Johannes Richard zur Megede
Trianon
Johannes Richard zur Megede

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Fünftes Kapitel

Gott sei Dank, daß der Maler endlich wieder da ist! Da kommt wenigstens Leben in die Bude. Er erschien ganz unerwartet nach dem Abendbrot auf einmal im Salon. Die Häkelnadeln hatten gerade besonders eifrig geklappert, und Karas Sitzbad – es war das sechste, vergiß du es wenigstens nicht! – beschäftigte unausgesetzt die Gemüter. Da – der steinerne Gast kann nicht würdiger empfangen werden – stand dieser Verbrecher auf der Schwelle. Lächelnd, verschmitzt, sieht sich stumm ringsum. Die 68 kleine Erzieherin sitzt schuldbeladen in einer Ecke. Erst blinzelt er belustigt, dann zucken die Schnurrbartspitzen, und dann verbeugt er sich mit der kühlsten Reserve allerseits. Die Handarbeitsrunde machte es auch allzu deutlich. Er tritt darauf wie immer zu uns, zur Jugend, erzählt gewandt eine witzige Lügengeschichte von seiner Reise. Ich lache leise, die Baronessen lächeln mühsam. Aber kein Tralala-li, obgleich die Stimmung dies Versöhnungslied geradezu heischte. Die Ahnen ringsum starren mit ganz großen, eiskalten Augen, von einem Wappenkissen hebt sich drohend ein stahlbeschienter Ritterarm, nur das elektrische Licht glüht freundlich – es glüht in einem Eiskeller. Und unter diesem moralischen Druck hält der Verbrecher eine ganze Stunde aus, gleichmäßig, kühl, ironisch. Ich bewundere ihn. Denn wer wie der Gras wachsen hört und längst alles erraten hat . . . Ich war eigentlich froh, daß die Isenberg nicht da. Unsre Augen hätten sich doch gefunden, verstanden. Aber wozu? . . . Ich bin neugierig, ob der Geächtete heute schon seinen Malkasten packt oder erst morgen früh?

*

Er packt nicht heute, er packt nicht morgen, er packt überhaupt nicht. Er bleibt. Armes Trianon! . . . Ich ahne nicht, welche Augen oder welche Lippen ihm die ganze Skandalgeschichte haarklein herübertelegraphiert haben, denn er hat sich aus seiner Mansarde bis mittags nicht heraus gerührt; aber kaum hat er seinen Präsidentensitz an der lustigen Ecke und in der Nähe der Thür wieder bestiegen, als er auch schon, sich höflich verbeugend, fragt: »Habe ich Anstoß erregt?«

Die kleine Erzieherin wird purpurrot, die Baronessen ducken sich verlegen, die Comtesse schiebt mit unentwegtem Ernst ihren Salzwagen zu dem 69 Hauptmann der Feuerwehr hinüber. An dem Artustische zucken verschiedene alte Ohren, heute erregt ihm alles Anstoß. Der Suppenlöffel klirrt: »Ich nehme Anstoß!« Die Sonne lächelt – »Ich nehme Anstoß!« Es giebt nichts auf der Welt, was ihm nicht anstößig wäre, oder wo er nicht scheinheilig fragte: »Habe ich vielleicht wieder Anstoß erregt? Ich beschwöre Sie, meine Damen – sagen Sie doch nur! Ich bin ein einfacher Mann und weiß oft nicht . . .« Ein einfacher Mann ist er nun keineswegs, sondern ein höchst empfindlicher Aristokrat, dessen lustigen Spott man lieber nicht zum beißenden Hohne hätte reizen sollen. Trianon stöhnt. Die reifere Damenjugend ist zu jeder möglichen Konzession aufgelegt, bloß um diesem schrecklichen: »Anstoß – schweren Anstoß« zu entgehen. Er macht's wirklich ein bißchen bunt. Die Handarbeitsrunde hat zwar empfindliche Ohren, aber ihre gute Erziehung verleugnet sich doch nicht. Neulich schenkte ihm sogar die adlige Schulvorsteherin mit eigner Hand die zweite Tasse Kaffee ein – eine Art Friedenstasse. Er sagte auch das höflichste: »Sehr gnädig, sehr gnädig!« – fragte aber sofort über den Tisch weg: »Habe ich das richtig gemacht, erregte ich wirklich keinen Anstoß?« – Gehörte mir Trianon und wäre mein Gemüt auch noch so christlich tugendhaft, der gute Mann hätte noch in derselben Stunde die hohe Schule auf den grünen Tigern des Eingangs reiten dürfen zum Abschied. Aber wer immer keck in die Bresche springt, an den wagt man sich nicht, und ich sehe schon die Zeit kommen, wo das lachende Laster doch triumphiert.

Mich schnitt er im Anfang – und das mit Recht. Ich mußte ihn in seiner Mansarde zuerst aufsuchen, wo er jetzt Trianontypen böswilligster Uebertreibung zirkelt. Die hohe Tugend wird wirklich noch schweren Anstoß an dieser Kollektion nehmen. 70

Erst war er direkt feindlich. »Nee, Ramingshoven, das ist sanfte Schauspielerei!«

»Wieso?«

»Ich erwartete Ihren Besuch durchaus nicht.«

»Aber ich den Ihren. Und wenn ich in diesem Punkt gesellschaftlicher empfinde . . .« Es war der gewisse Moment, wo eine Kleinigkeit genügt. Jedoch ich muß ihm das Zeugnis ausstellen, daß ihn diese Kleinigkeit absolut nicht schreckt.

Er ging auf mich zu, ganz blaß, ganz Kavalier, und sagte eisig: »Mein verehrter Baron von Ramingshoven, vergessen Sie in Ihrem Leben gefälligst nie, daß ich aus einer ebenso guten Familie stamme wie Sie! Und wenn ich den königlichen Dienst etwas früher quittierte, so ist das meine Sache. Jedenfalls ersuche ich Sie höflichst, keine gesellschaftlichen Unterschiede zwischen uns zu Ihrem Vorteil machen zu wollen.«

»Hören Sie mal!«

»Hören Sie mal!«

Aber diesesmal war ich der Versöhnlichere. Und hatte er nicht im Grunde recht?

»Haben Sie, bitte, die Güte, sich näher zu erklären!«

Er geht einige Male, seine Zigarette paffend, auf und ab . . . »Sie kennen mich, Herr von Ramingshoven, und Sie wußten genau, weswegen ich verreiste. Es wäre einfach Ihre Pflicht gewesen, dem armen Dinge beizustehen.«

»Hat sie mich vielleicht darum ersucht?«

»Darum braucht ein Edelmann nicht ersucht zu werden! Sie waren der einzige, der orientiert war, und es hätte vielleicht nur eines einzigen Wortes von Ihnen bedurft, um einem unschuldigen Geschöpf eine sehr große Demütigung und mir ein sehr unangenehmes Wiedersehen zu ersparen.« 71

»Na, gut – ich gebe Ihnen in gewissem Sinne recht.«

Er promeniert weiter. »Ich verstehe Sie doch nicht ganz . . . Ich bin gewiß ein verdorbener Bursche. Aber es giebt Dinge . . . Nein, Ramingshoven, wenn man auch in Trianon lebt, darf man doch nicht Trianon sein!«

Er hat Wort für Wort recht. Und ich kann ihm doch wiederum nicht sagen, daß ich eben so bin, wie ich bin, daß ich nur noch die Kehrseite einer guten Medaille zu zeigen vermag. Was hinter mir liegt – und was vielleicht vor mir liegt . . . Ich kann den Leuten auch nur sagen: »Ach, wenn ihr ahntet!« Das ist eben der Fluch eines großen Gefühls, daß es nur Schlacken zurückläßt, Schlacken.

Der Maler ist bei seiner Promenade sehr nachdenklich geworden. Endlich bleibt er stehen und sagt: »Das Ganze ist Altweibergewäsch. Und dennoch . . . Es liegt etwas unendlich Deprimierendes für mich darin. Sie wissen alle so genau wie ich, was eine Tugend à la Trianon wert ist, – aber keiner, der Farbe bekennt! Sie sitzen alle mit geduckten Köpfen . . . Herr Gott, nur ein bißchen Ueberzeugung, ein bißchen Mut!« Er lacht hart auf. »Wär's die Isenberg gewesen, vornehm, reich, mit dem Excellenzgrafen als schirmendem Schatten hinter ihr, niemand hätte einen Verdacht gewagt. Und hätte doch jemand – es wären ihr sofort hundert männliche und weibliche Ritter erstanden . . . Ach pfui! Mich ekelt die ganze Menschheit an.«

»Und dennoch war ein Ritter da – einer, den Sie vielleicht nicht vermuten.«

»Wer?«

»Die Isenberg selbst.«

Ich hatte im stillen geglaubt, er würde vor Verwunderung ganz starr sein, aber er lächelt nur: 72 »Wenn überhaupt eine, dann that die's! Denn sehen Sie mal, die Gott stets im Munde führen, haben ihn sehr selten im Herzen, und der wahre Adel wühlt nicht gierig unter Wappen, wie ein Landstreicher in einem Müllhaufen. Ich kenne die Isenberg kaum, aber so viel ist mir längst klar, daß sie die einzige ganz große, ganz vornehme Dame hier ist. Der Name thut mir dazu nichts. Denn auch noch heute können die Könige nur Edelleute machen, aber nicht Gentlemen . . .« Er tritt dabei an den sehr unordentlichen Tisch und gräbt ein Zigarettenpaket heraus. »Nehmen Sie, Ramingshoven – es ist die Kaiserzigarette! Und nun sagen Sie mir mal ganz ehrlich: müssen wir beide uns nicht ganz jämmerlich vorkommen? Ich, der ich ein liebes, junges, vertrauendes Geschöpf doch nur an der Nase herumführe, und Sie, der Sie über den guten Ruf einer Erzieherin einfach zur Tagesordnung übergehen? . . . Es war wieder einmal eine Frau, die den Mut hatte, wahr zu sein! Bei mir wenigstens sitzt der Stich . . . Ueberhaupt die Frau . . .« Er lümmelt sich in seinen Lehnstuhl und hält mir paffend einen Vortrag . . . »Ueberhaupt die Frau . . . Was wären wir ohne diese kleine Nippfigur im Leben! Sie sind nun einmal weit besser als wir, sie sind überhaupt das Beste am ganzen Leben, von der Mutter an . . . Ich habe allerdings immer mit den Weibern gespielt, ich bin der schlechte Kerl, der ich scheine. Aber ich habe mir nie eine Tugendlarve aufgesetzt, und keine Geliebte hat mir meine Schlechtigkeit nachgetragen . . . Im Augenblicke meine ich leider stets, was ich sage, und die Weiber wissen das und halten wenigstens die eine hübsche Erinnerung heilig. Aber den Deuwel lassen ja auch die armen Seelen kalt, wenn er sie glücklich in seinen Höllenpfuhl hineinpraktiziert hat, und es ist eine ganz verfluchte Anlage, daß ich mit der Liebe 73 und dem Tabak ewig wechseln muß, wenn sie mir bekommen sollen . . . Ach, pfui Teufel! . . .« Er stampft seine Zigarette in den Aschenbecher: »Der alte Mephisto hat recht: Du Spottgeburt von Dreck und Feuer . . . Was habe ich für Tage hinter mir! Das waren zehn Tage, die doch mal gelebt zu werden verdienen . . . Eine Frau, die alles giebt, was sie hat, jubelnd, mit vollen Händen, ohne Skrupel, ohne Reue, eine Frau, der auch nicht der leiseste Schatten des Argwohns über die gläubige Kinderseele huscht. Sie sagt nicht, sie fragt nicht, sie giebt. Das ist reiner Zaubertrank, das ist schöne Sünde! Und nachdem er alles genossen und besten Dank gesagt hat, ist der schlechte Kerl hier mit viel Sehnsucht und noch mehr Katzenjammer in dieses Tugendheim zurückgekehrt. Morgen reibt er sich vielleicht schon vergnügt die Hände und kommandiert: Ablösung vor!«

Er spricht gut, wenn ihm die grauen Spötteraugen warm werden und die Stimme weich, er kann leider auch nicht aufhören. Und was hat er mir nicht alles erzählt: von Wald und Sonne und Einsamkeit und glückselig lächelnder Sünde. Ich wurde selbst warm dabei und sah die beiden frohen Sünder leibhaftig hinter einem Felsblock sitzen und sich lieb haben. Ich höre die Küsse, ich spüre den Lebensstrom – und er faßt mich, trägt mich, ich tauche nieder in dieser warmen Flut. Ja, Sünde ist süß! – So lohnt's doch noch: jung und schlecht zu sein, wie dieser gute Kerl, lachend zu nehmen, lachend zu geben, weiter zu ziehen, wie ein fahrender Musikant. Ich glaube dabei nicht mal, daß er so leicht scheidet, so leicht vergißt. Es war doch auch ein starkes Gefühl, was ihn damals hinauszog, und die Blume, die er pflückte, blüht nicht auf jeder Waldwiese. Empfindet er, wie er spricht, so wirkt der Zaubertrank noch. Ich möchte ihn fast warnen – denn ich kenne den 74 Trank nur zu gut und weiß, daß er Leiden schafft. Mir wurde er sanft vom Munde gezogen, kaum, daß ich daran genippt. Und jetzt frage ich mich manchmal: »War's überhaupt ein Zaubertrank?«

*

Der Kerl hat mich ganz verrückt gemacht mit seinen Liebesgeschichten. Trianon drückt, das enge Thal drückt, die Tugend drückt. Man sehnt sich aus dieser zweitausendjährigen Gesellschaft heraus, nach einem sonnigen Waldeshang. An einem hopfenumwucherten Holzstoß wartet vielleicht schon das wahre Glück und winkt und winkt – und der vorüberreitende Ritter ist leider ein blinder Ritter . . . Ach, das ist ja alles Unsinn, Phantasterei! Auch das lichteste Bild hat einen dunkeln Schatten.

Warum blieb mir eigentlich nur der Schatten?

Als Dank für so viel Offenheit beneide ich den glücklichen Leichtfuß, hasse ihn beinahe. Was hat der Kerl für ein Recht, zu schlemmen, wenn bessere Leute darben müssen? Am Ende packe ich schon morgen meine Koffer.

*

Ich bleibe in Trianon – du wunderst dich? Erst empört, dann gelangweilt, dann ein ergebungsvoller Philister . . . Das letztere stimmt nicht ganz. Ich habe jetzt eine neue Passion bei mir entdeckt: ich mache in Waldspaziergängen, in meilenweiten, endlosen, obgleich der Pfuscher von einem großen Nervenarzt mir noch heute brieflich Ruhe predigt – Ruhe, nur ja keine Ueberanstrengung! – und dabei den schüchternen Ratschlag einflicht, seßhaft zu werden, vernünftig zu heiraten, für Kinder und möglichst bald für Großkinder zu sorgen . . . Wenn sich ein harmloses Comtessenschaf findet, das schon von den Ahnen 75 her auf Leidenschaftslosigkeit gezüchtet ist – eh bien! Aber das dazu gehörige männliche Schaf will vorläufig davon nichts wissen. Ich, in solcher Schafhürde! Ich will das Geschöpf nicht sehen.

Indessen wandle ich, wandle ich.

Und der Wald ist schön! Diese tiefe Buchenwildnis, dieses weiche Dämmern, diese rauschende Einsamkeit . . . Ich habe nie ein Ziel. Und jeden Tag erneut sich das alte Spiel. Ich steige müde, unlustig den Schloßberg hinab – die Beine wollen nicht. Auf dem alten winkligen Marktplatz sehe ich mich unschlüssig nach allen Seiten um. Bald nickt das wunderliche Rathaus, bald winkt grämlich der alte Turm, bald blinzelt ein Sonnenstrahl über der Konditorei – das sind nämlich meine drei Wegweiser in die drei Thäler. Meistens siegt das alte Thor. Aus dieser Richtung bin ich ja nach der Residenz gekommen. Da senkt sich sanft die endlose Hauptstraße, da liegt das Konsistorium, da wohnen die Hoflieferanten, da spielen die meisten blödsinnigen Kinder. Nur nicht steigen!

Mit einer wahren Angst vor den Bergen pendle ich dahin – und dabei verschwinden die Häuser, die Villen, zuletzt das rote Prachthaus. Es beginnt nach Buchenlaub zu duften, nach verborgenen Wiesen, ein Bach eilt durchs Buschgrün . . . Ich gehe schneller und schneller. Die schattige Chaussee schlingt sich so geheimnisvoll, lockend lugen die Berge. Bei dem nächsten graugrünen Wegweiser schiele ich zu ihnen empor – der Weg steigt sacht . . . Ich habe nur eine kleine Gesundheitspromenade machen wollen – und ehe ich's mich versehe, steige ich . . . steige ich. Die Luft wird frei, die Brust weit, das Herz hämmert mutig. Ich bin im Waldesbann. Und der ist stark! Ich sehne mich nach den luftigen Höhen, dem kühlen Wind. Und in dieser Lebensluft wandre ich 76 meilenweit. Es sind wundervolle breite Waldchausseen – aber kein Wegzeichen, kein Mensch. Hüben und drüben Buchen – einmal feierliche Säulenhallen, wo weiche Lichtströme fluten, dann die Lichtung am Hang mit schwarzen Baumstümpfen, rotem Fingerhut, raschelnden Eidechsen, und tiefer hinein die Fichtendickung, stumm, grabesdunkel, auch in der Mittagsglut eine brütende Nacht . . . Ich gehe unsinnig schnell. Es überkommt mich mit einem kindlichen Sehnen zugleich eine verbissene Kraft. O, ich kann jetzt die großen Feudalherren aus dem Schloß sehr wohl verstehen und wie sie die Touristenschwärme hassen und ihrem Wald die heilige Einsamkeit ewig erhalten möchten! Ich verstehe ihre Abgeschiedenheit, wenn ich selbst auf solch köstlich stummen Ausguck trete, zum Spätnachmittag. Die Sonne scheint da in ihren eignen Lichtströmen zu ertrinken. Rings die weichen, dunkeln Waldlinien, Welle auf, Welle ab – ein ehrwürdiges Meer, in dem wie Sturmwarten einsame Baumriesen starren, ein mächtiges Eisenkreuz, aus sagenumwobener Nebelferne das Barbarossadenkmal schimmert; in den schmalen Thälern langgestreckte Dörfer, armselig geflickt, mit sanft wirbelndem Feierabendrauch. Und wie das allmählich versinkt in graue Dämmerung, schweigende Waldesnacht, bis nur die höchsten Gipfel noch rotgolden flimmern und der Baldachin auf dem Eisenkreuz im Abendwinde schwankt . . . Für das horchende Ohr kein Laut als das kühle Blätterrieseln, das Märchenflüstern und der knarrende Ast unter dem gravitätisch schreitenden Hirsch; ganz fern die Glocken einer Herde, die von ihren Waldwiesen thalwärts zieht. Ich bin nicht passionierter Jäger, aber ich liebe den Wald, und ich wundere mich eigentlich, daß ich ihn erst jetzt suchte. Nun habe ich endlich, was ich wollte. Ich fühle mich ganz genesen, stärker werden . . . Aber ich schlafe schlecht, miserabel, mich quälen die unsinnigsten Träume. Eine 77 merkwürdige Unruhe ist über mich gekommen – ein leeres Wünschen, leeres Hoffen. Die wunde Stelle brennt.

*

Seit einigen Tagen ist's wieder unerträglich schwül. Ein Gewitter liegt in der Luft.

Trianon kenne ich kaum noch. Ich esse dort meine Mahlzeiten und lächle nach allen Seiten verbindlich. Die Isenberg macht's nicht besser. Ein vernünftiges Wort von ihr kannst du ruhig mit einer Doppelkrone honorieren – wird dich nicht arm machen.

*

Du dringst wieder auf Berichte, Psychiater. Du witterst etwas . . . Irre dich lieber nicht! . . . Aber weil du allein in meinen schwersten Zeiten mir beigestanden hast, – nicht mit dem onkelhaften: »Schicke dich! Man muß eben verzichten«, sondern mit dem mutigen: »Tritt's unter die Füße, höhne, verachte, aber versinke nicht in einem Meer des Grams! – und vor allem vergiß nicht, daß, wo die Geliebte versagt, der Freund in die Bresche springt« – aus allen diesen Gründen will ich jetzt diese lästigen Aufzeichnungen fortsetzen, und weil du nun einmal über jede Seelenstimmung orientiert sein willst . . . Du fürchtest ja immer noch, aus einem bösen Zufall könne doch ein Pistolenhahn einschnappen . . . Mein Lieber, er schnappt nicht ein! Es ist eben etwas kaput in mir, und, ehrlich gesagt, ich möchte nicht einmal mehr, es würde wieder ganz. Das Gefühl, unendlich lächerlich gewesen zu sein, trat an seine Stelle . . . Ich bin, wie du weißt, hochmütig und eitel, und ich kontrolliere seitdem so mißtrauisch meine Gefühle, daß ich kaum je in meinem Leben wieder etwas thun werde, was meinem Herzen Ehre macht . . . Nee, du! Ich trage einen gewissen Brief immer bei mir. Ich lese ihn nie! Mir genügt schon die Adresse. Und 78 gegen Lächerlichkeiten bin ich gefeit durch dieses Amulett. Keine Waldeinsamkeit, kein Genesen können mir wiedergeben, was ich verlor.

Im übrigen bin ich kein Heiliger und gebe mir auch nicht die geringste Mühe, es zu sein.

Besten Gruß. Ich geh' in meine Berge.

*

Also starke elektrische Spannung in der Natur.

Eine Sommerfrische ohne Gewitter ist ebenso fade wie eine Liebe ohne Romantik.

Heute entschied über meinen Spaziergang der trügerische Sonnenstrahl im Konditoreifenster, wo ich übrigens sehr schlechtes Eis aß.

Nach dieser Richtung steigt die Straße. Eine arme winklige Gegend mit Liliputhäusern und krummen Giebeln, wie zum Hohn »die reiche Ecke« genannt. Der muffige Geruch nach kleinen Leuten überall . . . Aber dann geht's an einem schwermütigen Bergkirchhof vorüber – helle Grabdenkmäler, verwitterte Holzkreuze, die bunten Blumen dazwischen, schüchtern, wehmütig; die Leichenkapelle an der Heerstraße, uralt, grau, mit blinden gotischen Fenstern. Graf Richard Ohnefurcht würde bei jedem nächtlichen Ritt hier absteigen, um zu beten. Vielleicht giebt's auch Gespenster. Jetzt steht dort eine Kinderschar um ein unseliges Geschöpf, das grüngelbe Haar wirr, die Brust unter der Holzlast geht schwer. Es ist ein halbwüchsiges Mädchen, eine Blödsinnige, die bitterlich weint. Und die Kinder jauchzen und rufen: »Wir kaufen dir ein neues Kleid, Lise, ein neues Kleid!« Und jedesmal schluchzt die Unglückliche verzweifelt auf. Sie hat eine wahre Todesangst vor diesem neuen Kleid. Und ein wenig abseits an einem Stein der Straße steht die blasse Isa und schweigt – und schweigt. Kinder sind grausam. Es ist ein widerwärtiges Bild. 79

»Guten Tag, Baronesse!«

Sie schreckt aber nicht zusammen, sie wendet sich nur langsam nach mir um und sagt: »Sie wundern sich wohl, daß ich die Gesellschaft nicht auseinanderjage? Ich that's schon oft. Aber sie johlen nachher nur um so wilder. Die Eltern sind auch nicht anders. Sie nehmen das Geld und schlagen das Unglückswurm auch noch wo möglich. Man muß im Leben schließlich überall schweigend vorübergehen. Wer will helfen? Wer kann helfen? Wer hilft?« Das kam so stoßweise heraus, müde. Sie hat gewiß recht. Aber ich verstehe sie doch nicht ganz. Dreiundzwanzig Jahre – und solche Auffassung des Lebens!

Ich werfe dem Geschöpf ein Geldstück hin. Die Kinder treten scheu zurück, wohl weil ich ein Mann bin und finster drein schaue und weil mein Regenschirm bedenklich fuchtelt. Ein stummer Kirchhof und jauchzende Kinder und eine schluchzende Schwachsinnige; die grünen Buchenhöhen rings schauen freundlich zu. Es liegt eine abscheuliche Realität in diesem Bild, und nur die wahre Tugend wird darüber nicht den Appetit verlieren.

Es war wohl auch nur mechanisch, daß ich die Isenberg fragte, ob sie noch weiter ginge. Sie schaute nach dem gewitterschweren Himmel und sagte mechanisch: »Ja.« Und auch wohl mechanisch bogen wir beide dann von der breiten Chaussee ab auf einen steinigen Weg in einem engen, verschwiegenen Waldthal. Zuweilen ekelt uns die breite sichere Heerstraße, auf der die Tugend à la Trianon mit langen Schritten und krummen Knieen unfehlbar zu jedem Gipfel gelangt. Aber ich bin trotzdem kein Sentimentaler, und weiche Gefühle verleugne ich gern. Ich beginne zu plaudern, zu witzeln – seichtes, planloses Zeug, über das Backfische sich totlachen würden. Aber die blasse Isa lacht nicht, sie lächelt nicht einmal. Sie sieht mich 80 nur von der Seite an. Das ärgert mich nicht. Ich spreche ja eigentlich zu mir selbst, ich will scherzend hinwegkommen über diese häßliche Scene. Aber es ist eben Gewitterstimmung – und ich komme nicht darüber weg.

Der Weg wird steiniger, steigt. Ich merke es kaum. Aber die Isenberg bleibt plötzlich stehen.

»Was haben Sie?«

Sie zuckt die Achseln. Dann sagt sie kalt: »Ich bin müde, ich möchte zurück.«

»O Pardon! Ich vergaß, daß Sie krank sind, nicht steigen können.«

Da schämt sie sich der Lüge. »Nein, es ist nicht das. Aber ich ertrag's einfach nicht mehr. Ich möchte lieber allein sein. Und wozu sollen wir beide denn das Alltägliche fortsetzen, dem ich in Trianon entfliehe, seitdem ich höre, hören muß?«

Ich lüfte ironisch den Hut: »Danke, Baronesse.«

Aber sie fährt fort: »Höhnen Sie nur! Das läßt mich ganz kalt. Aber lassen Sie mich allein! Sie sind eben, der Sie scheinen – ich habe mich getäuscht – und den mag ich nun einmal nicht.«

Es giebt Momente, wo goldene Rücksichtslosigkeit wohlthut und nicht verletzt. Ich antwortete darum ruhig: »Bin ich wirklich der, der ich scheine? Wissen Sie es ganz genau, Baronesse? . . . Nun, ich gebe Ihnen mein Wort, ich bin es nicht!«

Sie errötet nicht etwa beschämt, sie sagt auch nichts, sie geht nur weiter.

So sind wir lange gegangen, stumm brütend. Und die Frau gleicht einer andern äußerlich sehr.

Hüben und drüben Gebüsch, ein kümmerndes Rinnsal, die Blätter schlaff, das Murmeln ahnungsschwer. Es ist eine so drückende Stimmung. Ein stummes Brüten in der Natur. Kein Vogellaut, kein Waldesrauschen – nur die bleierne Schwüle, das 81 lastende Gewölk, das bläuliche Zucken. Die schweigende Frau neben mir. Ich möchte etwas sagen – aber die Zunge klebt; ich schlage mit der Schirmzwinge gegen einen Stein, und der Laut thut mir nur weh. Und solche Schwüle muß man doch brechen, wenn sie nicht lähmen soll.

Endlich sage ich fast linkisch: »Wohin wollen Sie eigentlich, Baronesse?«

»Ich weiß nicht, wo wir sind, es ist mir auch ganz gleichgültig.«

Wieder stockt die Rede.

Das Gebüsch ist lichter geworden, das Thal weiter. Eine sumpfige Waldwiese thut sich auf, einsam, tiefgrün, mit schilfigem Gras. Auf der Höhe links ragt das Aussichtskreuz aus unbewegten Fichten. Die Wiese ist lang und schmal, ganz hinten die roten Körper und die matten Glocken einer zerstreut weidenden Herde. Der Hirt steht an einen Buchenstamm gelehnt, ein hagerer Mensch in verwittertem Schlapphut und stahlgrauem Kittel. Der Mann rührt sich nicht. Und der hochbeinige Hund sitzt wedelnd vor ihm. Die Wiesenblumen duften schwer – verschwommene Farben, trügerische Ruhe.

Ich zeige nach dem Aussichtsturm.

Sie schüttelt den Kopf.

»Warum nicht?«

»Trianon ist da – ich hasse Trianon.«

»Warum bleiben Sie denn in Trianon?«

»Warum bleiben Sie?«

»Weil ich meine Nerven aufbessern will, Baronesse. Ich hatte zwei Jahre Urlaub krankheitshalber und will endlich in meinen Beruf zurück.«

»Nerven . . . weiter nichts als Nerven? . . . Sie haben es gut!«

Ich bin zu ihr getreten. Sie ist so schlank und zart. Sie paßt mit ihrem weißen Kleid so gut auf 82 diese schlummernde Wiese. »Warum sind Sie eigentlich so, Baronesse?« frage ich leise.

»Weil ich nicht anders sein kann, Herr von Ramingshoven!«

»Warum?« wiederhole ich.

Sie zuckt die Achseln. »Was wollen Sie eigentlich von mir? Sie sind Sie, und ich bin ich. Ich bin kein Kind, ich bin auch nicht mehr krank.«

Sie lügt.

Und da – ich weiß nicht, ob diese verwünschte Gewitterschwüle daran schuld ist oder dies eigensinnige Verschließen – ich liebe die Frau keineswegs, sie reizt mich nur. So sind wir die Wiese entlang gegangen, und ich habe ihr gesagt, was ich, dich ausgenommen, noch niemand sagte. Es war ein Wahnsinn! Die ganze ätzende Verachtung, die ganze schrecklich graue Weltanschauung einer Frau, einem Mädchen preiszugeben, das die Tiefen des Lebens nicht verstehen kann, die nicht einmal die Quellen rauschen hörte, aus denen kalter Menschenhaß entspringt. – Sie schweigt, sieht zu Boden, die Blutwellen wallen am Nacken auf und ab. Und dieses Schweigen macht mich toll, lockt immer mehr aus mir heraus. Wenn ich jetzt überlege, was ich dem Mädchen alles gesagt habe! Der Grubenmann, der seine kohlengeschwärzten Hände zeitlebens nicht mehr weiß bekommt, kann keine thörichtere Kapuzinerpredigt halten, als der elegant angezogene, duftende, peinlich saubere Modemensch da mit leiser, bebender Stimme zum besten gab. Warum zeige ich ihr eigentlich alles, warum gebe ich mich selbst, warum vor allem diese unheimlichen Tiefen, die der Haß gegen eine abgöttisch geliebte Frau grub? Dieser Haß ist allerdings der echte Zwillingsbruder der Liebe, von dem sich jene andre Frau schaudernd abwenden würde, weil sie mich nie verstand, nie verstehen wollte. Sie würde auf der Stelle umkehren, ernüchtert, empört 83 und doch zufrieden, daß sie mich nun ruhig verachten darf, sie würde das Kleid heben auf dieser Sumpfwiese, durch deren schilfiges Gras die blasse Isa ohne den Gedanken an ihren braunen Lackschuh, ihren seidenen Strumpf geht. Ich weiß wahrhaftig nicht, was in mich gefahren ist, ob vielleicht Trianon die Quellen heimtückisch abdämmte, bis sie durchbrachen, eine verheerende, scheußliche Flut. Diese blasse Heilige kann mich ja unmöglich verstehen. Denn im Grunde ist das ganze haßerfüllte Gerede doch nichts als eine Predigt, die ich einer nicht anwesenden Schuldigen halte, und eine Giftphiole, die ich trotzdem über eine ahnungslose Unschuldige leere . . . Stirbt denn ein großes Gefühl nie? Lebt es als feiger Haß, als zerrüttete Nerven ewig in uns fort? Kann ich diese verwünschte Vergangenheit denn nicht los werden? Wenn Gott uns straft, muß er es denn gerade an unsern besten Gefühlen thun?! . . . Ich hoffe zuversichtlich, dies war nur das letzte Aufbäumen des Nervs. Auch bei Rückenmärkern sind ja die Reflexe erhöht, während schon die tückische Lähmung bis zur Zungenspitze hinaufrieselt, die Glieder taub macht, verdorrt, versteinert, bis endlich die tugendhafte Matratzengruft à la Trianon erreicht ist.

Und die blasse Isa schweigt, schweigt.

Auch ich bin plötzlich verstummt. Mir kam ein Wort auf die Zunge, ein sehr häßliches, und ich erinnerte mich zur rechten Zeit, daß sie ein Mädchen ist, ein anständiges Mädchen. Damit fällt ja auch das ganze Gebäude in sich zusammen. Eine Frau könnte mich zur Not verstehen, ein Mädchen nie. Man muß den Segen oder den Fluch eines großen Gefühls am eignen Leibe gespürt haben, um so zu werden wie ich, um jemand zu begreifen wie mich.

Ich leide doch wohl an einer fixen Idee. Warum kann ich von der Vorstellung nicht los, daß diese 84 Isenberg einmal den Ehering trug, einmal die Liebe gekostet hat?

Nach diesem Ausbruch überkam mich das katzenjämmerlichste Gefühl. Ich verriet allerdings nichts Persönliches, von der Liebe war nirgends die Rede, und doch zieht sich mein Herz zusammen, daß nur ja niemand hineinsieht. Und was würde ein Neugieriger denn zu sehen bekommen? Einen winzigen Schlackenhaufen in einer ungeheuern Leere! Aber nur nicht lächerlich werden, das ist mein einziges Gebet. Diese eitle Angst füllt freilich keine Leere, sie ist vielmehr ein Flederwisch, der alles Bessere scheucht . . .

Und der Mensch ist doch ein sonderbares Geschöpf! Die Natur ist totenstill, der Wald gähnt schwarz, die Wolken ziehen – in dieser drohenden Stille, dieser düsteren Einsamkeit fühle ich die Leere meines Herzens schwer wie einen Alp. Es überkommt mich ein kindisches Verlangen nach einem warmblütigen Geschöpf, einem Menschen, einer Frau, nach etwas Liebebedürftigem, das sich zitternd an mich schmiegt, ängstlich flüstert. Aber nur dies schlanke blasse Mädchen wandelt schweigend neben mir, und ich empfinde dennoch ein zärtliches Rieseln, ich möchte sie um die Kinderhüfte fassen, sie an mich drücken, küssen. In dieser Gewitterschwüle lechzt der ausgedörrte Schwamm nach einem erfrischenden Tropfen. Aber um Gottes willen kein Rausch, kein leidenschaftliches Pressen, kein Strom des Gefühls – nur ein Tropfen, ein einziger Tropfen! Ach, ich bin so bescheiden geworden.

Das Wetter hat sich langsam geballt, jetzt zuckt das fahle Licht, grollt der ferne Donner. In den höchsten Wipfeln beginnt es zu rauschen. Ein Windstoß heult, schläft wieder ein. Die Blätter raunen, schweigen, dann fällt der erste laue Tropfen. Wir sind beide stehen geblieben, atmen auf, sehen uns an. 85 Ihr schmales Gesichtchen ist todblaß, doch die Augen brennen.

»Warum sprechen Sie eigentlich nicht weiter, Herr von Ramingshoven?«

»Warum sagen Sie das erst jetzt?«

»Ich konnte nicht eher. Mir war die Kehle wie zugeschnürt in der dicken Luft.«

»Ach, Baronesse, es war nur eine Fieberphantasie, die Sie vergessen sollen.«

»Es war keine Fieberphantasie, es waren meine eignen Gedanken.«

Wir sehen uns wieder an, die Augen suchen sich, bohren sich ineinander. Jeder wittert des andern Geheimnis, und jedem schließt sich instinktiv das Herz. Gute Schauspieler verraten sich selten.

Es ist übrigens Zeit, an einen Unterschlupf zu denken. Das schweflige Gewölk wallt über uns wie ekler Dampf. Die Wiese schaut aschfahl, wir müssen schleunigst in den Wald, die Höhe gewinnen, das Kreuz. Das schwache Tröpfeln hat aufgehört. Unter den Stämmen schwelt eine gelbgraue Dämmerung. Wir steigen darum rasch. Um uns gleißt's, murrt's. Von allen Seiten ziehen die Wetter heran. Das Vorpostengefecht beginnt, das Pelotonfeuer knattert. Dann wieder tödliche Stille – das vorjährige Laub unter unsern Füßen raschelt. Jetzt kommt der erste schwere Schlag. Wir fahren unwillkürlich zusammen und lächeln gleich darauf über uns selbst. Wir sind ja am Ziel.

Es ist ein kleines Plateau, von riesigen Fichten gerahmt, zwei Häuschen, in der Mitte das riesige Kreuz, schwarz, durchbrochen wie plumpe Filigranarbeit; auf der Spitze knarrt der Baldachin. Am Fuße steht eine Gesellschaft – die reifere Jugend von Trianon, unsicher, ängstlich. Der Maler sagt gerade freundlich: »Erschlagen werden wir ja auf 86 alle Fälle. Das hat Eisen so an sich. Gabriel wartet wohl bereits.« Die Baronessen lächeln etwas gezwungen. Dieser Taugenichts wäre sicher bösartig genug, die Blitze noch extra anzulocken – und wer weiß, ob es da oben überhaupt Stammbäume giebt. Ich will natürlich zu der Gesellschaft hinüber, aber die blasse Isa winkt ab: »Ach, bleiben wir doch lieber hier! Das Haus ist so niedrig und die Luft sicher verdorben. Ich habe keine Spur Angst vor dem Gewitter.«

Mir ist's recht. Ich habe keine Gemeinschaft mit Trianon, weder im Leben noch im Tode. Als umsichtiger Feldherr habe ich auch bald eine zurückliegende Buche mit dichtem Blätterdach gefunden. Wir setzen uns also ins Laub und harren der Dinge, die da kommen sollen. Und sie kommen. Es beginnt zu regnen – sanft. Die gedrückte Natur atmet erleichtert auf. Ich breite den Regenmantel über uns, es regnet stärker, die Tropfen klatschen, die Blätter schütteln sich. Ich spanne den Regenschirm auf – bis allmählich ein monotones Rauschen anhebt. Das schwarze Eisenkreuz schaut grämlich grau, der Himmel hängt wie ein Sack, der mürrisch seine Schleusen öffnet. In der Luft ein unaufhörliches Rollen, Grollen – zuweilen zuckt ein matter Blitz. Wir sitzen dicht bei einander, und in der feuchten Wärme fließt ein wohliges Rieseln herüber und hinüber, eine Empfindung der Gemütlichkeit, des kleinen Glückes. Ich möchte die Hand der Frau fassen, ihr etwas Freundliches sagen. Sie scheint das zu ahnen, sieht mich mit etwas geniertem Lächeln an und setzt den Strohhut fester. Draußen ist's so grämlich, unter dem Blätterdach ist's so heimlich. Und sie rückt doch ein wenig von mir weg, als wittre sie mit meiner körperlichen Nähe etwas Häßliches, Unreines, das unter dem gemeinsamen Regenmantel herauskriecht. Einen Augenblick 87 war's wirklich so. Aber bei diesem monotonen Rauschen, dieser feuchten Schwüle wird man schnell matt – ich könnte langsam einnicken, regelrecht schlummern. Als wenn eine Art Hypnose begänne, eine sanfte Betäubung, die ein schlanker, zarter Mädchenkörper heimlich spendet. Natürlich ist's nur die Gewitterluft.

Langsam wird der Himmel dunkel, schwarz. Blaues Leuchten zuckt, die Tannenspitzen flimmern. Der Regen hat nachgelassen. Die Luft scheint in ein flackerndes, flimmerndes elektrisches Fluidum getaucht. Der Donner rollt ganz tief, ganz schwer – ein unheimliches Grollen, unter dem die Stämme schauern. Es ist fast Nacht. Das Riesenkreuz umfließt ein grauer Dunstnebel, das Eisenwerk darunter starrt wie verkohlte Sparren . . . Die Gewitter haben sich über dem Kreuz zusammengezogen, sie rollen heran, rollen zurück, grelle Tageshelle mit blauer Nacht wechselt. Ich bin längst wieder wach. Das Warten macht einen ganz nervös. Wann beginnt endlich der Kampf? Kein Lufthauch rings, nur stummes Beben. Diese Pause mag fünf, auch fünfzig Minuten gedauert haben. Entweder fliegt ja die Zeit, oder sie dehnt sich unerträglich. Bis endlich die schweren Blitze ihr Zickzacklicht durch das lastende Wolkenschwarz reißen, die kurzen Donner rollen, prasseln. Ueberall glänzt's, gleißt's, flimmert's – der ganze Horizont leuchtet in einem unheimlichen Gespensterlicht. Der Wald stöhnt, die Donner krachen. Blitz und Schlag! Blitz und Schlag! Die Heerscharen der Luft haben endlich den letzten Mut gefunden. Der Kampf steht einen Moment. Dann ein heulendes Losreißen – ein wütendes Aneinanderklammern. Immer kehren sie zurück, packen sich wieder. Das Kreuz liegt bald in grausiger Nacht oder starrt in tödlicher Helle. Die Blitze zucken so tief, die Donner dröhnen so nah, 88 daß jedes Leuchten unser Auge beizt, jedes Grollen unsre Haare durchzittert. Wir sind mitten drin im Kampf. Wir haben kein Wort gesagt – und haben uns vielleicht doch verstanden. Die blasse Isa sitzt unbeweglich, ungerührt in kalter Ruhe; nur die Augen scheinen zu leben, diese stummen, dunkeln Augen. Sie starren groß und leuchtend in den wilden Kampf hinaus, als wenn in diesem Rasen der Elemente die Rettung läge, als wenn jeder Schlag innerlich eine Fessel sprengte.

Einmal wandte sie sich zu mir: »Schön!«

»Schön . . .«

Regenströme klatschen, eine Sündflut rinnt. Die Luft beginnt wieder frisch und frei zu werden. Ich atme leichter. Sie lächelt. Ein Stück blauer Himmel– ein kümmerlicher Sonnenblick . . . Wir sind aufgestanden.

Der Wolkenbruch ist so schnell verrauscht, wie er gekommen. Isa wiederholt noch einmal wie im Traum: »Es war schön . . . wunderschön.«

Da auf einmal ein kurzes, grelles Flammen – ein Krachen, Prasseln, als wenn die Erde unter uns schwankte. Es war der letzte, schwerste Schlag. Er traf uns beide unerwartet. Die blasse Isa schwankt, taumelt, ich springe zu. Auch mir war's einen Moment, als wenn der Blitz direkt auf uns niedergefahren wäre und mir die Glieder gelähmt hätte, so unerwartet, so heimtückisch war dieser Himmelsgruß.

Der Blitz riß allerdings einen Baum keine zwanzig Schritt von uns in Stücke.

Ich habe mit der Ohnmächtigen gethan, was man mit Ohnmächtigen thut. War's Mitleid? Ich fühle einen so lächerlich zarten, duftenden Körper in meinen Armen. War's mehr als Mitleid? Ich habe wohl auch für das Leben des lieben Geschöpfes gebangt. Ich verstehe mich nicht recht. Ich weiß nur, daß ich 89 der Bewußtlosen die Hände küßte, die schlanken, kalten Kinderhände. Unter diesen Küssen erwachte sie.

Erst lächelte sie matt, dann wurde sie glühend rot.

Ja, mein Freund, ich weiß ganz genau, warum ich dies Kapitel so peinlich langweilig schreibe. Der Ertrinkende klammert sich an einen Strohhalm. Mehr als ein Strohhalm ist's auf keinen Fall! Und hast du je gehört, daß sich ein Ertrinkender an einem Strohhalm gerettet hätte? Ich nicht. Und dennoch werde ich nach diesem Strohhalm greifen.

Wir sind nachher auf dem Trianonwagen mit den Baronessen zurückgefahren. Wir verspürten beide keine Lust mehr zum Gehen. Es war eine sehr schweigsame Fahrt, und ich erinnere mich nur noch des leisen Bebens einer Frauenhand beim Gutenachtgruß. Auch in mir vibriert jetzt zuweilen eine Saite, die ich nicht mehr vorhanden wähnte. Trotzdem – es ist wohl nichts andres als die schüchterne Resonanz eines längst verklungenen vollen Tones. Ich liebe diese Isa doch nicht – ich kann überhaupt nicht mehr lieben.

Du kannst ja zwischen den Zeilen lesen und weißt wohl auch, wie lange ich schon mit einem Gefühl kämpfe, das uns beide nur unglücklich machen kann.



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