Johannes Richard zur Megede
Trianon
Johannes Richard zur Megede

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Drittes Kapitel

Den Maler darf ich nach dieser Sündennacht natürlich nicht mehr ignorieren, und der Artuskreis zieht sich jetzt bei unser beider Anblick mimosenhaft erschauernd zusammen. Zu meiner Entschuldigung könnte ich höchstens anführen, daß der systematisch bis zum erblichen Stumpfsinn rein gezüchtete gräflich Ramingshovensche Ast unbeanstandet unsern alten guten Wappenhelm mit einem äußerst fragwürdigen Fürstenhute verunziert, weil zwei der Familie kurmainzische oder kurtrierische regierende Erzbischöfe waren – und daß ich als Jüngster eines fast versimpelten Geschlechts dies mit vielem roten Blut in Wort und 40 That auffrischen muß. Verstehen werden sie zwar diese an sich sehr vernünftige Idee nicht . . .

Neulich bei Mittag ein gewaltiger Streit am lustigen Tisch. Natürlich der Maler. Da – sehr menschlich – die hier regierenden, nicht regierenden Durchläuchtings der Quell der Freude und ein Moment der Erhebung für alle Anwesenden sind, und weil über ihre Qualitäten die merkwürdigsten Ansichten existieren, hatte der Unglücksmensch es unternommen, wenigstens die reifere Jugend aufzuklären. Er gab ziemlich einwandfrei die verfassungsmäßig verbrieften Rechte des hohen Adels: Ebenbürtigkeit, Militärfreiheit, Steuerfreiheit. Er zählt auch die hauptsächlichsten Familien auf und vergißt natürlich aus Malice die früheren Leineweber und jetzigen Fürsten Fugger-Babenhausen nicht . . . Da hättest du aber diesen Sturm im Wasserglase sehen sollen!

Die adelige Damenjugend ist ganz wild. »Hoher Adel sind wir auch! – Und wir auch, – und wir auch!« – Ich weiß nicht, wie viele sich zur früheren Reichsunmittelbarkeit bekannten. Es war das zornige Durcheinander eines tödlich beleidigten Ameisenhaufens, und die armen Mediatisierten würden vor Schreck ganz bleich geworden sein, wenn sie gesehen hätten, wie viel wilde Agnaten ihnen da urplötzlich aus dem Boden wuchsen. Ich war starr. Der Maler, der nicht mehr durchdringen konnte, schrie wütend nach genealogischen Taschenbüchern. Nicht vorhanden. Da rief er mir über zwei Tische zu: »Na, Ramingshoven, Sie haben doch bei Gneist noch Staatsrecht gehört, – sagen Sie!«

Und ich Unglückswurm konnte natürlich nur zitternd murmeln, die Familien des hohen Adels seien genau begrenzt, und kein Kaiser und König könne ihre Zahl verringern oder vermehren.

Man schweigt. Damit bin auch ich gerichtet. 41 Die blonde Isa sah sich flüchtig verwundert im Kreise um. Sie sprach kein Wort. Sie lächelte nur – ihr vornehm-müdes Lächeln. Dies Lächeln that mir wohl. Sie sah dabei aus wie eine Prinzessin von Geblüt.

*

Den Nachmittag spielen der Maler und ich jetzt regelmäßig Ecarté auf meiner Bude. Wir spielen es unsinnig hoch – aus reiner Oppositionslust. Das macht Trianon.

Heute kam er erst spät. Er machte schon in der Thür ganz merkwürdige Bewegungen mit Armen und Beinen, als wenn die ihm eingeschlafen wären und nicht mehr mitthun wollten; auch die Augen verdrehte er melancholisch.

»Was haben Sie wieder für eine Teufelei vor?« frage ich belustigt. Er wankt auf einen Sessel zu und streckt dort alle viere von sich.

»Ich versteinere . . . ich versteinere . . .« murmelt er ersterbend. »Nur die große Zehe zuckt noch verzweifelt.«

Ich muß laut auflachen. »Aber Mensch, seien Sie doch nicht so albern!«

Er liegt noch immer, verdreht die Augen. »Ich bin ja auch vom hohen Adel, reichsunmittelbar – ich spür' es so deutlich . . . Ramingshoven, ich versteinere . . . Ach, welches Glück!«

Mit einer ganz langen Importierten krieg' ich ihn endlich wieder zur Vernunft und rede ihm väterlich ins Gewissen: »Mensch, seien Sie wenigstens vorsichtig! Trianon liebt keine Frivolitäten – und eines Tages . . .«

»Weiß alles – werde ich auf der Treppe bei den grünen Tigern die Nacht zubringen dürfen. Aber ich habe nicht umsonst die braven Tiere bei jedem Vorbeigehen gestreichelt – sie sind angestrichen, sie 42 sind sicher gutmütig . . . Und ich schwöre Ihnen, wenn Trianon am Morgen nach meiner Austreibung aus dem Tempel erwacht, werde ich, von hundert Straßenjungen umgeben, auf dem grünsten Tiger die hohe Schule reiten, und Trianon wird unsterblich lächerlich sein – aber nicht ich.« – Und er ist's im stande!

»Dann gehen Sie doch lieber freiwillig!«

»Fällt mir nicht ein. Trianon ist eine Fundgrube des Humors . . . Wissen Sie übrigens das Neueste, Ramingshoven? – Sie glauben alle an den Storch!«

»Die Matronen auch?«

»Die erst recht!«

Wie er dahinter gekommen – und ich halte es wohl für möglich, daß unsre reifere Damenjugend auf jeder Wiese dem Storch ihren Unschuldknicks macht und mit gehobenen Händen ruft: »Storch, Storch, Guter, bring mir einen Bruder!« – ahne ich nicht. Er vergräbt sich auch gleich in eine Sofaecke, holt einen Brief heraus und liest eifrig. Damenhand – gestochenes Wappen – in hellen Momenten scheint dieser Revolutionär gleichfalls auf Stammbäumen zu klettern. Ich schiebe ihm sanft die Ecartékarte hin – er brummt nur. Und – man kennt doch die Menschen nie – dieser häßlich elegante Kerl, dem nichts im Himmel und auf Erden heilig scheint, liest, liest, und über das unangenehm mokante Gesicht geht ein so warmer, liebenswürdiger Schimmer, daß es mir ordentlich wohl thut. Mal ein Mensch, der sich schlechter macht, als er ist! – Natürlich besteht der intimste Zusammenhang zwischen dem leidenschaftlichen Frauenkopf neulich und dem enggeschriebenen Brief heute, und natürlich ist's eine absolut unerlaubte Geliebte. Aber es ist doch was Hübsches, Warmes, Junges, wenn man so mitfühlen muß, wie sich zwei Menschen lieb haben! Es ist jetzt so stickend heiß in Trianon – und dabei so gräßlich tugendhaft 43 versteinert alles. Ich sehne mich auch nach einer Geliebten. Es ist wohl mehr der Körper, der das Warme, Weiche, Liebevolle doch entbehrt. Aber eine richtige Geliebte, die leidenschaftlich ist, sündig – und doch das Beste in uns heilig hält und versteht.

Der Maler ist aufgestanden und geht im Zimmer auf und ab. Das Ecarté und ich sind vergessen. Endlich kommt er zu sich und sagt lachend: »Ich werde Ihnen allen hier doch den Gefallen thun und auf eine Woche verschwinden. Force majeure. Jemand sehnt sich kindisch nach meinem häßlichen Gesichte . . . Und glauben Sie mir, Trianon mit all seiner Tugend ist dem alten Herrn da oben nicht halb so wohlgefällig als dieses liebe Geschöpf in seiner schönen sündigen Menschlichkeit!«

Im Vorgarten unten klappern Kaffeetassen und Löffel. Er schüttelt sich. »Nee, Ramingshoven, heute lieber kein Artuskreis! Aber wenn Sie mir einen großen Gefallen thun wollen, bestellen Sie unsre beiden Tassen hier herauf, und ich beantworte gleich den Brief. Es eilt. Und ich verspüre ein lächerliches Verlangen nach meiner blonden, jungen Sünderin.«

Er hat sich auch gleich einen feierlichen Diplomaten-Briefbogen aus meinem Reisenecessaire gezogen und schreibt so rasch und unbekümmert, wie's nur Verliebte thun. Sein Stuhl steht dicht neben einer Sofaecke, aus der ich neidisch hinüberschiele zu ihm. Ich könnte jedes Wort lesen. Aber ein Gentleman sieht dem andern Gentleman nun einmal nicht in die Karten.

Unten hat sich der Artuskreis bereits formiert. Das Parfüm von Kaffee und Zwieback dringt durch die Fenster hinauf. Erst leichtes Löffelklirren und eine gedämpfte Futterstille. Dann höre ich das fröhliche Auflachen der blonden Kapitänsfrau und das frische Organ des alten Generals. Leider verstummt beides bald. Die satte Tugend tritt in ihre Rechte. 44 Der Maler stockt und hebt feierlich die Hand: »Die Handarbeitsrunde! – Ramingshoven, wenn Gott Ihnen je ein Lieb' beschert, dann halten Sie es zur Handarbeit an. Handarbeit ist Tugend. Durch nichts auf der Welt wird eine gesunde Moral besser geschützt.«

Ich winke nur warnend, denn die flachshaarige Matrone mit dem kleinen Kopf, die Vorsitzende im Artuskreis und Zielrichterin bei allen Tugendrennen, sagt halblaut: »Keine Familiennachrichten in der Kreuzzeitung?«

Darauf der Maler brummend: »Preisstammbaumklettern!«

Es kommen verschiedene adelige Verlobungen, Geburten und Sterbefälle, denen ein beifälliges Gemurmel folgt, einmal auch ein empörtes – die eine Gräfin ist nämlich eine Müller, einfach Müller.

Der Maler zuckt dazu nur mit den Ohren.

Das Thema wechselt unten. »Kara ist übrigens das sechste Sitzbad nicht bekommen. Merkwürdig – gerade das sechste!«

Darauf der Maler mit Grabesstimme: »Schreiben Sie's auf, Ramingshoven. Also das sechste Sitzbad – das sechste! – Es ist ungeheuer wichtig. Der Erzengel Gabriel dürfte Ihnen das als erste Examensfrage für den siebenten Himmel aufgeben.«

Ich winke nochmals warnend.

Unten wiederum: »Es sind heute wenig Ernennungen im Militärwochenblatt – meine Geschwister Dennhoff glaubten ganz sicher . . .«

Darauf der Maler, die Hand erhebend, im Sehertone: »Schreiben Sie's auf, Ramingshoven! Meine Geschwister Dennhoff glaubten ganz sicher . . . Gabriel fragt auch danach.«

Auf Grund dieser tiefsinnigen Erklärungen entwickelt sich am Tugendtisch eine halblaute Unterhaltung, aus der ich nur Bruchstücke ergattern kann. Wie lange 45 der Ramingshoven wohl Kürassier gewesen sei, wann er verabschiedet und warum? – Die guten Damen können sich beruhigen. Ich stürzte in Westend bei meinem siebzehnten Hindernisrennen und erschütterte mir in Ehren das Gehirn . . . Daß Majestät die Johanniter jetzt sehr zu bevorzugen scheine – ich habe das Dekorationsstück zum Halse raus bei mir, wenigstens bis jetzt, nur als hübsche, aber kostbare adelige Spielerei aufgefaßt . . . Daß ferner der wirkliche Vorname auf Adressen an wirkliche Edelfrauen eine tödliche Beleidigung sei; es dürfe nur heißen: »Baronin Leopold oder Gräfin Arthur«. Bürgerliche Frauen dagegen hätten die traurige Pflicht, sich »Alma, Klara, Eulalia« auf allen Briefumschlägen schimpfen zu lassen. Aber der Adel, speziell der Uradel! – Lieber Freund, ich hatte keine Ahnung davon, und ich bitte dich inständigst, deiner Gattin meine zerknirschtesten Huldigungen zu Füßen legen zu wollen, weil ich hoffnungsloser Plebejer auf allen Geburtstagsbriefen regelmäßig: Armgard, Gräfin von Y., geborene Gräfin von Z., adressiert habe. Aber wird sie es mir noch verzeihen können . . .?

Der Maler, der Ohren wie ein Luchs besitzt und während dieser Konversation am Tugendtische die komischsten Gesichtsverzerrungen produziert hatte, springt endlich verzweifelt auf: »Ich will auf meine Mansarde! Den Brief kriege ich ja hier nie fertig . . . Herrgott von Bentheim! Das jeden Nachmittag über sich ergehen zu lassen! – Dieselbe Kaffeemühle mal rechts, mal links gedreht – die Geschwister Dennhoff einmal zuerst und Karas sechstes Sitzbad zuletzt – wie's ›trefft‹ . . . Sie wollen niedergebrochene Nerven haben, Ramingshoven? – Schiffstaue haben Sie!«

Ich habe den guten Mann freundschaftlich bis an die Thür geschoben, weil er rücksichtslos laut spricht. Er begriff meine Vorsicht, sah mich aber nur mitleidig an: 46

»Nee, Ramingshoven, entweder wollen die Götter Ihr Verderben, oder Sie sollen später einmal partout in den siebenten Himmel – die Vorsehung paukt Ihnen ja alle Examensfragen für Jenseits schon jetzt ein . . . Aber ich sage Ihnen . . .«

Und nichtswürdig ist er doch! Er hat von seiner verbotenen Hochzeitsreise an den ganzen weiblichen Artuskreis die liebenswürdigsten Ansichtspostkarten geschrieben. Es waren meistens idyllische Landschaften mit Lämmerherden – aber der Vorname war auf der Adresse nirgends vergessen. Leider habe ich dem tief empörten Spitzenhaubenwackeln über diese Gemeinheit nicht beiwohnen können.

Er ist gegangen – und alles, was ich menschlich Warmes empfand, mit ihm. Es war eine sündige Wärme, aber mit der Tugend heizt man nur Grüfte. Ich strecke mich aufs Sofa. Unten die Kaffeefiesta mit Stricknadelklappern und sanftem Adelsklatsch. Es sind eigentlich so angenehm einschläfernde Geräusche – Aber ist es das Schloß, die Residenz, Trianon selbst? – auch ich fühle deutlich, wie dem Liegenden die Glieder taub werden, erstarren, versteinern. Ich möchte mich mit einem Ruck aus diesem beginnenden Mumienschlaf reißen – in Wirklichkeit erhebe ich mich aber um so langsamer, weil ich hastige Bewegungen hasse, und die Selbstbeherrschung verließ mich noch nicht oft. Ich mache eine lautlose Promenade durchs Zimmer, gehe dann ans Fenster und schaue zwischen den herabgelassenen Vorhängen in den Vorgarten. Da tagt noch unentwegt der feierliche Tugendtisch, die blasse Isa mittenmang.. – »Ja, sticke nur, mein Kind, sticke! Bei keiner Beschäftigung verdorren die Gefühle besser . . .« Und sie stickt, stickt . . .

Eben ist der Maler aus dem Hause getreten, den Liebesbrief in der Hand, und schwenkt den grünen Lodenhut ironisch feierlich – der Parzenkonvent schaut 47 eisig. Bei den Tigern an der Treppe bleibt der Filou stehen, streichelt sie freundlich und blinzelt zu mir herauf. »Soll ich Ihnen schon jetzt die hohe Schule vorreiten, Ramingshoven?«

Ich tauche lautlos hinter dem Fenstervorhang zurück. In dem Augenblicke ruft ihm eine Mädchenstimme nach: »Wenn Sie nach dem Briefkasten gehen, nehmen Sie mich doch mit!« Es ist die junge Erzieherin mit den hübschen grauen Augen, die beim Essen nicht mehr ausschließlich auf dem Teller ruhen – der Revolutionär hat sie etwas belebt mit seiner ironischen Lustigkeit. Und warum sollen die beiden einzigen wirklich jungen Menschen unter uns nicht mal fröhlich lachen? Bis zum Briefkasten sind es genau drei Schritte – nicht mehr. Und er trägt gerade den Brief an seine blonde Geliebte! Aber der Tugendtisch verstummt sofort, um sich dann feindlich zu räuspern – sämtliche Brillengläser funkeln kalt. Die heilige Feme beginnt zu tagen. Die beiden sind auch sofort zurück. Nie war ein Lasterpfad schlechter gewählt, nie ein Sündenglück kürzer. Aber kaum hat sich die Hausthür hinter so viel Nichtswürdigkeit geschlossen, da recken sich schon die alten Hälse –

»Dieses junge Mädchen!«

»Ich muß allerdings sagen, daß ich in meinem Leben . . .«

»Wenn die Familie, in der sie unterrichtet, das ahnte.«

»Auch neulich schon im Garten . . .«

»Ich habe auch an Kara deswegen geschrieben . . . und meine Geschwister Dennhoff würden nie gestatten, daß die Comtessen . . .«

Die blasse Isa stichelt, stichelt . . . Ich kann dir nicht sagen, was mich dieses wortlose Sticheln empört! Im übrigen muß ich dir versichern, daß an dem 48 Unsinn nichts dran ist; der Papst könnte dieser Erzieherin unbedingt die Tugendrose verleihen . . . Und nun dieses Geschwätz von all den Mumien . . . Na!

Bei mir kommt alles, wie du weißt, langsam, tropfenweise; ich liebe plebejische Ausbrüche gar nicht, und den schwersten Herzenskampf sah doch nur mein eignes Gemach – aber wenn ein Glas zu voll ist, fließt es trotz aller Vorsicht über. Es ist die kalte, blasse Wut, die mich packt, die aber meinen Kopf glücklicherweise immer nur unheimlich klar macht. Ich sage dir, wenn ich noch länger in diesem blödsinnigen Tugendsumpf ohne eine Teufelei aushalte, versinke ich auch. Aber alle meine Sinne bäumen sich gegen den lebendigen Mumientod von Trianon . . . Das Gespräch, das ich eben belauschte, ist eine Albernheit, über die man nur lächeln soll – und doch liegt hier der Wendepunkt . . . Es fällt mir nun nicht etwa ein, den Ritter einer Gouvernante spielen zu wollen – meine Protektionen brachten noch niemals Glück – aber Ernest Freiherr von und zu Ramingshoven, Leutnant a. D., Regierungsassessor und Ritter des Johanniterordens (ich rede mich aus reinem Hohn mit allen meinen wertlosen Titeln an), wird eine wirkliche Schlechtigkeit begehen, weil ihm das nun einmal besser zu Gesicht steht.

Mein Fenster liegt sehr bequem, und die Asche meiner Importierten ist gerade sehr lang – ich möchte die als Gruß auf die Tugendschädel wippen. Ich sehe ja auf diese Gesellschaft herab – so herab! – obgleich sie mehr als das eine Jahrtausend unsrer Pension repräsentiert. Ich frage empört: Was habt ihr in euerm ganzen Leben wirklich Moralisches gethan, um hier wie die Moral selbst zu Gericht zu sitzen? Du mit dem falschen Gebiß, das sich beim Richten immer vorschiebt – du, mit dem Doppelkinn, – du, mit dem kleinen Kopf – du, mit der 49 Tugendbrille . . . du . . . du . . . Habt ihr, ihr Frauen, auch nur einmal mit einer großen Leidenschaft gerungen? O nein, ihr seid allesamt vertrocknet und verdorrt, uralt und mittelmäßig schon seit eurer Geburt! Die Bibel, von der ihr nur den Buchstaben kennt, die Rangliste, die ihr königstreu durchblättert, die Handarbeit, an der ihr unermüdlich stichelt – sie sind allerdings eure gebührenden Wappenembleme! . . . Ihr lächelt befriedigt . . . Aber die Heilige Schrift hat euch nur Hoffart gelehrt, die größte Armee der Welt bedeutet euch nur ein abgeschmacktes Spiel von Namen, Patenten, ihr redet von dem Königtum, wie ein Star den eingelernten Satz plärrt, mit der Handarbeit nehmt ihr armen Stickerinnen das Brot . . . Du, im Grunde ist es dieselbe Gesellschaft, dieselbe Moral, die mich so elend gemacht! – Die Toten stehen wieder auf, aber es sind eben nur Tote . . . Dieses ganze Geschreibsel ist eigentlich unsinnig, gegen Fledermäuse eine Haubitze gerichtet. Aber ich fühle wieder wie damals alle Regungen des Anarchisten. Ich glaube nichts mehr – längst; ich habe vor nichts Achtung – längst. Und dennoch – es ist das Beste in mir, was mich so werden ließ, es ist die tödlich verletzte Moral, die sich auch heute empört . . . Ja, mein Freund, wir besitzen nichts mehr, wir verloren alles – wir verloren uns selbst – aber in einer guten Schlacht. Und jetzt bin ich nur noch ein kalter Marodeur, stelle mich bewußt außerhalb aller Gesetze . . . ich fühle das feige Rachegefühl des Schlechten mich überrieseln. Aber der Teufel war auch mal ein Engel, ehe er fiel – und Gott allein weiß, ob er durch eigne Schuld fiel . . .

*

Der Eisbeutel hatte sich eben auf fünf Minuten empfohlen. Jetzt spür' ich ihn wieder, und der gemeine Menschenverstand kehrt zurück. Hab also keine 50 Angst, daß ich Trianon in die Luft sprengen werde, oder daß ich mich mit der Erzieherin mit den hübschen grauen Augen zum Schaden des Artuskreises liieren werde! Was ich thue, pflege ich allein und geheim zu thun . . . Jedenfalls hab' ich ein Ziel.

*

Und jetzt werde ich mir die Schnurrbartbinde anlegen, den Dineranzug wechseln und frisch gewaschen, frisch geölt in den Vorgarten hinabgehen.. – »O, gnädige Frau, ist aber das Wappen reizend gestickt!« . . . Und: »Gnädiges Fräulein dürfen sich über der Serviertischdecke nicht allzusehr anstrengen! – Jugendmuster. Ist das nicht etwas revolutionär?« . . . Und: »Unser Freund, der Maler, geht auf Reisen, – ganz unter uns, es ist die höchste Zeit. Die kleine Erzieherin könnte er eigentlich gleich mitnehmen. Sie paßt doch nicht hierher. Ich sage nichts – aber ein junges Mädchen sollte doch nie vergessen . . .« Und dann werde ich gehen mit dem höflichsten Gruß, mit dem vielsagendsten Lächeln, erst offiziell nach der Leichenpredigtenluke auf der Höhe starren und dann unauffällig zu den knusprigsten Zwiebacken hinabsteigen. Bis zur Leichenpredigtenluke kann ich nämlich noch beobachtet werden. Das will ich gerade – ich muß wieder etwas für meinen guten Ruf thun. Und alle werden dann wie aus einem Munde sagen: »Dieser Ramingshoven, wie scharmant und doch wie klug! Es ist wirklich wunderbar, daß . . .« Und dabei werden alle Brillenaugen freundlich fragend auf Isa von Isenbergs langweiligem Heiligenprofil ruhen. 51



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