Johannes Richard zur Megede
Trianon
Johannes Richard zur Megede

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Jeder Traum ist einmal ausgeträumt . . . Du hast so recht . . . Versuchen will ich's jedenfalls. Freilich, ob's gelingt?

Ich lese immer deine Briefe, ein halbes Dutzendmal, weil sie mich anmuten wie der gesunde Menschenverstand, die gesunde Sinnlichkeit, das gesunde Gefühl selbst . . . Ja, mein Freund, ich will, ich will! Im Augenblicke, wo ich das schreibe, fühle ich eine brennende Sehnsucht nach der Arbeit und nach dir. Aber ich übereile mich darum doch nicht. Die letzten zwei Monate meines Jahresurlaubs sollen weise angewendet sein. Ein wohliges Vergraben in die Waldeinsamkeit, ein wirkliches Ausruhen, bis ich von Buchenluft und Tannensäuseln so pöbelhaft gekräftigt bin, daß mein alter Regierungspräsident seinen schwerniedergebrochenen Assessor faktisch nicht mehr wiedererkennt.

Freilich äußerlich . . . Erschreckt nicht etwa bei unserm Wiedersehen, einen beginnenden Vierziger zu finden, – der fast rasierte Kopf grau schimmernd, der korrekte Schnurrbart meliert, viele Fältchen um die Augen, eine einzige unerbittlich tiefe Falte quer über der Stirn! Der Schönste war ich ja nie, und der Kampf mit sich selbst macht leider Gottes nur alt. Lächle auch nicht, daß ich eleganter geworden, eitler, daß ich verschwenderischer lebe! Wer den großen Block nicht mehr rollen kann, der ihm über den Abgrund hilft, der wirft viele kleine Steine zur Tiefe 10 in dem thörichten Wahn, daß sie zur Brücke wachsen müßten dereinst. Verwundere dich vor allem nicht, wenn ich viel rede, viel lache! Maske. Darunter schlägt ein eisig kühles Herz. Ich habe den heißen Durst nach Liebe längst nicht mehr – nur eine wunde ätzende Stelle blieb, die zuweilen unangenehm brennt, zuweilen machtlos zuckt . . . Sie gedachten mich vernünftig mit lauem Wasser zu heilen, gnädige Frau, wo ich fiebernd schweren Wein verlangte. Ich habe Ihnen dafür gegrollt – mit Unrecht. Sie meinten es besser mit mir als ich. Ich danke Ihnen von Herzen . . .

Und merkwürdig – jetzt, wo ich den Eisbeutel auf der Schädeldecke gar nicht mehr los werde, bin ich Causeur geworden, Courmacher, seichter Fant. Die Liebe, die ich nicht mehr suche, kommt zu mir. Es ist wahrlich zum Lachen . . . Ich könnte dir Geschichten erzählen, Geschichten! Wenn jedes Hotelzimmer sprechen könnte, und wenn jeder Seidenrock seine Geheimnisse preisgäbe – o Gott . . .

Du siehst, was mir geblieben ist. Aber was das Herz verlor, gewann der Kopf. Ich bin ein erbarmungsloser Spötter geworden und ein toller Verächter jeglicher Moral . . . Und morgen geht dieser Mönch in die Klausur.


Erstes Kapitel

Trianon! – Ein verwunschenes Schloß und ein verwunschenes Thal. Ich bin auf viel Tugend vorbereitet . . . Ob freilich auf so viel . . . Das ist mir schon jetzt klar: halte ich die zwei Monate durch, so bin ich ein Heiliger.

Doch auch Bekehrungsgeschichten beginnen mit dem Anfang. 11

Zuerst eine endlos lange Nachtfahrt mit scheußlichen Coupégerüchen und klatschenden Regenströmen. Darauf beständiges Umsteigen – Stuttgart, Erfurt, Nordhausen . . . was weiß ich. Zuletzt eine beschauliche Nachmittagssiesta auf einer winzigen Station mit schlechtem Kaffee und Kyffhäuser-Andenken, mitten drin in der Goldenen Aue. Es ist windstill, die Sonne sticht; das schläfernde Einerlei von reifenden Aehrenfeldern, schwarzen Brachen ringsum; lange, schmale Schläge, hügelauf, hügelab, sorgsam geschachtelt, künstlich, ohne Reiz. Aus der schwülen, verschwimmenden Fruchtebene hebt sich das tiefgrüne Waldmassiv des Kyffhäusers – das Riesendenkmal, rotdunstig, stumm, ein schwermütiger Wachtturm. Der Alte im Berge schläft wohl auch . . . Ich denke an die rote westfälische Erde, der wir beide entstammen, an den thüringischen Buchenwald, der mich erzog. In der Zwischenzeit schreibe ich gleichgültige Ansichtspostkarten an gleichgültige Menschen. Hinter mir faucht eine schmutzige Lokomotive. Sie sammelt wohl die schwankenden dritten Klassencoupés meiner Klingelbahn. Da drüben liegen auch die Waldthäler des Vorharzes, und dunkle Berglinien säumen den Horizont.

Die Schicksalsglocke bimmelt. Ich bin bereit zur Fahrt ins Tugendland. Der Zug trottet gemächlich durch Felder, Wiesen, mählich wachsen die Hügel, wölben sich, über sanft grüne Hänge steigen die glatten Buchenstämme zur Berghöhe! Der Zug bimmelt unaufhörlich. Das Thal wird enger, eine strotzende, köstliche Blätterwildnis thut sich auf. Ich bin neugierig, wie unser Miniaturtrain sich da durchwinden wird. Jetzt stoppt die Maschine auch schon knirschend. Wir sind am Ende. Ein wahrer Puppenbahnhof, altväterische Journalieren. Mir schwant es jetzt dunkel, daß ich schon einmal hier gewesen sein muß, auf meiner ersten Gebirgstour als Junge mit meinem 12 Vater. Es war so wundervoll – und es ist so lange her! Aber Kindererinnerungen dauern. Und eine traumhaft wehe Kindererinnerung leitet mich während der ganzen Fahrt. Die alten Mietspferde trotten, der häßliche Verdeckwagen rattert, schwankt. Ich sitze eingeklemmt neben einer alten oberschlesischen Jüdin, die von zwei bejahrten Freundinnen eskortiert wird, und die mit den blankesten Augen und der geschwätzigsten Zunge von etwas Furchtbarem fabelt, von etwas Furchtbarem, das sie niemals jemand je erzählen könne. Dabei erzählt sie's haarklein. Eine große Roßhaarpleite oder so was Gutes. Jedenfalls hört mein andrer Nachbar andächtig zu, wohl ein Brillenoberlehrer auf Ferien, mit Bergschuhen, Rucksack und Gebirgsstock, als gälte es dem Matterhorn. Mein Gegenüber stiert stumpfsinnig – Einheimische, er mit solidem Bauch, sie mit eingedrückter Nase. Zwischen dieser eingedrückten Nase und der aufgestützten Fleischerfaust eines halbwüchsigen Burschen hindurch darf ich ins Freie starren, in den Wald. Es geht auf einer breiten, weißen, dämmerigen Chaussee mit tief überhängenden Bäumen und einem Bach. Die Straße hat etwas Hochherrschaftliches, Ehrwürdiges – ein Wildgatter lugt durchs Laub, die Brücken und die Wegweiser leuchten grau und grün, eine Eidechse auf einem Stein desgleichen; es sind die Wappenfarben des herzoglichen Hauses, dem selbst die Natur ihre Reverenz macht . . . Das drängt sich, engt sich, erstickt fast in Buchengrün und Tradition! Aber dann wird das Thal wieder weiter, wie Kulissen schieben sich hüben und drüben Berge vor; tiefgrün, saftstrotzend vom Kamm der stumme Hochwald grüßt. Und die Nachmittagssonne wirft ihre breiten Lichter darüber, und die schweren Bergschatten dunkeln. Es ist etwas Uraltes und ewig Junges zugleich um dieses Thal, wo das üppigste Buchengrün alles überrieselt, 13 überschwemmt, überschattet mit dem Dämmerlicht gotischer Dome. Als wenn hier das Leben das Leben ersticken wollte!

Dieses verwunschene Waldthal hüllt auch mich ein, daß ich träumend ins Grün starre. Aber aus Träumen erwacht man schließlich doch. Die Buchenhallen werden lichter, das Grün dörfischer. Die kleine Stadt schickt ihre ersten Ausläufer. Bescheidene Villen am Wiesenhang droben, ein aufdringliches Prachthaus fast an der Straße. Dieses Prachthaus ärgert mich wie ein roter Klecks auf einem Stimmungsbild. Denn es ist wirklich eine verwunschene Stadt, die in einer einzigen endlosen Straße das enge Thal auszufüllen scheint. Kein Fabrikschornstein, kein Grubenrauch – nur die ehrfürchtig nüchterne Stille einer längst mediatisierten Residenz – Philisterhäuser, verstaubte Läden, zuweilen ein mittelalterlicher Holzbau mit gebräuntem Sims, lastendem Erker. – Der Kutscher haut auf die trottenden Gäule. Es ist uralte Unterthänigkeit, auf der die losen Hufeisen klappern, es ist uralte Herrlichkeit, welche diese lächerlichen Hoftitel noch heute gnädig spendet, die machtlosen Wappenfarben unermüdlich auf Holz und Stein malt. Die Leute schauen neugierig aus den Fenstern, eine ganze Kretingeneration blödsinniger Kinder stiebt auseinander. Und feierlich wacht über dem allen das große, weiße, winkelige Schloß mit seinen plumpen Türmen auf grüner Höhe. In stummer Unnahbarkeit blickt es noch heut auf die Stadt, die es als mächtige Burg einst um sich schuf und schirmte, bis die zusammenschrumpfte, siech wurde, wie diese Duodezherrlichkeit selbst, von der nichts mehr geblieben als die paar alten Stadttürme, das wunderliche Rathaus und die zwanzigtausend Leichenpredigten, die eine schöne Kirche in ihrem Archiv wie ein Heiligtum bewahrt. O, es ist schon Stimmung in dem Neste, eine vergilbte, 14 vermorschte Tradition, die uns reizt, weil sie den Horizont nur engt und uns wieder mitleidig lächeln macht, wenn das Auge diese unermeßliche Blätterwildnis ringsum streift, mit ihrer ewigen Jugend, ihrer strotzenden Kraft.

Bis zum Marktplatz rattert die Journaliere. Dann muß man entweder in einem der schiefen Residenzhotels bleiben oder zu Fuß gehen wie ich. Die Zeitungsannonce, der ich blindlings folgte, weist mich zur Höhe des Schloßberges, wo nach Einbruch der Dunkelheit bei Strafe nicht mehr geküßt werden darf. Ein weißes, großes Haus, dessen mächtige Grundmauer mit wildem Wein überdeckt ist. Am Eingang zwei grün angestrichene Tiger. Der Witwensitz der Fürstin war es früher, jetzt ist es eine Fremdenpension . . . Wenn eine morsche Tradition vielleicht schon zu bröckeln begänne? . . . O nein. Trianon, in das mich ein frommer Geist führte, ist die Tradition selbst. Eine ältere Dame mit der Brille und der Freundlichkeit einer adeligen Schulvorsteherin empfängt mich, geleitet mich selbst in das schöne, große, vierfenstrige Gemach – das beste des Hauses. Viel Licht, viel Luft, ein angenehmer Komfort. Ich bin sehr zufrieden. Sofort erscheint auch ein dickes Mädchen mit freundlich großen Füßen, den »gnädigen Herrn« nach seinen Wünschen zu fragen. Ich habe keine. Ich strecke mich bis zum Abendbrot auf die Chaiselongue, müde, gelangweilt, – die Nachtfahrt rächt sich. Um halb acht wird gegessen.

Du weißt, daß ich ersten Eindrücken gegenüber skeptisch bin. Man ist meist befangen, zu ungerechtem Spott oder falscher Bewunderung aufgelegt. Im Eßzimmer etwas Mausoleumsluft, im Salon zu viel Wappenkissen, – aber sie haben elektrisches Licht. Heut ist großer Ausflugstag, die Gesellschaft darum nicht vollzählig. »Herr von und zu Ramingshoven – 15 von . . . von . . .« Vorläufig nur Adel. Bei der Vorstellung wird kein Titel genannt, was immer ein Zeichen von guter Erziehung und gesellschaftlicher Stellung ist. Ich verbeuge mich nach allen Seiten – und immer falsch, weil ich unmöglich ahnen kann, wem die freundlich präsentierende Handbewegung gilt. Ich sitze am Ende der kleinen Hufeisentafel – ich sitze natürlich wie Bismarck nach meinem Gefühl überall oben –, aber ich scheine auch in der That der Jüngste dieser Tafelrunde zu sein, die Damen nicht ausgenommen. Essen einfach, aber sehr gut. In der Gesellschaft keine unnötige Neugierde, nur liebenswürdig-unverständliches Familiengeschwätz. Solche Abspannung thut den Kopfnerven so gut! Als wir uns zum Dankgebet erheben, bin ich beinahe selig entschlummert . . . Aber ich bin ja auch Edelmann, zuzeiten sogar ein höflicher Edelmann. Ich halte die halbe Anstandsstunde nach dem Souper im Salon vorzüglich aus, weil ich doch mit der Allgemeinheit konversieren muß und mich orientieren, einheimisch werden in dieser altadeligen Familie, die wir alle hier zu repräsentieren scheinen. Und diese halbe Stunde ist keineswegs verloren. Die Schulvorsteherin hat sich freundlich zu mir gesetzt. Die Geschichte dieser verzauberten Residenz interessiert mich, sie wird mir bereitwilligst gegeben.

Danach sind die Fürsten und das Land direkt aus der Sündflut aufgetaucht. Das Alte Testament irrt sich. Die Taube mit dem Oelzweig schwang sich nicht erst zum Berge Ararat, sondern sie schwebte sofort über diesem Waldthal. Und der gehorsame Noah ließ hier die ersten Tiere aus der Arche – die Hirsche, die noch jetzt in den Buchendickungen brunftend schreien, die Rinder, die noch jetzt allabendlich die Residenzstraße durchläuten. Wo man liebt, da glaubt man gern. Und ich liebe schon heute den alten ehrwürdigen Herzog, der pünktlich wie die Uhr mit dem 16 Schimmelgespann und den grüngrauen Livreen zu dem entlegenen Schlosse des Thronfolgers fährt, um seine tägliche Partie Piquet zu spielen und dann befriedigt zurückzukehren: ein freundlich schlummernder Greis, dem zuweilen der Ueberzieher aus dem früher reichsunmittelbaren Wagen fällt. Ich liebe den Kirchenprinzen, der vor allem Heraldik und Pferde schätzt und jeden Sonntag wie ein schönes altes Bild bewegungslos in der Hofloge seines Gotteshauses sitzt; ich liebe den kranken Fürstensohn, der sich in Büchern und Einsamkeit vergräbt und nur zuweilen wie ein graues Gespenst durch die Dämmergänge des Parkes schleicht. Ich liebe die vornehme Abgeschiedenheit dieser großen Herren, in der sie seit Jahrhunderten wie ihre eignen Schatten stumm und ehrwürdig vorüberziehen . . . Früher sind sie mir sehr gleichgültig gewesen, kaum mehr als große Fideikommißbesitzer, denen ein blasser Machtflitter die Herzogskrone vergoldet. Die adelige Schulvorsteherin belehrt mich geheimnisvoll flüsternd eines Besseren. Das erlauchte Geschlecht ist noch heute von Gottes Gnaden, souverän. Sie haben sich keineswegs gebeugt, nichts aufgegeben, sie üben nur verbissen, schweigend ihre Macht, sie sitzen bis an die Zähne bewaffnet in ihren Bergen, und die Krone Preußens zittert vor ihnen noch stärker als vor Reuß. Die Geographen, die auf ihren Karten hartnäckig die uralten Landesfarben vergessen, sind arme, unwissende Thoren. Denn es ist keineswegs das alte, winkelige Schloß allein, der köstliche Buchenwald, die Kirche, die zwanzigtausend Leichenpredigten, die grün und grau bemalten Wegweiser, die von einer versunkenen Fürstenherrlichkeit erzählen – das Reich besteht noch. Es giebt eine Hofkammer, einen Marstall, ein Konsistorium mit zwei Konsistorialräten; die hohen Herren können schwere Würden verteilen und nehmen, henken und 17 pardonnieren, trotz Kaiser und Reich . . . Du kannst dir meinen erstarrenden Spott und meine bleiche Angst denken . . . Es giebt vor allem Gerechtsame und wieder Gerechtsame. Auf meine bescheidene Frage, worin die bestehen, ein orakelhaftes Brillenblinken, ein mysteriöses Achselzucken. Ich bin auf dem Punkte, kribbelig zu werden, weil ich so hingeworfene Pythia-Worte nie leiden mag. Aber ich erinnere mich zur rechten Zeit an das Wappenkissen, auf dem ich sitze, an die adeligen Namen, die mich umgeben; ich denke an meinen Kopf, an mein Seelenheil. Und sofort bin ich auch so klein, so feige, ich starre wie elektrisiert durch die offene Salonthür ins dunkle Rauchzimmer, weil dort jeden Augenblick eine herzogliche Hermandad auftauchen könnte, mich ohne viel Federlesens in ein recht nachdenkliches Burgverließ zu führen oder gleich direkt zu einem graugrünen Richtblock. Und das muß mir passieren, mir, der ich fast im Begriff stand, den dummen Witz zu machen: ›Was wohl einen »regierenden« Fürsten (die Senioren der mediatisierenden Häuser können das Scherzen nun einmal nicht lassen) von einem gewöhnlichen Bundesfürsten unterscheidet? Daß nämlich der »Regierende« nicht regiert‹ . . . Ich werde den Teufel thun und das Schicksal heraufbeschwören. Ich lächle darum gläubig, ich verbeuge mich devot vor der ganzen Tischrunde und wage erst aufzuatmen, als ich wieder in meinem großen, luftigen Zimmer bin, den Riegel vorgeschoben, das elektrische Licht angeknipst. Elektrisches Licht in mediatisierten Witwensitzen hat immer etwas wohlthuend Liberales. Das Alte stürzt . . . Oder kann man sich fürstliche Witwen in diesem Thal anders vorstellen als bei Walratkerzen oder bestenfalls bei einer Moderateurlampe? – Jedenfalls guck' ich heute nicht unter das Bett oder in den Kleiderschrank, um einen etwaigen Einbrecher liebevoll aufs Sofa zu komplimentieren – Trianon ist gegen alles 18 Böse gefeit. Ich beargwöhne vielmehr die angestrichenen Tiger am Eingang, die aus der Juninacht zu mir heraufgrauen – und die alte schöne Kirche, die mir ihr Leichenpredigtenarchiv warnend zukehrt. Ueber den Kies des Vorgartens schleicht eine Eidechse, eine große, grüngraue. Ich starre sie entgeistert an wie einen Boten der heiligen Feme.

Ich schlage wieder über den Strang, bin wieder ungerecht . . . Merkst du jetzt, alter Freund, was das Leben aus mir gemacht hat? Ich kann nicht mal mehr spotten, ich kann nur noch höhnen. Hier ist's vielleicht ein gesunder Instinkt, die unwillkürliche Zuckung eines versteinernden Tiers, dem bereits ganz kreidig zu Mut ist. Denn es liegt eine eigentümlich versteinerte Stimmung auf diesem kleinen Schloß, ein staubig stummer Altersreiz, dem sich der Stimmungsmensch mit allen Sarkasmen nicht entzieht.

Im Salon ist's längst still geworden, Trianon schläft. Nacht – Stille – Mondlicht: das lockt. Ich zünde mir eine Kerze an und wandele nacht. Von vielen sündigen Pfaden bewahrte ich mir den lautlosen Schritt, das leise Atmen. Sie sind wundervoll, diese winkeligen Korridore, diese knarrenden Stiegen, dies Parfüm von Alter und Heimlichkeit. Der Lichtschimmer tanzt über vergilbte Holzschnitte, er kriecht in den engen Lichthof. Ich bin bis auf den Boden gestiegen, wo die Tageshitze nachbrütet, das Gebälk unaufhörlich knackt. Das reizt mich, stehen zu bleiben, zu horchen. Kein Laut sonst, keine Spur des Lebens als dies gespenstische Knistern, und der Mond, der durch die Dachluke schleicht. Es ist ein altes, winkeliges, aber ein fürstliches Haus. Fürstliche Häuser haben immer eine Geschichte – eine lustige oder eine düstere. Der Bann der Traditionen reicht eben weit. Ich steige hinab ins Parterre: ein endlos langer Korridor, eine Herbariums-Luft, 19 zuweilen ein altes Husten, ein müdes Atmen – Menschen, die versteinern, versteinern wollen. Ich fliehe. Die Traditionen liebe ich, aber vor alten Menschen graut mir. Oben steht der Salon offen. Alte Mahagonimöbel, Ahnenbilder. Der Mond streckt sich weich und dunstig auf rotem Plüsch, die Wappenkissen reden ihre stumme Sprache. Wie hübsch doch solcher Raum allein, ohne alte Menschen, ohne Familienphrasen! Die braungebeizte Balkendecke lastet nicht, sie schimmert nur matt . . . Merkst du, wie ich auch schon versteinere? . . . Die Fenster sind offen. Ich muß hinaussehen. Das enge Thal schwimmt im Mondlicht. Wie es schimmert, wie es gleißt! Wie der steinerne Schloßfrieden auch über diese geflickten Ziegeldächer gesunken ist, das stumpfe Schiefergrau, über die starren Giebel, die braunen Holzfassaden! Wie stumm, ehrwürdig es der dunkle Buchenwald rahmt! . . . Ich beuge mich weit hinaus, ich möchte das Schloß sehen, die weiße Fürstenburg. Es liegt höher, wohl über uns. Und mein Auge vermag noch gerade die Kirchenluke mit den zwanzigtausend Leichenpredigten zu fassen, und den Schloßberg, aus dem nach Magistratsbeschluß nicht geküßt werden darf, und die grüne Baumallee, die zu den Fürsten emporsteigt. – Consul regens, Bürgermeister von Mottenburg, wie du dich scherzend selbst nennst, ich sehe wieder weit drüben das aufdringliche Rot deiner Stadtvilla leuchten – und es thut mir wiederum weh. Daran wird mir klar, welch kleines, nüchternes, elendes Nest dem alten Fürstenschlosse zu Füßen liegt. Was birgt es? Was hat es erlebt? Hat es jemals eine große Vergangenheit gehabt, frisches Leben gezeugt? Ahnen all diese kleinen Leute da unten, – die Ackerbürger, Holzhauer, Handwerker, Duodez-Hoflieferanten – daß eine altehrwürdige Geschichte vom Schloßberg auf sie herabschaut? . . . Wie lange muß dies versteinerte 20 Schloßauge unbeweglich auf das hypnotisierte Nest gestarrt haben, bis aus dem Flusse der Jahrhunderte nichts andres für die Außenwelt blieb als die zwanzigtausend Leichenpredigten und die knusprigsten Zwiebacke? . . . Zwischen dem weißen Fürstenschloß und dem roten Bürgermeisterhaus ist zeitlich ein so riesiger und örtlich ein so kleiner Zwischenraum! Und das giebt zu denken.

Trianon liegt dazwischen. Armes Trianon! Ich fürchte, ich werde dir nie gerecht werden, weder im Guten noch im Schlimmen.

Ich sehe unverwandt hinaus ins Mondlicht. Die Stadt schläft, der Wald träumt. Durch allen Märchenzauber der Tradition hindurch empfinde ich eine schwere Beklemmung, den Druck einer vergangenen Zeit und zugleich auch die kindische Sehnsucht nach einer menschlichen jungen Stimme, einem frischen Lebenslaut. Ich brauche übrigens nur zu wünschen . . . An dem Schloßberg unten nahen Gestalten. Ich sehe sie deutlich. Sie kommen langsam, schwer – und der Berg steigt doch so sacht. Sie sehen auch nicht auf, sie wandeln schweigend. Vor den Tigern machen sie Halt. Wenn mich das Mondlicht nicht täuscht – ein großer, alter Herr von steifbeiniger Vornehmheit und eine sehr junge, sehr schlanke Dame. Sie wissen wohl, daß Trianon längst schläft und daß Tiger keine Lauscher sind, – denn sie sprechen laut, ohne Zwang.

»Also ich reise morgen, Isa.«

»Wann, Gerhard?«

»Um halb zehn.«

»Früher wäre mir lieber.«

»Warum, Isa?«

»Weil ich da noch nicht auf zu sein brauche, und weil ich den Abschied vor den Leuten nicht mag.«

»Wie du befiehlst, Isa.«

»Ich kann nicht anders.« 21

»Also dann leb wohl, Isa.«

»Leb wohl.«

Sie reichen sich die Hand, langsam, lasch. Kein Wort mehr. Der Hausschlüssel kreischt widerwillig im Schloß. – Wer sind die beiden? Ich horche durch die Totenstille. Der alte Männerschritt verhallt im Korridor unten, der müde Frauenfuß steigt zögernd zu mir empor. – Wer sind die beiden? – Im Nebenzimmer öffnet sich das Fenster. Jemand holt schwer Atem. Es ist die Frau.



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