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19. Kapitel.

Um dieselbe Zeit befand der Oberförster sich in seinem Arbeitszimmer. Er war erst vor kurzem aufgestanden und trank seinen Morgenkaffee. Seine Laune war keine gute. Die alten, sorglosen Zeiten waren überhaupt dahin, es gab kein Glück, keine Freude mehr. Der Brief Sternaus war zwar eingetroffen und hatte einen unendlichen Jubel hervorgerufen, aber das darauffolgende lange Schweigen hatte annehmen lassen, daß die erlöst Geglaubten doch noch dem Unglück verfallen seien.

Da ertönten draußen rasche Schritte. Ludwig trat ein und blieb in strammer Haltung an der Tür stehen, um die Anrede des Oberförsters zu erwarten.

»Was bringst du?« fragte dieser kurz und mürrisch. – »Wilddiebe!« lautete die noch kürzere Antwort.

Da fuhr der Alte von seinem Stuhl auf.

»Wilddiebe?« fragte er. »Höre ich recht?« – »Zu Befehl, Herr Hauptmann, Wilddiebe«, bestätigte Ludwig. – »Wie viele?« – »Zwei.« – »Heiliger Hubertus, endlich einmal zwei! Na, das ist Wasser auf meine Mühle!« sagte der Alte. »Die spanne ich auf die Folter und dehne sie so weit aus, daß ihre Beine von Breslau bis nach London reichen. Wo hast du sie?« – »Unten im Hundeschuppen.« – »Doch fest?« – »Sehr. Sie sind gefesselt, und zwei Wächter stehen vor der Tür.« – »Wer hat sie attrappiert?« – »Ich selber dahier«, lautete die Antwort, die der brave Ludwig im Ton des stolzesten Selbstbewußtseins gab. – »Du selbst? Ah! Wo denn?« – »An der Mainzer Straße.«

Es verstand sich von selbst, daß das Einbringen zweier Wilddiebe bei dem Oberförster das allergrößte Interesse erregte. Er stand vor Ludwig und las ihm jede Antwort bereits, ehe er sie hörte, vom Munde ab.

»Erzähle!« befahl er. – »Es war eine Frische gefallen, Herr Hauptmann, und da machte ich mich auf die Beine, um in aller Frühe die bekannten Wechsel zu begehen. Als ich nun so die Straße hinabtrollte, fällt plötzlich ein Schuß, ein Schuß aus einer fremden Büchse, wie ich sogleich hörte. Ich schleiche mich rasch hin und erblicke einen Kerl, der unseren schönsten Bock dahier geschossen hat; er kniete vor ihm, um ihn aufzubrechen.« – »Dem Kerl sollen neunundneunzig Donnerwetter in die Haut fahren. Kanntest du ihn?« – »Nein; es ist ein Wildbrethändler aus Frankfurt.« – »Ah! Seit wann schießen die Kerle ihre Böcke selber?« – »Oh, er hat ihn gar nicht selber geschossen, sondern der andere.« – »Kanntest du den?« – »Sehr, sehr gut sogar. Ich bemerkte ihn nicht sofort, bekam ihn aber doch sehr bald vor die Augen.« – »Wer ist es?« – »Ich traute meinen Augen nicht, als ich ihn sah. Aber er hat in dieser Nacht bereits fünf Hasen in der Schlinge gefangen.« – »In der Schlinge? Fünf Hasen in einer Nacht? Das Wild in dieser jämmerlichen Weise umzubringen! Ich lasse den Kerl mit glühenden Zangen zerreißen, so wahr ich Rodenstein heiße und Oberförster bin.« – »Das hat er gut und ganz verdient, Herr Hauptmann. Er hat bereits seit Jahren für den Frankfurter Händler den Lieferanten gemacht.« – »Schändlich! Und wir haben ihn nicht erwischt? Da sieht man wieder, wie man sich auf seine Leute verlassen kann. Augen haben sie wie die Ofenlöcher und Ohren wie die Borstenwische, aber sehen und hören tun sie nichts. Doch ich werde einmal gehörig unter sie fahren und einen neuen Modus einführen, nämlich folgenden: Wer von jetzt an nicht jede Woche einen Wilddieb arretiert, wird auf der Stelle fortgejagt. Auf diese Art und Weise werde ich die Wilderer sogleich los und auch euch, ihr Sperrenräuber und Maulaffen. Mein Brot eßt ihr, und mein schönes Wild fressen andere; wovon sollen denn ich nun leben und seine Durchlaucht, unser Großherzog? Etwa von Eichenrinde, Tannenzapfen und gespickten Pelzfäustlingen? Ich werde euch den Brotkorb so hoch hängen, daß ihr, um danach zu schnappen, Hälse bekommen sollt wie die Giraffen und alten Jungfern, die den Hals wie einen Korkenzieher drehen, wenn sie einen Mann nur wittern. Aber wer war denn dieser Halunke?«

»Unser Viehdoktor!« berichtete Straubenberger.

»Unser Vieh...«

Das Wort blieb dem Alten vor Schreck im Munde stecken.

»Doktor«, ergänzte Ludwig das Wort. – »Kerl, bist du vielleicht übergeschnappt?« – »Zu Befehl, nein, Herr Hauptmann.« – »Unser Viehdoktor, unser Tierarzt sollte ein Schlingensteller sein? Das ist rein unmöglich. Das kann nicht wahr sein.« – »Es ist wahr, Herr Hauptmann.« – »Du irrst, ist er es denn wirklich?« – »Freilich. Er steckt ja mit unten im Hundestall.« – »Na, so gnade ihm Gott. Hast du den Bock mitgebracht?« – »Ja. Der Doktor hat ihn selber schleppen müssen.« – »Ihm ist ganz recht geschehen. Ich wollte, der Bock wäre ihm an den Hals gewachsen. Und wie steht es mit den Hasen?« – »Alle fünf sind da. Der Wildhändler hat sie im Sack.« – »Gut, gut. Ich werde diese beiden Kerle sofort verhören. Ich werde sie in das Gebet nehmen, daß sie vor Angst Baumöl und Sirup schwitzen sollen. Gehe und hole das ganze Volk zusammen! Sie sollen sofort alle nach meiner Amtsstube kommen. Wenn ich dir dann winke, bringst du die beiden Inkulpaten herauf. Ich werde ihnen schon zeigen, was ein Bock und fünf Hasen zu bedeuten haben. Ich werde ein Exempel statuieren. Und wenn ich sie auch schließlich dem Kriminalrichter übergeben muß, so werde ich sie doch vorher so turbieren und malträtieren, daß gegen meine Behandlung lebenslanges Zuchthaus noch ein Paradies sein soll. Vorwärts also, ich brenne vor Begierde, und sie sollen mich kennenlernen, aber wie.«

Ludwig entfernte sich. Als er in den Hof kam, hatte einer der Burschen gerade ein gesatteltes Pferd aus dem Stall gezogen, denn der gestrenge Herr Hauptmann hatte einen Ritt machen wollen.

»Laß das jetzt und hilf mir die Leute zusammentrommeln«, meinte Ludwig. »Der Herr Hauptmann hält erst das Gericht hier.« – »Mit den Wilddieben?« – »Ja. Die Leute sollen alle dabeisein, in der Amtsstube droben.« – »Gut, gut, ich laufe schon.«

Der dienstbeflissene Knecht ließ das angebundene Pferd stehen und eilte davon, um zu helfen, die Kameraden zu benachrichtigen. In fünf Minuten waren alle Bewohner von Rheinswalden versammelt. Der Hauptmann ließ sie auf Stühlen einen Halbkreis bilden, in dessen Mitte er in eigener Person Platz nahm, nachdem er zuvor durch das Fenster hinab in den Hof gewinkt hatte. Dort stand Ludwig an der Tür des Hundestalles. Als er den Wink seines Herrn bemerkte, öffnete er den Stall und ließ die beiden Verbrecher heraus.

»Halt, Doktor«, sagte er. »Sie haben den Bock zu tragen.« – »Auch in das Verhör?« – »Das versteht sich. Er ist ja der Corpus Defektus, der Euch ins Zuchthaus bringt, nebst den Hasen, die auch solche Corpusse sind dahier.« – »Aber ich bin ja unschuldig.« – »Sagen Sie das dem Herrn Hauptmann selber. Ich verstehe von der Kriminalität nicht ganz so viel wie er.«

Der Arzt mußte den Bock aufladen, und Geierschnabel trug seinen Sack. Sie waren noch immer an den Händen zusammengebunden. Als sie über den Hof geführt wurden, bemerkte der Amerikaner das Pferd, und ein lustiges Lächeln zuckte eine Sekunde lang um seine Lippen.

Ludwig führte sie eine Treppe empor und öffnete eine Tür. Ein rascher Blick Geierschnabels fiel auf das Schloß derselben. Sie traten ein, und Ludwig zog die Tür hinter sich und ihnen zu.

»Hier sind sie, Herr Hauptmann«, meldete er. »Soll ich ihm den Bock herunternehmen?«

Der Alte saß mit der Miene und der Grandezza eines spanischen Oberinquisitors inmitten seiner Leute.

»Nein«, antwortete er, »der Kerl mag dies selber tun.« – »Aber er ist ja angebunden.« – »Das ist überflüssig. Binde sie auseinander, ich habe einmal gehört, daß die Verbrecher während eines Verhörs nicht gefesselt werden dürfen, und so wollen wir es auch hier halten.«

Ludwig band die beiden Arrestanten los. Dabei breitete sich ein befriedigtes Lächeln über das Gesicht Geierschnabels. Der Tierarzt beeilte sich, seine Unschuld zu beteuern, noch ehe das Verhör begonnen hatte.

»Herr Hauptmann«, rief er, »es ist mir ein furchtbares Unrecht geschehen. Ich soll diesen Bock geschossen haben und bin doch ...« – »Ruhig«, unterbrach ihn der Oberförster mit donnernder Stimme. »Hier habe nur ich zu reden. Wer von euch beiden ein Wort spricht, ohne daß er gefragt wird, der wird krumm geschlossen wie eine Katze und bekommt acht Jahre Zuchthaus mehr als andere Leute. Verstanden?«

Der Kleine schwieg. Der Alte wandte sich an Geierschnabel.

»Den anderen kenne ich. Wer aber bist du, he?« – »Ich bin Wildbrethändler in Frankfurt«, antwortete der Gefragte. – »Wie ist dein Name?« – »Henrico Landola.«

Da fuhr der Alte von seinem Stuhl empor.

»Henrico Landola?« fragte er. »Donnerwetter. Was bist du für ein Landsmann?« – »Ich bin ein geborener Spanier.«

Der Hauptmann blickte ihn mit stieren Augen an.

»Mensch, Kerl, Schuft, Halunke, ist das wahr?« – »Ja.« – »Seit wann warst du Wildhändler?« – »Nur seit einigen Jahren.« – »Was warst du vorher?« – »Seekapitän.« – »Seeräuber, nicht wahr?« – »Ja«, antwortete Geierschnabel mit ungeheurer Ruhe. – »Dich soll der Geier reiten, du Ausbund aller Schlechtigkeit, Henrico Landola. Ah, daß wir den Kerl doch endlich haben. Aber Mensch, wie kommst du mit diesem Tierarzt zusammen?« – »Er hat mir die Gifte gemacht, wenn ich irgendeinen vergiften wollte.«

Da machte der Kleine vor Entsetzen einen Luftsprung.

»Alle guten Geister, es ist nicht wahr. Kein Wort ist wahr.« – »Ruhe, Giftmischer!« donnerte ihn der Hauptmann an. »Heute ist der Tag der Rache. Heute sitze ich selber zu Gericht. Heute werden alle entlarvt, die bisher kein anderer entlarven konnte. Henrico Landola, wie viele Menschen hast du vergiftet?« – »Zweihundertneunundsechzig.«

Da erschrak selbst der Alte. Es kam ihm ein Grauen an.

»Satanas«, rief er. »So viele, so viele. Warum denn?« – »Hier dieser Viehdoktor wollte es nicht anders. Ich mußte, sonst hätte er mich selbst umgebracht.« – »Herr Jesses, Herr Jesses«, schrie der Kleine. »Es ist kein wahres Wort daran. Es kann kein einziger Mensch auftreten und sagen, daß ich ihn umgebracht habe.«

Geierschnabel zuckte die Achsel.

»Er leugnet natürlich. Aber früher war er der blutgierigste von allen meinen Seeräubern. Ich kann es beweisen.« – »Mensch, du bist ein Ungeheuer. Ich bin niemals etwas anderes als Tierarzt gewesen.« – »Ruhig, nicht murren«, gebot der Oberförster. »Sie sind erst seit drei Jahren in dieser Gegend. Das könnte stimmen.« – »Ich war aber vorher im Elberfeldschen.« – »Das wird sich zeigen. Sie schweigen! Ich habe es jetzt mit diesem Landola zu tun. Mensch, Räuber, Schuft, kennst du einen Cortejo?« – »Ja«, antwortete Geierschnabel. – »Ah, wie hast du ihn kennengelernt?« – »Durch diesen Tierarzt. Er war der Schwager des Cortejo.« – »Nein, nein«, rief der Kleine. »Ich kenne keinen Cortejo, ich habe diesen Namen noch niemals gehört.« – »Ruhe, sonst lasse ich Sie hinauswerfen«, donnerte ihn der Alte an. »Ich werde schon herauskriegen, wer Ihr Schwager ist.« Und zu Geierschnabel gewandt, fuhr er fort: »Haben Sie mit diesem Cortejo Geschäfte gemacht? Ich verlange die Wahrheit.« – »Ja, sehr viele sogar«, antwortete der Gefragte. – »Was für welche waren es?« – »Mein Seeräuberschiff war sein Eigentum.« – »Wie hieß es?« – »Der Lion, und ich nannte mich damals Grandeprise.« – »Das stimmt. Der Kerl hat wenigstens den Mut, die Wahrheit zu sagen. Kennst du vielleicht einen gewissen Sternau?« – »Ja.« – »Hat er dich nicht einmal fangen wollen?« – »Ja.« – »Was hast du da gemacht?« – »Das, was ich jetzt mache.« – »Ah! Was denn?« – »Ich bin ausgerissen. Adieu, Herr Hauptmann.«

Geierschnabel hatte seinen Leinwandsack noch auf dem Rücken. Bei den letzten Worten drehte er sich blitzschnell um und sprang nach der Tür. Im nächsten Augenblick war er draußen, warf die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel um, so daß ihm niemand folgen konnte. Drei, vier Stufen nehmend, sprang er die Treppe hinab und hinaus in den Hof. Dort flog er auf das Pferd zu, band es los, sprang in den Sattel und galoppierte davon.

Dieser ebenso kühne wie unvorhergesehene Vorgang hatte oben die Versammlung so überrascht, daß keiner daran dachte, ein Glied zu bewegen. Der Hauptmann war der erste, der sich faßte.

»Er will fliehen«, rief er. »Rasch, schnell ihm nach.«

Er sprang nach der Tür, um sie zu öffnen.

»Tausend Teufel. Er hat den Schlüssel umgedreht.«

Er eilte nach dem Fenster und blickte hinab.

»Bomben und Granaten. Da springt er auf das Pferd. Da reitet er zum Tor hinaus. Wenn das so fortgeht, so entwischt er uns, ehe wir ihn wiederhaben.«

Niemand dachte daran, zum Fenster hinabzuspringen. Alles rannte nach der Tür, um daran zu trommeln, bis eine alte Magd kam, die der Gerichtssitzung nicht mit beigewohnt hatte. Sie öffnete, und nun stürmte alles hinaus und in den Hof hinab.

»Zieht die Pferde heraus«, gebot der Alte. »Wir müssen ihm nach.«

So viele Pferde vorhanden waren, so viele Reiter stürmten eine Minute später zum Tor hinaus, der Hauptmann ihnen allen voran. Ein Bauer kam ihnen entgegengeschritten.

»Thomas«, rief ihm der Hauptmann zu, »hast du nicht einen Kerl zu Pferde gesehen?« – »Ja, auf Ihrem Pferd«, lautete die Antwort. – »Mit einem Sack auf dem Rücken?« – »Ja, mit einem Sack.« – »Wohin ritt er?« – »Er schien große Eile zu haben, aber er hielt doch bei mir an und fragte mich nach dem Weg nach Rodriganda.« – »So ist er nach Rodriganda zu?« – »Ja, Herr Hauptmann.« – »Gut, so holen wir ihn ein. Vorwärts, Jungens! Wer von euch mir diesen Kerl wiederbringt, bekommt eine ganze Jahresgage gratis und einen neuen Anzug obendrein.«

So alt er war, er blieb von allen Verfolgern doch der vorderste. Es schien, als ob er sich die Jahresgage selbst verdienen werde.

Das Unbegreiflichste bei diesem Intermezzo war, daß kein einziger daran gedacht hatte, sich des Tierarztes zu bemächtigen. Dieser stand ganz allein im Zimmer und starrte auf die Tür, durch welche alle fortgestürmt waren.

»Jesses Maria«, sagte er. »Was soll ich tun? Auch ausreißen? Es ist das beste. Ich, ein Wilddieb, ein Giftmischer und Seeräuber. Wenn ich jetzt glücklich zum Schloß hinauskomme, so verstecke ich mich acht Wochen lang, bis meine Unschuld an den Tag gekommen ist.«

Er schlich die Treppe hinab. Auf dem Hof war kein einziger Mensch zu sehen, denn selbst diejenigen, die kein Pferd erhalten hatten, waren den Reitern eine Strecke weit zu Fuß gefolgt. Daher gelang es dem vor Angst zitternden Männchen, unbemerkt zu entkommen. Draußen vor dem Schloß wich es sofort von der Straße ab und schlug sich in die Büsche. Frau Helmers wartete vergeblich auf den Heiler ihrer perlsüchtigen Kuh.


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