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26. Kapitel.

Es war schon längst Nacht, als der Zug, mit dem Ravenow fuhr, Börsum erreichte. Hier gab es einige Minuten Aufenthalt. Ravenow harte es sich sehr bequem gemacht und sich sogar eine Zigarre angebrannt. Da ertönte draußen der Ruf:

»Magdeburg, erster Klasse!« – »Verdammt!« murmelte Ravenow. »Nun ist es aus mit dem Rauchen.«

Er stand bereits im Begriff, die Zigarre aus dem Fenster zu werfen, als das Kupee geöffnet wurde und sein Blick auf den Einsteigenden fiel. Er behielt die Zigarre in der Hand.

»Guten Abend«, grüßte der neue Passagier. – »Alle Teufel! Guten Abend, Herr Oberst«, antwortete Ravenow.

Der Neuangekommene fixierte den Sprecher schärfer und fragte dann:

»Sie kennen mich, mein Herr?« – »Natürlich. Ich hoffe nicht, daß Sie mich verleugnen wollen?« – »Verleugnen? Keineswegs. Mit wem habe ich die Ehre?«

Ravenow wußte gar nicht, was er denken sollte.

»Was, Sie kennen mich nicht?« fragte er. – »Leider, nein.« – »Das ist unmöglich.« – »Ich besinne mich wirklich nicht.« – »Das ist stark. Das ist unbegreiflich. Verlangen Sie wirklich, daß ich Ihnen meinen Namen sage?« – »Ich ersuche Sie um die Gefälligkeit.« – »Da stehen mir weiß Gott die Haare zu Berge. Sollte Ihr Gedächtnis oder vielmehr Ehr Augen während dieser Zeit so schwach geworden sein?«

Der Oberst zog ein befremdetes Gesicht.

»Ich wüßte nicht, daß ich über mein Auge und Gedächtnis zu klagen hätte«, meinte er, ein wenig pikiert.

Das Kupee war geschlossen worden, der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt.

»Nun, dann müßte es an mir liegen«, meinte Ravenow. »Sollte ich mich so verändert haben?« – »Möglich«, lächelte der Oberst. »Also bitte, Ihr Name.« – »Pah, das ist gar nicht notwendig. Hier ist das Erkennungszeichen!«

Dabei reckte Ravenow den rechten Arm empor, so daß man die imitierte Hand deutlich bemerken konnte. Der Oberst fuhr zurück.

»Was?« rief er. »Wäre es möglich?« – »Möglich? Was denn?« – »Sie wären Leutnant Ravenow?« – »Donner und Doria! Wer denn sonst?« – »Na, das hätte ich nicht denken können. Mensch, wie sehen Sie denn aus?«

Der Leutnant blickte den Oberst ganz erstaunt an.

»Wie ich aussehe? Ich verstehe Sie nicht.« – »Mein Gott, dort ist ja der Spiegel. Haben Sie denn nicht hineingesehen?«

Ravenow war allerdings bis jetzt so mit seinem Zorn beschäftigt gewesen, daß er merkwürdigerweise keinen einzigen Blick in den Spiegel geworfen hatte. Er stand auf, trat vor das Glas, fuhr aber sofort erschrocken zurück.

»Hölle und Teufel«, rief er. »Wer ist das? Das soll doch nicht etwa ich sein?« – »Wer denn sonst?« fragte der Oberst. – »So, so also bin ich zugerichtet! Na, warte, mein Bursche. Ich werde dir den Satan auf den Leib schicken. Ich kann mich weiß Gott vor keinem Menschen sehen lassen.« – »Das scheint mir auch so. Was haben Sie denn gehabt?« – »Hm. Eine ganz verdammte Geschichte.« – »Ein Sturz vielleicht?« lächelte der Oberst. – »Nein.« – »Oder vor Schreck? Man erzählt sich ja von Menschen, deren Gesicht vor Schreck oder Angst blauschwarz angelaufen ist.« – »Auch nicht«, antwortete Ravenow ärgerlich. – »Dann müßte man meinen, daß Sie aus einer recht intensiven Schlägerei kommen. Doch das ist ja unmöglich.« – »Oh, was das letztere betrifft, so gibt es sogenannte Unmöglichkeiten, die doch passieren. Ich werde Ihnen die Sache erzählen. Vorher aber eine Erklärung. Woher kommen Sie?« – »Aus Wolfenbüttel.« – »Wohin fahren Sie? Nur nach Magdeburg?« – »Nein, nach Berlin. Und Sie kommen?« – »Aus Mainz.« – »Und gehen?« – »Auch nach Berlin.« – »Ist mir lieb. Wenn Sie wüßten, weshalb ich nach Berlin gehe.« – »Ah, der Grund, der mich nach der Hauptstadt zieht, ist jedenfalls ebenso oder noch interessanter als der Ihrige. Sie werden staunen.« – »Sie ebenso.« – »Wirklich?« – »Sie machen mich neugierig.« – »So will ich Sie nicht martern. Ich komme infolge einer Depesche.« – »Ich ebenso. Es handelt sich um eine Angelegenheit, derentwillen es mir ganz lieb ist, Sie unterwegs zu treffen.« – »Ganz dasselbe habe ich auch Ihnen zu sagen. Leutnant von Golzen hat mir telegrafiert.« – »Wirklich?« fragte Ravenow überrascht. »Mir auch.« – »Ah!« rief nun seinerseits der Oberst. »Wann?« – »Gestern.« – »Mir auch. Kannte er Ihren Aufenthalt?« – Ja.« – »Den meinigen auch. Ich vermute jetzt, daß der Inhalt der beiden Depeschen derselbe ist.« – »Und daß wir aus derselben Ursache nach Berlin gehen.« – »Sie meinen doch diesen – diesen Schurken?« – »Diesen obskuren Helmers? Ja.« – »Golzen telegrafierte mir, daß der Kerl in Berlin eingetroffen sei. Er hat ihn vorgestern gesehen.« – »Ganz denselben Inhalt hatte auch meine Depesche. Ich brach natürlich heute auf.« – »Um Ihren damaligen Schwur zu halten?« – »Ja.« – »Und ich den meinigen. Rache für dieses hier.«

Der Oberst erhob nun seinerseits den rechten Arm. Auch er trug eine falsche Hand, die in einem Handschuh steckte.

Ravenow stampfte den Boden mit dem Fuß.

»Wenn ich an jene Zeit denke, könnte ich rasend werden«, knirschte er. »Jung, reich, Hahn im Korbe bei den Damen und eine Karriere vor sich. Da kam dieser verfluchte Mensch, und ... ach!« – »Ist's mit mir nicht ebenso?« fragte der Oberst finster. »Ich stand im Begriff, General zu werden. Donnerwetter, Sie sind noch zu beneiden gegen mich.« – »Ich? Wieso?« – »Sie haben keine Frau.« – »Freilich. Ich begreife.« Ravenow stieß ein höhnisches Lachen aus. – »Diese Vorwürfe! Keine Pension! Wenig Vermögen!« – »Kommen Sie zu mir!« – »Danke. Es muß schon so viel werden, wie ich brauche, den Hunger zu stillen. Muße habe ich genug.« – »Ich ebenso. Ich habe sie gut benutzt.« – »Ich nicht weniger. Ich habe mich täglich mehrere Stunden geübt.« – »Im Schießen?« – Ja, im Schießen mit der linken Hand.« – »Gelingt es?« – »Ich behaupte, jetzt besser zu treffen als früher mit der Rechten.« – »Und ich führe den Degen jetzt mit der Linken ausgezeichnet. Dieser Helmers müßte gerade vom Teufel beschützt werden, wenn er zum zweiten Male davonkäme.« – »Sie beabsichtigen also wirklich ...« – »Ich gehe nach Berlin, um ihn zu fordern«, meinte Ravenow kurz. – »Und ich gehe nach Berlin, um ihn kaltzumachen«, erklärte der Oberst. »Mögen die Folgen sein, welche sie wollen.« – »Pah, Folgen«, meinte der Leutnant verächtlich. »Hier handelt es sich um eine Rache, deren Gelingen auch für die schwersten Folgen entschädigen wird. Die Frage ist, ob wir den Kerl finden.« – »Jedenfalls.« – »Aber, wo?« – »Im Palast des Herzogs von Olsunna.« – »Wissen Sie, daß er dort abgestiegen ist?« – »Nein, ich vermute es, weil er stets dort gewohnt hat.« – »Sie mögen recht haben. Wissen Sie, wo er sich bisher befand?« – »Man munkelte von einer Reise nach Rußland.« – »Auch ich hörte davon. Dieser Schifferjunge hat ein Glück, das geradezu fabelhaft ist.« – »Mir gilt es gleich.« – »Mir auch. Ich fordere den Kerl, schieße ihn nieder und bin gerächt.« – »Aber ich hoffe, daß Sie mir die Vorhand lassen.« – »Wie damals? Warum?« – »Ganz aus dem früheren Grund.« – »Darüber läßt sich noch sprechen. Haben Sie bereits daran gedacht, wen Sie als Sekundanten engagieren werden?« – »Nein, das wird sich finden.« – »Meinen Sie? Ich denke, daß wir da auf Schwierigkeiten stoßen werden.« – »Welche?«

Der Oberst wurde ein klein wenig verlegen.

»Man wird vorsichtig sein«, meinte er. »Man wird sofort ahnen, daß es sich um Leben und Tod handelt.« – »Pah«, lachte Ravenow. »Sie können immerhin deutlich sprechen, ohne daß ich es Ihnen übelnehme. Sie meinen, daß unsere Ehre nicht mehr so glänzend erscheint wie früher.« – »Leider«, seufzte der Oberst. Jene Tage haben uns auch in dieser Beziehung viel Schaden gemacht.« – »Ich gebe keinen Heller darauf. Was ist Ehre? Diese Frage ist auch eine Pilatusfrage. Wie kommt es, daß die Ehre eines Offiziers zum Teufel ist, sobald derselbe von einem Stock berührt wird oder eine Ohrfeige bekommt? Tradition! Überlieferung von alten Urtanten und Urcousinen her!«

Ravenow schnippste mit den Fingern verächtlich in die Luft, aber seine Augen funkelten doch, wie unter einer zornigen Erregung.

Die Schläge des Amerikaners waren außerordentlich kräftig gewesen. Das ganze Gesicht des Leutnants war geschwollen; Nase und Lippen hatten eine dunkle, blauschwarze Färbung angenommen. Es war wirklich kein Wunder, daß der Oberst ihn nicht erkannt hatte.

»Hm«, meinte dieser. »Eine Ohrfeige ist doch etwas höchst Heikles, man mag es betrachten, wie man es will.« – »Aber auch der größte Ehrenmann ist nicht sicher vor einer solchen.« – »Das begreife ich nicht.« – »Nicht? Ich begreife es sehr gut; ich habe es sogar gefühlt.« – »Das klingt ja gerade, als hätten Sie die eigentümliche Färbung Ihres Gesichtes einer Anzahl von Ohrfeigen zuzuschreiben.« – »Nun, und wenn es in Wirklichkeit so wäre?« – »Ich wüßte nicht, was ich dann denken sollte. Man müßte da den vorliegenden Fall beurteilen können.« – »Gut, Sie sollen ihn beurteilen!« – »Ach, also doch«, rief der Oberst, dessen Interesse erregt war. – »Ja, also doch.« – »Man hat Ihnen eine Ohrfeige zu geben gewagt?« – »Eine? Viel mehr«, lachte Ravenow, aber sein Lachen war ein Lachen der Wut und des Grimmes. – »Wer wäre das gewesen? Hoffentlich ein – ein...« – »Nun, ein ...« – »Ein Mensch, dessen Berührung nicht ganz und gar vernichtend auf das wirkt, was man Ehre nennt?« – »Gerade das Gegenteil. Der Kerl war ein Vagabund, ein ganz gewöhnlicher Vagabund.« – »Leutnant!« rief der Oberst erschrocken. – »Ein Vagabund«, wiederholte Ravenow, »ein herumziehender Musikant.« – »Da kann ich Sie nur bedauern, aber ich begreife Sie nicht.« – »Der Teufel hole Sie mit Ihrem Bedauern. Ich brauche es nicht.« – »Gut. Erzählen Sie!«

Ravenow erzählte nun den ganzen Vorgang.

»Ich erstaune. Ich hätte ihn ermordet oder wäre vor Wut zerborsten. Sie bemächtigten sich natürlich des Burschen?« rief endlich der Oberst. – »Das versteht sich. Er befindet sich jetzt hinter Schloß und Riegel und sieht einer exemplarischen Bestrafung entgegen.« – »Leutnant, Leutnant. Diese Affäre ist nicht etwa sehr ehrenhaft für Sie.« – »Ich weiß das selbst. Sie wundern sich, daß ich überhaupt davon erzähle.« – »Natürlich. Dergleichen Dinge verschweigt man am liebsten.« – »Erstens wollte ich Ihnen beweisen, daß auch der größte Ehrenmann nicht vor Ohrfeigen sicher ist.« – »Ich danke für diesen Beweis.« – »Und sodann sehen Sie ja mein Gesicht. Wie sollte ich Ihnen die Geschwulst desselben erklären?« – »Ein Sturz«, lächelte der Oberst. – »Hätten Sie dies geglaubt?« – »Aufrichtig gesagt, nein.« – »Sie sehen also, daß ich recht habe, Ihnen kein Hehl aus dem Geschehenen zu machen. Der Teufel aber weiß, wie lange diese impertinente Geschwulst anhalten wird.« – »Ist etwas Innerliches verletzt?« – »Nein.« – »So rate ich Ihnen, rohes Fleisch aufzulegen, und zwar sofort.« – »Woher es bekommen?« – »In Magdeburg. Wir werden sogleich die letzte Station vor dieser Stadt erreichen. Am Büfett oder in der Küche gibt es auf jeden Fall rohes Fleisch. Sie können es gut auflegen, da wir uns allein im Kupee befinden. Wir fahren drei Stunden bis Berlin, bis dahin kann die bedeutendste Hitze bereits gewichen sein.«

Sie fuhren jetzt eben in die Station ein, wo sie längere Zeit halten blieben. Dies fiel dem Obersten so auf, daß er das Fenster öffnete, um sich nach der Ursache dieser Verzögerung zu erkundigen.

»Schaffner«, fragte er, »warum wartet man so lange?« – »Es ist ein Extrazug angekündigt, den wir vorüberlassen müssen«, lautete die Antwort.

Es dauerte auch nicht lange, so kam der Extrazug herangerollt. Er bestand aus der Maschine und nur einem Wagen. Aus dem einen Fenster des letzteren blickte ein Kopf, dessen Augen den hier haltenden Zug lebhaft musterten. Der Oberst erblickte den Kopf, trotzdem der Extrazug mit großer Geschwindigkeit vorüberfuhr.

»Himmelbataillon!« rief er. – »Was denn?« rief Ravenow. – »Welch eine Nase das war.« – »Wo?« – »Aus dem Fenster guckte ein Kerl, der hatte eine Nase, fast so groß wie eine Pflugschar.« – »Ha! Größer kann sie unmöglich gewesen sein als die Nase des Vagabunden, mit dem ich es heute zu tun hatte.«

Jetzt setzte sich nun auch ihr Train wieder in Bewegung. Als sie Magdeburg erreichten, war von dem Extrazug bereits nichts mehr zu sehen. Da Ravenow es vermeiden wollte, sich erblicken zu lassen, so ging der Oberst an das Büfett und ließ sich ein Quantum rohgewiegtes Fleisch geben, das er seinem Reisegefährten brachte. Dieser legte es, als sie wieder im Kupee saßen, in sein Taschentuch und band sich dasselbe aufs Gesicht, gerade als der Zug sich wieder in Bewegung setzte.

Der Leutnant hatte das geschwulststillende Mittel kaum eine Minute aufliegen, so seufzte er erst leise, dann lauter und ließ darauf sogar ein Stöhnen hören.

»Was gibt es? Was haben Sie?« – »Wissen Sie genau, daß rohes Fleisch hilft?« – »Ja. Es zieht in kürzester Zeit die Geschwulst zusammen.« – »Aber es brennt furchtbar.« – »Das muß es auch.« – »So sehr?« – »Es wird wohl zum Aushalten sein.« Ravenow schwieg, begann aber bald wieder zu stöhnen, rückte auf seinem Platz hin und her und riß endlich das Tuch herunter.

»Ich halte es nicht aus«, meinte er. – »So schlimm kann es doch unmöglich sein«, sagte der Oberst verwundert.

Da hielt Ravenow das Fleisch an die Nase.

»Haben Sie gesagt, wozu Sie das Fleisch wollen?« fragte er. – »Nein, natürlich nicht« – »In welcher Weise verlangten Sie es?« – »Ich fragte nach rohem Rindfleisch und erhielt zur Antwort, daß solches in Stücken nicht mehr zu haben, sondern nur noch gewiegt vorrätig sei. Daher ließ ich mir von letzterem geben.« – »Ohne zu fragen, ob es auch rein sei?« – »Unsinn. Womit sollte man es verunreinigt haben?« – »Verunreinigt nicht; aber hier, Oberst, riechen Sie.«

Ravenow hielt dem Reisegefährten das Tuch mit dem Fleisch an die Nase.

»Danke«, meinte der Oberst »Ich habe niemals einen besonders scharfen Geruch gehabt, und heute leide ich am Schnupfen, der beinahe chronisch zu werden scheint Ich rieche absolut nichts.« – »So kosten Sie wenigstens einmal.« – »Von dem Fleisch?« fragte der Oberst erschrocken. »Welches sich in Ihrem Taschentuch befindet?« – »Natürlich.« – »Und das Sie auf der geschwollenen Backe liegen hatten?« – Ja.« – »Donnerwetter! Da muß ich denn doch bestens danken!« – »Eigentlich sollten Sie aber zur Strafe doch kosten müssen!« – »Warum?« – »Weil dieses Fleisch bereits zu rohen Beefsteaks vorbereitet gewesen ist. Verstanden?« – »Unmöglich!« – »Es ist eine ganz unverschämte Quantität Salz, Pfeffer und Zwiebel daran. Und das soll eine Geschwulst mildern?« – »Hm! Das tun der Pfeffer und die Zwiebel freilich nicht. Wie dumm von diesen Leuten! Werfen Sie das Zeug zum Fenster hinaus.«


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