet gerade in Trianon die historische Kuhglocke, das liebliche Futtersignal für den Troß. Und da bin ich mit einem Schlage ganz vernünftig, ganz ruhig – die Minute vor der Entscheidung findet mich stets kühl und gewappnet. Ich gehe noch auf mein Zimmer, die Hände zu waschen, den Schnurrbart zu bürsten. Wer möchte auch das Glück mit schmutzigen Händen entgegennehmen? . . . Ich bummle absichtlich, ich will der letzte sein. Der Brillantstern soll dem Eintretenden entgegenblitzen – ein wirklicher Hoffnungsstern.

Trianon war auch bis auf die zwei Todfeinde vollzählig versammelt – nur »ihr« Platz ist noch leer. Heute begreife ich nach langer Zeit wieder, daß ein Zimmer leer, wenn es voll ist. Ich habe auch programmmäßig die sehr gute Suppe gelöffelt, den Rotspon probiert. Sie wird ja doch nicht kommen, sie ist noch krank von der durchwachten Nacht. Alle sagen's, alle bedauern's . . . Da öffnet sich die Thür.

»Ah!« 143

Ich beuge den Kopf auf den Teller, um ihn plötzlich wieder zu erheben. Es war ein kurzer Moment der Feigheit. Ich sehe nicht die Frau – ich sehe nur den Stern . . . Und ein fast trunkenes Gefühl des Triumphes durchrieselt mich.

»Also doch!« sage ich, ohne es zu wissen, halblaut.

»Also doch.«

Wir sehen uns an. Isa trägt stumpfes Schwarz und hat tote Augen – und doch – und doch sah ich nie eine schönere Frau. Von dem Mittag habe ich eine zwiefache Erinnerung: als wenn ein rosiger Schleier über allem wallte und als wenn mich nie eine haarsträubendere Nüchternheit umgab. Wir sagten fast nichts, wir aßen fast nichts. Das gehört zu solchen Augenblicken. Um uns klirrte es, schwatzte es, lachte es – der Herdenlaut. Ja, Trianon kann aufdringlich sein mit seinem Sonntagsputz und seinem Alltagswitz. Diese Menschen, diese Stimmen – und ein Schicksal! . . . Heilige Laurenzia, wenn du ahntest, welche Sünden nach deinem Gefühl zwei Menschen jetzt an deiner Stiftstafel begehen. Heilige Laurenzia, bitte für uns!

*

Die Vergangenheit ist tot, ganz tot! Wenn ich es vergessen sollte, vergiß du es wenigstens nicht.

Nach Tisch konnte ich Isa nicht allein sprechen, wie ich es natürlich brennend gewünscht hätte. Sie ging sofort auf ihr Zimmer, sie war todmüde. Man sah's den tiefen Augenschatten an, wie sich die Ballnacht rächt. Ich bin ein Mann. Und lag ich doch auch in kurzem, heißem Fiebertraum . . . Sie ist ein Weib – so schwach, so zart! . . . Daß sie ging, war nicht ein sanfter Rückzug, ein lächelndes Bedauern. Die Augen, die mich nur von ferne grüßten, sagten: »Ich bin dein.« 144

Trianon sammelte sich gegen alle sonstige Gewohnheit sofort im Salon. Die Malerfrage wurde diskutiert, verlegen oder empört. Doch zur Schande dieses unbefleckten Tugendheims sei's gesagt, daß die thatkräftige Moral der adligen Schulvorsteherin ebenso wie ihre Brille nur bedingungsweise geschätzt wird. Eine ältere Dame aus der Gefolgschaft der blonden Kapitänsfrau hatte sogar den Mut, es auszusprechen:

»Ja, wenn das so weitergeht, dann sollten sie doch über das Portal schreiben: ›Damen unter siebzig Jahren werden nicht aufgenommen. Und einmal lachen kostet einen Thaler.‹«

»Gnädige Frau vergaßen: ›Adlige Damen und wenn möglich mit einem Beglaubigungsschreiben des Heroldsamts versehen,‹« korrigierte ich bissig.

»Ja, meinetwegen! Aber taub oder lahm müssen sie auch sein.«

»Gewiß,« entgegnete ich höflich, »doch dann sollten auch bei der Ankunft sofort geweihte Besenstiele offiziell überreicht werden – und der schönste Hexentanzplatz wäre fertig. Ich hatte wirklich manchmal das Gefühl, als träfe der Name Trianon die Sache nicht ganz. Christlich feudaler Hexentanzplatz mit Handarbeitszwang – das würde viel besser ziehen. Meinen Sie nicht auch?«

Ein schallendes Gelächter antwortet. Altes, frommes Trianon, wo bist du geblieben? Ja, wir gehen schlimmen Zeiten entgegen! Wenn Trianon in Trianon über Trianon lacht!

In dem Augenblick erschien noch einmal der Maler, um sich von uns allen zu verabschieden – elegant und sicher und ironisch lächelnd wie immer. Und da er noch gerade die letzten Worte meiner Rede erhascht hatte, meinte er freundlich: »Ja, man lernt doch nie aus, und ich gehe mit Schätzen beladen von hinnen. Wenn Trianon, dem ich für gute Wohnung 145 und gute Kost auch jetzt noch von Herzen dankbar bin, längst aus meinem Gedächtnis entschwunden ist, wird in meinem Innern doch Karas sechstes Sitzbad weiterleuchten wie ein guter Stern. Kleiner Kopf und lange Beine sind die Zeichen einer standesgemäßen Züchtung. Sie nehmen natürlich Anstoß daran – schweren Anstoß? – Pardon. Ich bin eben ein einfacher Mann und weiß manchmal nicht . . . Adieu allerseits und viel Vergnügen! Auf der Unschuldswiese sehen wir uns wohl wieder – Sie bei Philippi, Ramingshoven!« Er verbeugt sich, geht und verbittet sich jede Begleitung, auch die meine. Die hohe Schule auf den grünen Tigern fiel aus. So geht's mit allen guten Vorsätzen. Die heilige Laurenzia hat es noch eiliger gehabt. Sie ist thatsächlich auf drei Tage verreist. Die stille Wut fraß ihr ja auch seit Monden sichtbarlich am Herzen – und Erholung thut ihr not. Die Arme, Gute. Sie meint's mit allen ihren Pflegbefohlenen so herzlich, nur daß sie das nicht anerkennen wollen. Es ist eben eine Thränenwelt. Aber wie Trianon drei Tage bestehen soll ohne Pythia auf dem Dreifuß – das ist mir schleierhaft.

Ich erzähle so recht mit Behagen? – Wenn du mich nicht verstehst, so blättere eine halbe Stunde im Shakespeare, da jubeln auch die Zimbeln, blasen die Trompeten, und der Rest ist immer Schweigen.

Zum Schluß wurde noch eine Protestpartie nach dem Sachsenteich verabredet, den wir alle nicht kennen und der sehr schön sein soll. Das Alter wird fahren, die Jugend zu Fuß gehen, und das alles soll sich gleich heut nachmittag ereignen. Trianon genießt sichtlich seine kurze Freiheit.

»Und die Jugend werden Sie führen, Baron!«

»Aber meine Herrschaften, bin ich auch würdig genug? Ein Mann, ein leibhaftiger Mann – und 146 fünf junge Tauben einem solchen Habicht im dichtesten Walde schutzlos preisgegeben?« Und ich zeige nach der Himmelsrichtung, wo Laurenzia auf heiligen Zornesschwingen dem Bodethal und seinem Hexentanzplatz gerade zuschwebt.

»Gewiß – natürlich – ein Habicht, ein äußerst gefährlicher Habicht sogar – aber beunruhigen Sie sich deswegen nicht! Wir sind doch keine Kleinkinderbewahranstalt, und heutzutage, wo man über den Verkehr der Geschlechter so ganz andre Anschauungen hat . . . O lieber Baron, Sie müssen einfach mit!«

Ich schiele mißtrauisch nach der braungetäfelten Stubendecke – und sie wankt nicht. Nicht mal ein Ahnenbild stürzt von der Wand, – sogar das Wappenkissen, gegen das ich mich lehne, schmiegt sich gar zärtlich weich! Feiges Gesindel . . . Ich muß wohl oder übel ja sagen. Ein plötzlich schmerzender Knöchel wird sich noch in der letzten Minute finden. Und weil heute nichts halb geschieht, geht auch sofort eine Deputation zu Isa hinüber, ihre Chaiselongue zu umknieen und sie anzuflehen. Sie sagt zu meinem Erstaunen sofort ja, ist mit von der Partie. Alles freut sich, lacht. Es ist die Stimmung eines großen Schulausfluges. Die Menschen sind doch auch in Trianon lieber sündhaft lustig als tugendhaft triste.

Und es ist ein so schöner Nachmittag geworden! Das rotgoldene Herbstlicht liegt weich und warm über dem Thal. Der Wald so stumm und klar, die bunten Blätter beben. Es ist der alte Weg, an dem Bergkirchhof vorüber – nur daß ein milder Hauch wie Versöhnung sanft lächelnd die Gräber umweht und daß wir weitergehen auf der großen, weißen Heerstraße. Es steigt jäh. Hüben und drüben schickt der Wald sein müdes Raunen, seinen lieben Herbstgruß. Die Blätter sinken, der Verwesungshauch rieselt, aber die Sonne lächelt. Es ist ein schönes Sterben. 147 Bei den neun Wegen biegen wir ab. Das Licht malt noch einmal wunderbar hell den grünmoosigen Teppich, umspielt schmeichelnd die glatten Riesenstämme und zieht wie ein goldiger Schleier rotblinkend über Busch und Wald – ein Friedensleuchten, das in fernen Wipfeln verglüht. Es ist ein alter, wenig begangener Weg, mit schilfigem Gras, verwischten Wagenspuren. Er windet sich durch Buchwald, schleicht durch Tann. Ein sumpfiges Rinnsal kriecht zwischen buntem Laub und über braune Tannennadeln dahin, – ein schüchtern Blinken, ein heimlich Murmeln. Der Weg steigt, fällt. Waldthäler schimmern – eine helle Wiese, eine verborgene Schlucht. Heimlich verschwiegen alles. Ein Wildtier fährt aus seinem Lager, wir hören nur das Knacken im Unterholz, sehen einen ungewissen Schatten eilen. Und das müde Herbstlicht lächelt, der müde Herbsthauch rinnt. Der Himmel so hoch und so hell! Ein Tag der Stille, des Gebets . . . Wir gehen in Gruppen, paarweise. Der schmal gewordene Pfad will's, vielleicht auch das Gefühl. Was zu einander gehört, findet sich jetzt zusammen – und schweigt . . . Feierabendstimmung am Nachmittag. Einst liebte ich den Frühling, das Sprossen – das eigne, unverstandene Knospen in der Brust. Dann liebte ich den Sommer, das Blühen – das heiße Thorenherz in heißen Düften badend. Jetzt lieb' ich den Herbst, das Welken – ein Traum, ein Blütentraum in bunten Blättern zu der Mutter Erde niederrieselt . . . Ich bin fünfunddreißig Jahre alt und liebe den Herbst, den rotgoldigen, sterbenden Herbst. Ein gelbes Blatt an einer einsamen weißen Birke raschelt, spielt. Kein Wind, kein Luftzug. Warum tanzt das bunte Blatt so lustig? Jetzt löst sich's, flattert, fällt . . . Ob Schicksalslose auch so thöricht fallen? An einem Herbsttag fällt mein Los. Ich muß immer an das Birkenblatt denken. 148

Isa und ich sind die letzten im Zug. Wir schauen, schweigen. Es ist doch wahrlich ein schöner Tag! Im Schweigen finden sich die Menschen, fliehen sich die Menschen. Eine stumme schöne Frau an deiner Seite ist dir herzensnah oder weltenfern . . . Ich streife aus Zufall Isas Kleid, das schwarze, stumpfe Kleid. Sie sieht auf, will lächeln. Sie lächelt auch. Doch auch in diesem Lächeln liegt das Müde, liegt der Herbst . . . Und doch war's schön, das Schweigen und das Lächeln! Wir verstehen uns, wir verstehen uns ganz gewiß.

An der Chaussee, die wir kreuzen mußten, fanden wir bereits die Wagen und die älteren Damen warten. Von hier ist's nicht mehr allzufern bis zum Sachsenteich. Ganz Trianon stieg vergnüglich durch sanft abfallenden Hochwald zu dem breiten, saftigen Wiesenthal, aus dem ein äußerster Zipfel des stillen, großen Weihers hervorglänzt. Eine von rosigen Schlinggewächsen umwucherte Wasserzunge – die Sonne liegt heiß gleißend darauf, als brenne die Flut.

»Ach, wie stimmungsvoll!«

Wir sind weit zurückgeblieben, obgleich es mich eigentlich vorwärts treibt. Die Herbststimmung innen ist verrauscht. Noch bin ich Mann, begehre. Ich sehne mich aus dieser lauten Herde heraus nach dem ersten Wort, dem ersten Kuß. Ich will mit Isa allein sein . . . Jenseits der Wiese ist Tannenwald, und das letzte Baronessenkleid verschwindet eben.

»Wollen wir lieber unsre eignen Wege gehen?«

»Ich weiß nicht . . .«

»Also dann nicht . . .«

»O doch – ich will, ich will!«

An einer unwegsamen Stelle gewinnen wir den Wald – dichten, duftenden Nadelwald, in dessen regelmäßigen Reihen wir rasch vorwärts schreiten, bis dem Zurückblickenden Straße und Wiese verschwimmen. 149 Der Grund ist glatt, die dürren Zweige zerren. Wir bleiben stehen, horchen. In der hellen Luft verliert sich kaum der fernste Laut. Trianon lacht, Trianon ruft, aber es ist schon weit, die Namen klingen nur noch undeutlich.

»Isa,« sage ich leise und taste nach ihrer Hand.

»Nein, nicht hier, nicht jetzt! Es muß erst still sein, ganz still . . .«

Wir gehen weiter. Die Menschenstimmen sind nur noch ein ungewisses Murmeln – ein Summen. Nur einmal noch klingen unsre Namen wie ein Koboldsruf durch den Wald. Dann scheint uns Trianon endgültig aufgegeben zu haben. Auch der letzte Laut ist verklungen. Wir sind ganz allein. Aber Isa mag noch nicht rasten, sie will tiefer hinein, wo uns die grüne Dickung einzuhegen beginnt, die schweigende Dämmerung. Sie führt, ich folge. Eigentlich ein sinnloses Vorwärtsstürmen. Es reizt mich etwas, und ich sage: »Aber wenn Sie wieder zurückwollen, wenn Sie irgend etwas bereuen – der Brillantstern verpflichtet zu nichts. Nur kein Zwang, keine Fessel!«

Weitergehend sagt sie: »Der Brillantstern sagt nur, was ich will.« Wir sind an einen Wiesenfleck gekommen, einen einzigen, duftenden Wiesenfleck, der wie ein lockendes Liebeslager eingesprengt ist in dies dämmernde dichte Grün.

»Ernest.«

»Isa.«

Ich will die Hand weich um die Kinderhüfte legen, sie an mich ziehen, umarmen, küssen. Da sieht sie mich mit schönen, dunklen, toten Augen an. Unsre Lippen berühren sich – trockene, heiße, dürstende Lippen. Ein leiser, flüchtiger Kuß: mein Brautkuß . . . Dann küsse ich ihr fiebernd beide Hände – kalte, schlanke, blutlose Hände. Doch gerade an dieser Kühle erhitzen sich meine Sinne. Als ich aufsehe, steht sie 150 da wie mit Blut übergossen und zittert . . . Ueber das weite, stumme Grün ringsum gleiten die Sonnenlichter in breiten, ruhigen Wellen wie matter Purpur. Der hohe, klare, weiße Herbsthimmel scheint die Lichtströme aufzusaugen – er beginnt in lichtem Gelb zu schwimmen – in Safran – in weichem Rosenschimmer, bis er endlich gesättigt in tiefem blutigen Rot erglänzt, an dem sich die Waldlinie starr und düster hinzieht. Wir stehen und schauen. Ein wundervolles Bild, voll stummer Schwermut.

»Es wird bald dunkeln,« sage ich.

»Ich wollte, es wäre Nacht,« antwortet sie.

Wir steigen nach dem Weiher hinunter, den nur der Wasserhauch verrät und ein bleiern Schimmern. Mir ist das Herz voll. Ich könnte ihr so viel sagen, so viel Liebes, Gutes, aber das Wort will mir nicht über die Lippen. Die Frau leidet. Ich fühle das, weiß das . . . Wenn die Mädchen vom Heumachen heimkehren, singen sie melancholische Lieder, und nach einem Begräbnis tanzen sie gern bei uns zu Lande. Widerspruchsvolles Geschlecht, das wir sind . . . Und leidende Frauen sind mir heilig auch an einem Freudentag.

Wo der breite Weg der andern unsern Waldpfad kreuzt, ragt hoher Kiefernwald. Ein zerspellter Stamm grinst wie bleiches Fleisch aus der Dämmerung. Der Blitz zerriß ihn von oben bis unten und zerwühlte sogar den Erdboden. Thörichter Blitz, der du so viel Schuldige treffen konntest – und du zerspellst einen unschuldigen Baum! . . . Am Teich ist kein Mensch mehr. Die Sonne sank, und es weht kühl. Zwischen dunkeln, sanften, stummen Tannenhöhen liegt die graue, klare Flut. In der Mitte glitzern Wellen, winziges, neckisches Gekräusel – der Windhauch, der jede große Wasserfläche nach Sonnenuntergang kraut. An den Ufern harren die Wasser in kühler 151 Unbeweglichkeit, und die Baumschatten, die hier ihre Wipfel baden, haben's kalt. Drüben hebt sich der Mond aus dem Wald wie ein Dieb, sacht und verschwiegen. Hier stört uns niemand, und Trianon floh längst zurück über die Wiesen, von denen feuchte, weiße Abendnebel herüberwallen. Wir haben uns ans Ufer gesetzt, ich drücke ihre willfährige Hand. Wir lächeln, wir küssen. Es ist kein leidenschaftlicher Kuß. Es ist ja Herbst, und es weht kühl . . . Isa hat ihre Hand einen Augenblick aus der meinen gelöst.

»Ich muß dir etwas sagen, Ernest . . .«

»O, sage nichts, Isa, sage nichts! Du willst beichten – ich weiß. Aber thu's später, viel später. Und ich muß dir ja auch beichten, viel beichten.«

Aber bei dem Gedanken an eine Beichte keimt mir ein dunkler Zorn gegen das Schicksal, eine instinktive Abneigung gegen alles Gewesene. Warum dieses Schattenspiel erneuen, das mich nur entehrte? Warum Tote wecken, die nie lebten? Was wir auch litten, was wir auch sündigten, wir zwei beide – im Grunde unsers Herzens sind wir beide gut! Das muß uns genügen. Was nützt's, das junge Gefühl mit dem alten Zweifel zu vergiften? Tote sind Tote, und Schatten sind Schatten. Verwünschtes Gaukelspiel vieler Jahre, ich hab' dich herzlich satt!

Und während ich meine Hand wieder um ihre Hüfte lege und die Frau an mich presse, sage ich fast feierlich: »Isa, die Vergangenheit ist tot.«

»Ist sie tot?«

Da stoße ich die Frau in einer merkwürdigen Wallung von mir: »Isa, wenn du noch zurück willst, es ist gute Zeit, der Wald und der See können schweigen und ich auch.«

Einen Augenblick sinnt sie. Dann richtet sie sich halb auf und sagt leidenschaftlich: »Ja, du hast recht, Ernest! Wozu bin ich denn hier? Ich bin 152 frei, ich bin dein. Ich hab' dich lieb, vielleicht schon lange.«

Ueber den Teich schleifen die Wassernebel. Darunter ruht die Flut, dunkel wie ein Sarg.

»Mein Schatz,« sag' ich weich, »wir haben unsre Schiffe verbrannt, unsre Toten begraben, und hier wollen wir die Schatten versenken, da, wo es am tiefsten ist. Dieser See sieht wahrlich aus wie eine kühle Gruft und kann viele Schatten bergen . . . Begraben wir!«

Leiser: »Begraben wir . . .«

Ich sagte nur, was ich fühlte. Und große Kinder, wie wir Menschen doch alle sind, in der Leidenschaft wie im Leiden, wir falten beide die glaubenslosen Hände wie zum Gebet . . . Und seltsam – während jeder auf seinen Begräbnisplatz in der Herbstflut starrt, streift's über mich wie eine kalte Hand. In dem Nebel da, in dem weichen Dunst braut etwas Unheimliches. Es lauert da ein schwarzes, verschleiertes Etwas, ein gespenstisches Leben. Wenn dies schwarze, ekele Etwas wüchse, auf mich zuschwebte, mich umfinge . . . Es giebt Pessimisten, die behaupten: Tote seien mächtiger als Lebende, und Schatten begraben, hieße sie erwecken . . . Ja, mein Freund, ich kenne den Nebelkern jetzt, den Schatten, der über seinem eignen Grabe kreist – es ist die andre Frau, und nie sah ich sie klarer vor meinem Geiste als in dem Augenblicke, wo ich auch ihren Schatten begrub . . . Vielleicht war es eine düstere Ahnung, ein gnädiger Riß im Schleier der Zukunft. Wenn ich jetzt aufstände, ihre Hand leise drückte und sagte: »Leb wohl, Isa, leb wohl für immer!?« – es wäre ein Wahnsinn, und es wäre eine Gemeinheit: statt eines Schattens folgten mir dann zwei.

Das Ganze war, wie gesagt, nur ein Moment.

Die lichten Nebelschleier über dem See lösten sich, 153 zerrannen – und gerade an meiner unheimlichen Stelle das kühle, klare Wasser wieder blinkt . . . Ich liebe diese blasse Frau doch allein, will sie allein lieben.

Weißt du übrigens, was wir beide, der Mann und die Frau hier sind? Verschmachtende, in dürren Erinnerungswüsten Verlorene, des Trankes schon lange entwöhnt, nach dem wir lechzen. Heiliger Trank, heilige Schale! – Der Mond war höher gestiegen, eine gelbe, blasse, volle Scheibe von milder Majestät. Unter diesem Licht liegt der Wald ringsum wie verzaubert, schwarz, stumm, ein Zweig flüstert im Traum. Die feuchten Wassernebel sind entflohen, gescheucht von dieser ruhigen Klarheit; der Teich erglänzt im Silberschein, und das zarte Wellengekräusel auf der Seehöhe glitzert. Ein Fisch schnellt auf, eine Blase zieht. Dann wieder Stille . . . Alter Mond, wie viel Liebe hast du nicht schon geschaut und hast sanft gelächelt! Du segnest, du weihest die Liebe wie ein greiser Priester, den im Angesicht des jungen Glücks der Schatten der Erinnerung weh und freundlich überkommt. Die Liebenden lieben dich, und du liebst die Liebe. Du bist ein Zauberer. Die grelle Tagessonne sticht und höhnt, die Liebe, die ihr heißer Strahl einst weckte, flieht vor ihr rasch in die Dämmerung, in das Dunkel; der Mond deckt heiße Freuden sänftlich zu. Guter Mond . . .

Ich habe Isa an den Waldrand drüben geführt, unter die Kiefernwipfel, wo der Nachthauch warm rieselt, wo die Lichter weich und geheimnisvoll durch das Holz flimmern. Da habe ich sie umarmt und geküßt, bis zum Wahnsinn umarmt und geküßt! – Und sie küßte mich wieder, heiß, dürstend, sie preßte sich an mich, sie hat ja so viel unverständliche Kraft, so viel unverbrauchte Jugend, und der Zauberbecher an unsern Lippen ist so klar, so voll, wir trinken ihn ohne Ermatten. Es ist freilich ein Rausch, 154 ein köstlicher Rausch, in dem die trunkenen Augen blinken.

»Hast du mich lieb?«

»Ja, ich habe dich lieb.«

Und den Becher noch am Munde, fühle ich die Schlange eines kleinen Argwohns an mir emporkriechen. Wer lehrte sie diese heiße Liebe? Wer küßte sie so dürstend vor mir?

Und ich sage heißer: »Liebtest du ihn, den ich nicht kenne, den ich nur ahne, wie mich? Küßtest du ihn wie mich? – Sag, Isa!«

Da schließt mir die heiße, duftende Hand jäh den Mund. »Erinnere mich nicht – sage nicht, frage nicht . . . Was ich vor meinem Herzen nicht verantworten könnte, that ich nie . . .«

Und ich fühle, daß es eine heiße, unbewußte Frage war, ein brutaler Instinkt. Wir wollen alle allein besitzen, was noch nie ein andrer vor uns besaß. Und wir haben doch sicher kein Recht dazu, wir, die wir vorher schon so viel besaßen! Einst war ich eifersüchtig bis zur Tollheit, gönnte niemand ihren Blick. Das ist lange her. Da hatt' ich auch ein Recht dazu, ich zitterte instinktiv vor den tausend andern, die, wie ich jetzt begreife, der Frau genau so lieb waren wie ich. Ich kämpfte für meine Liebe wie die Wölfe um ein Reh. – Hier bin ich gar nicht eifersüchtig, ich will die Vergangenheit nicht wissen. Sie soll mich nur lieben, lieben . . .

Und während ich die wehrende Hand küsse und wieder küsse, ist sie zurückgesunken mit geschlossenen Augen, mit einem gepreßten Mund. Sie flüstert kraftlos wie eine Sterbende: »O, hab mich lieb, Ernest, hab mich lieb! Wir dürsten, wir darben ja alle . . . Unsre Herzen hungern so nach der Liebe.«

»O, ich habe dich lieb, Schatz, ich habe dich lieb, ich habe dich lieb!« In einem stetig sich steigernden 155 Rausch wiederhole ich diese Worte sinnlos, bethörend. Ich bedecke das geliebte Geschöpf mit Küssen – das Gesicht, das stumpfe, schwarze Kleid mit dem köstlichen Duft von Jugend und müdem Reiz. Ihr Körper zittert, bebt, krampft sich. Es ist zu viel, es ist zu heiß, es ist ein uferloser Strom. Und ohne die Augen zu öffnen, breitet sie ihre beiden Arme aus, umklammert mich, preßt mich in einem tödlich leidenschaftlichen Druck, der mir den Atem raubt. Und ihre Lippen, an den meinen hängend, fragen mit heißem Odem: »Hast du mich auch wirklich lieb, Ernest? Bin ich dir alles? – Ich will dir alles sein, alles!«

»Alles, Isa, alles.«

So ruhten wir lange in leidenschaftlicher Umarmung, bis uns die Liebeskraft verrann, die Lippen erlahmten. Es war wie ein Traum, aus dem wir erwachten. Sie löste ihre Arme, ich richte mich auf.

»Wo bin ich?« fragt sie.

»Bei mir,« sage ich.

»Ach ja, bei dir – es war so schön . . .« Das Mondlicht spielt gerade auf dem schwarzen, schönen Haar, und der Brillantstern funkelt. Ich beuge mich auf sie nieder, das Haar zu küssen – unsern Liebesstern . . .

»Was thust du da, Ernest?«

»Ich küsse den Stern.«

»Küsse ihn nicht!«

»Ich küßte ihn schon – es ist zu spät,« lächle ich.

Da richtet auch sie sich langsam auf, und über das feine Gesicht gleitet ein so müder, schwermütiger Zug, die Augen, von mir abgewandt, starren auf den See, die Schattengruft. »Warum küßtest du ihn, warum?« sagt sie leise klagend.

»Weil er unser Glücksstern ist, Isa. Was ist eigentlich dabei?« Ich verstehe sie wirklich nicht. 156 In dem Ausdruck wie in dem Ton liegt etwas Fremdes, Rätselvolles.

»Der Stern brachte noch niemand Glück . . . Du hättest ihn nicht küssen sollen.«

Eine schwüle Pause. Sie streift sich indessen das Kleid zurecht, nestelt sich am Haar. Sie hält den Brillantstern in der geschlossenen Hand, und ins Leere starrend, sagt sie: »Ich will ihn ins Wasser hier werfen, wo ihn hoffentlich niemand findet.«

»Den schönen Schmuck, Isa?«

Aber sie bleibt fest. »Es ist ein Unglücksschmuck. Es hängen zu viele Thränen daran, und guten Menschen hat er Jahre ihres Lebens verbittert. Es war ein Wahnsinn von mir, ihn je wieder tragen zu wollen . . . Ich that's nur dir zuliebe als letzte, schwerste Probe . . . Wir begruben Schatten vorhin – und vergaßen ihn. – Sieh da!« Eine rasche Handbewegung, ein glitzernder Streif – die Wasser zischen und raunen.

»Isa, wie konntest du?«

Sie starrt schweigend auf die Stelle, bis sich die Wasser beruhigt haben, und der unbewegte Silberspiegel glänzt, dann sieht sie mich ruhig an, ruhig und liebevoll: »Ich that nur, was ich mußte, und wenn du mich wirklich lieb hast, frage nie.«

»Wie du wünschest, Isa.« Und doch wurde mir wunderlich kalt ums Herz. Durch die Kiefernwipfel ging ein Klagen, ein unheimliches leises Klagen, dem ich ängstlich nachhorchte – es verklang, dünn und schrill wie eine gesprungene Saite. Der Mond im Wald malt gern Gespenster. Mir ist es, als stünde ein Schatten hinter mir, derselbe Schatten, der gestern nacht traurig aus meinem Zimmer schlich. Es war die andre Frau. Aber diese Tote lächelte sanft, wie sie gern that im Leben, sie war zufrieden mit mir heute, sie wünschte mir herzlich Glück – und doch 157 kroch mir der Tod über den Rücken bei diesem freundlichen Glückwunsch.

»Wir wollen aufstehen, Ernest, es ist kalt.«

»Ja, wir wollen aufstehen, Isa.«

Licht und Schatten – Berg und Thal. Das Leben thut's nun einmal nicht anders. Es war ein hoher Berg, darum ist's auch ein tiefes Thal. Jene tödliche Ermattung hat mich überkommen, die Ebbe einer schweren Flut – die Wogen verrauscht, der Strom verronnen . . . Wenn unsereiner doch innerlich verbraucht wäre, wenn er nur noch Sinne zu geben hätte, nur Sinne? Es wäre furchtbar.

Auf einem andern Wege gehen wir zurück. Zuerst eine tauige Schneise zwischen grabesstummen Hochwaldlinien – der Mond gleißt tückisch, und Schatten lauern überall. Wenn ein Ast knackt, fahre ich zusammen. Wer folgt uns heimlich? – Niemand. Nur die Nerven spuken. Und doch kann ich das Gefühl nicht los werden, als gleite ein Schatten die dunstig lichten Stämme entlang. Wir beide gehen nebeneinander, die Körper berühren sich nicht, zuweilen streift das Gewand. Wir bleiben stehen, schauen uns um. Wir sind eben nicht mehr allein – Schatten hüben und drüben. Wir lächeln uns an – ein geniertes und doch falsches Lächeln. Dann kommt die Wiese, wo der weiche Sumpfboden schwankt – der Schritt unangenehm lautlos, das Gras klebrig feucht. Wenn wir nicht schwer atmeten, wir zögen selbst dahin wie unsre Schatten. Weißes Birkengebüsch am Rande, fahl leuchtend – ein welker Busch von phantastischer Form am Wege, Dunstfetzen umwallen ihn. Wieder der gespenstisch dunkle Kern darin, das wesenlos Starre, der schwarze, tückische Punkt in jedem Sein, den nur Thoren mit dem bunten Lappen ihrer Phantasie verkleiden. Ein trübe blinkender Sumpfbach, die Wasser träge, als flössen sie nicht. Ein 158 loser Steg aus Birkenknüppeln führt hinüber. Wieder Wald, hoher Buchenwald mit dichten, stummen Kronen. Ueber gelbes, raschelndes, totes Laub schweift der Blick, bis die glatten Riesenstämme verschwinden in Dunst und Nacht. Es ist warm und still hier. Da habe ich sie wieder an mich gezogen und geküßt.

»Isa.«

»Ernest.«

»Liebe Isa, Schatz . . .«

»Ja, Ernest.«

Wir gehen eng umschlungen auf dem mit weißen Bruchsteinen besäten Weg. Es waren nur wenige Minuten, ein Licht schimmert, Hunde bellen. Das Wirtshaus auf dem Birkenberg, wo ganz Trianon sein Souper nehmen wollte. Unsre Körper lösen sich wieder voneinander. Mir war's einen Augenblick, als atme die Frau wie befreit auf, als hätte mein Arm mit weichem Druck schwer auf ihr gelastet. Als wir auf die Blöße kommen, das Gehöft mit den breiten Chausseen zur Rechten und zur Linken, sah ich Isa argwöhnisch ins Gesicht.

Sie lächelte und sagte: »Du lieber Ernest.«

Ich muß mich also getäuscht haben vorhin.

In dem Wirtshause aßen wir zu Nacht. Ein Speisesaal mit abgestandener Luft, aber gemütlich warm, viel Geweihe an den Wänden. Ein paar Touristen, die uns neugierig anglotzen, um dann im Reiseführer weiter zu lesen. Für die meisten Leute reist ja das Buch – Isa sieht so sehr matt aus, mit herabgesunkenen Mundwinkeln – so blaß, so schlank, das wunderschöne schwarze Haar war ein wenig verwirrt, und der Brillantstern fehlte, diesen schönen Kopf zu krönen. Mir gehört nun einmal der Brillantstern heute zu dieser Frau . . . Ich drücke ihr unter dem Tische heimlich die Hand, eine fröstelnde, feuchte Hand. Als ich aufschaue und in dem großen 159 Spiegel mir gerade gegenüber mein Konterfei erblicke, gewahre ich um den Mund denselben müden, abgeblaßten Zug . . . Das solide Trianon hatte sich natürlich längst empfohlen, und der Wirt, der ewig betrunkene, rotwangige, schimpfte lallend am Büffett. Wir haben eiskalten Cliquot geschlürft, wie sich das so gehört – sie wenig, ich viel. Der Wein beginnt mir durch die Glieder zu rinnen, mit ihm die trunkene Lebenskraft. Mir ist wieder so wohlig wie auf einer Hochzeitsreise. Ich bin aufgelegt, scherze: »Isa, heute bricht Trianon zur Abwechslung über uns den Stab.«

»Mag es, mir liegt an Trianons guter Meinung nichts.«

Ich rede Thorheiten, male Zukunftsbilder und vergesse dabei völlig, daß diese Frau Katholikin, noch nicht geschieden, und daß eine braune, dürre Heide des Wartens zwischen dem Rausch heute und dem Glück einst liegt.

Aber sie hört willig, die Augen leuchten warm. Jetzt drückt sie mir verstohlen die Hand. »Ich bin so glücklich, Ernest, daß du mich so liebst!«

»Und du mich, Isa . . .«

»Ach, denk nicht immerwährend an mich und mein Glück! Ich denke nur an dich und daß du glücklich wirst.«

»Kleine, liebe Thörin! Wir wollen doch eben beide glücklich sein und jeder nur an den andern denken und nicht an sich.« Das waren sanfte, liebe Wellen an dem Abend. Berg und Thal verschwammen zu einer köstlichen Monotonie.

Als wir wieder 'raustraten, heimwärts pilgerten auf der weißen, stummen Chaussee – es wehte uns eisig kühl an beim Hinaustreten –, kamen auch die Schatten wieder und geleiteten mich treulich bis zu dem mondbeschienenen Nest, das mit vielen Lichtern und trunkenen Stimmen noch sonntäglich feierte in seinem 160 engen Thal. Trianon, dem wir unser langes Ausbleiben mit einem Irrweg erklärten, hatte zum festlichen Empfang sogar die Glühlaternen über den grünen Tigern entflammt, die sonst nur zu des Herzogs Geburtstag brennen. Die ganze Gesellschaft saß gähnend und abgespannt noch im Vorgarten, eingemummt wie im Winter – sie hätten so gerne aus unsern Gesichtern ein großes Glück und eine noch größere Neuigkeit gelesen. Als Trianon nur ein undeutbares Lächeln fand, begab es sich enttäuscht zur Ruhe. Wir zögerten absichtlich, saßen noch eine ganze Weile. Als wir die steile Treppe zu der inneren Tugendburg hinaufstiegen, horchte ich erst nach allen Seiten und wollte dann meinen müden Schatz zum Abschied küssen. Sie wehrte: »Nicht hier! Aber komme nachher noch ins Rauchzimmer – ich werde auch da sein.«

»Isa, leichtfertiger Schatz! Wenn uns da nun jemand überrascht? – Denn vor Morgengrauen lass' ich dich da nicht weg.«

»Ich will so lange bleiben, wie du willst, Ernest.« Dabei steigt sie nun langsam, Stufe für Stufe, als sei sie zu Ende mit ihrer Kraft. »Versteh mich recht! Ich kann diese Nacht nicht allein bleiben in meinem kalten Zimmer – heute nicht. Ich will bei dir sitzen, du sollst mich lieb haben: ich friere so leicht. Du machst mich warm . . . Vielleicht ist's auch . . .«

»Vielleicht, Isa? Warum sprichst du nicht weiter?«

»Weil es häßlich wäre, und weil du es mißdeuten könntest. Einmal sage ich es dir schon, aber später, viel später . . . Du mußt mich lieb haben, mein Schatz, immer lieb haben! Versprichst du das?«

»Isa, du merkwürdiges Geschöpf! Wenn ich dich nicht lieb hätte und das nicht lange gefühlt hätte, wäre ich doch nicht mehr in Trianon.« 161

Es war eine unvergeßliche Nacht. Ein mondbeschienenes Zimmer, ein weicher Fauteuil, – die Frau in meinem Schoß. Wir saßen, bis der Mond im Buchenwald längst verglommen war. Als die Nacht uns ganz deckte, war unsre Liebe am heißesten. – Wir lieben die Nacht. Es war der Höhepunkt, der Riesenberg, der schwindelnde Gipfel, über den hinaus es nur Wolken noch giebt. Und was ich nur dir sage: Der Schatten war auch da und wollte mich quälen, mit seinem lieben Lächeln, seinem Freundesgruß. Es giebt ja nichts Ganzes im Leben. Aber er weilte nicht lange, wurde schemenhafter und schemenhafter. Zuletzt wallte er nur noch wie ein Schleier der Nacht. Die Nacht birgt Wunder, der Schatten und die Frau in meinem Arm schienen eins geworden in dem tiefen Dunkel – und ich weiß nicht, ob ich die Frau leidenschaftlicher geküßt habe oder den Schatten. Im Dunkel deucht es mir, es war die Frau, nur die Frau, die ich küßte – und nachher in meinem Zimmer, im Hellen schien es mir, als wär's der Schatten . . . Wenn sie nur immer so zusammenfließen wollten, immer . . . Gute Nacht.



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