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Vierzehnter Abschnitt
Der Cusaner

Ich habe also – wie gesagt – in dem begreiflichen Wunsche, das weite Gebiet der Hexenreligion im Zusammenhange darzustellen, den Kampf gegen Hexenbulle und Hexenhammer und gegen den entsetzlichen Mißbrauch der Hexenprozesse bis zum Erlöschen dieser Religion weiter verfolgt, also bis in die Gegenwart herein. Es bleibt mir nun nichts anderes übrig, als aus dem 20. Jahrhundert wieder ins 15. zurückzukehren und den Kampf gegen andere religiöse Dogmen dort wieder aufzunehmen, wo wir ihn etwa zu der Zeit des Basler Konzils um des Hexenwahns willen verlassen haben.

 

Nicolaus von Kues

Wir haben gesehen, daß damals eine kirchliche Revolution, die man Reformation nannte, überall in der Luft lag, nicht nur in Deutschland, wo freilich die Erfolge der Hussiten zur Nachahmung reizten. Ich will zunächst an der Gestalt eines hervorragenden Kirchenfürsten zu zeigen versuchen, wie ein Mann, der seine Zeitgenossen an Wissen und Geist übertraf, dennoch die Kirche zu stützen suchte, eben weil er ein Theologe war. Ich will also die Rolle betrachten, die der Cusaner in der Bewegung der Aufklärung spielte. Ich will sodann, und viel kürzer, als ich es selbst früher für nötig gehalten hätte, die unheilvolle Wirkung andeuten, die nach allen diesen Strömungen die Reformation selbst, als sie plötzlich eine Tatsache und sogar eine Macht wurde, auf die Geschichte der Geistesbefreiung übte. Vom einseitigen Standpunkte meiner Aufgabe aus war die sogenannte Reformation eine Verirrung der Bewegung, die auf Befreiung abzielte. Wir werden Deutschland für länger als ein Jahrhundert seiner Reformation überlassen müssen und zusehen, wie im romanischen Europa inzwischen die Renaissance, fast immer unbeschwert von der Reformation, den Befreiungsweg weiter ging, den sie seit dem 13. Jahrhundert eingeschlagen hatte.

 

Der Cusaner und Hegel

An der Grenze zwischen dem sog. Mittelalter und der Neuzeit steht dieser Nicolaus von Kues, gewöhnlich der Cusaner genannt, der uns besonders zum Bewußtsein bringen sollte, daß die Geschichte der Philosophie mit der Geschichte der Aufklärung nicht zusammenfällt. In der Philosophiegeschichte ist der Cusaner immer noch nicht nach Verdienst gewürdigt; man wird ihm einmal als dem Vollender und Überwinder der Scholastik eine ähnliche Stelle anweisen müssen wie dem kaum noch geistreicheren Hegel als dem Vollender und Überwinder des Rationalismus; von beiden Denkern aus, die im ewigen Ringen mit der Sprache nicht zu dem ehrlichen Worte ihres letzten Bekenntnisses gelangten, teilten sich die Wege, rechts zu einer sophistischen Neubegründung des Christentums, links zu einem dogmatischen Atheismus. Beide bildeten sich ein, sich auf die exakten Wissenschaften ihrer Zeit zu stützen, der Cusaner mehr auf die Mathematik, Hegel mehr auf die Naturphilosophie; beide wirkten anregend auf die Wissenschaft, brachten es aber da zu keiner dauernden Leistung, weil sie, in der Philosophie wortabergläubisch, ihren erstaunlichen Scharfsinn in den Dienst fruchtloser Versuche stellten, das Wissen ihrer Zeit mit der christlichen Dogmatik in Übereinstimmung zu bringen. Die Ähnlichkeit zwischen den Methoden Hegels und des Cusaners würde überraschen, wenn man den Grundgedanken des alten Kardinals, die coincidentia oppositorum, in der Terminologie Hegels darstellen wollte, als den Dreischritt von Thesis, Antithesis und Synthesis; man würde dann den seltsamen Gott Hegels vielleicht als den Gott des Cusaners wiedererkennen, als den objektiven Geist. Auch im Charakter mögen die beiden außerordentlichen Männer einander ähnlich gewesen sein; die Zeitumstände brachten es aber mit sich, daß Hegel für seine Unterwerfung unter das christliche Dogma nur als der summus philosophus Preußens und Deutschlands anerkannt wurde, während der Cusaner es für seine aktive Förderung der päpstlichen Macht zu der Würde eines Kardinals brachte und wahrscheinlich, wenn er nur wenige Wochen länger gelebt hätte, selber gar Papst geworden wäre.

Man würde wohl ein Unrecht begehen, wenn man den Cusaner (geb. 1401 zu Kues an der Mosel, gest. 1464 zu Todi bei Perugia) wegen der weltlichen Erfolge in seiner geistlichen Laufbahn einen Streber oder einen Heuchler nennen wollte; er wird wohl mit leidlich gutem Gewissen der päpstlichen Partei gedient haben, wird zwischen dem Ehrgeiz des Gelehrten und dem Ehrgeize des Kirchenfürsten geschwankt haben und erst gegen das Ende seines Lebens – auch da als ein Freund des regierenden Papstes nicht ganz unbefangen – klarer und fester als in seinen Basler Lehrjahren zu der Überzeugung gekommen sein: die Kirche bedarf einer Reform an Haupt und Gliedern, der Glaube bedarf einer Vertiefung durch das »Wissen vom Nichtwissen« ( docta ignorantia), worin seine Mystik bestand. Sein berühmtes Buch » de docta ignorantia« hatte er freilich schon 1440 herausgegeben; aber erst in seinen letzten Lebensjahren erhob sich seine Lehre zu der Einsicht, daß (wie ich es glaube ausdrücken zu dürfen) das höchste geistige Glück in einer immer beutelosen Jagd nach der Weisheit bestehe. Für den Lebenslauf des Cusaners ist die Vorbemerkung nicht überflüssig, daß er ein Zeitgenosse derjenigen Päpste war, die einen religiösen Verfall des Papsttums bezeichnten und den tiefsten sittlichen Verfall vorbereiteten. Geldgier war an die Stelle der Machtgier getreten; innerhalb der katholischen Kirche schrien die eingerissenen Mißbräuche nach einer Reform und die besten Bischöfe forderten Unterordnung des Papstes unter das Konzil; der Cusaner verteidigte bis kurz vor seinem Tode den päpstlichen Absolutismus.

Er war der Sohn eines ziemlich begüterten Fischers und Winzers, fühlte sehr früh seine Anlage zu höheren Dingen und brannte seinem Vater durch, um studieren zu können. In den Niederlanden, in der Schule der »Brüder vom gemeinsamen Leben«, wo auch der Schwärmer Thomas a Kempis und der Zweifler Erasmus die Grundlagen ihrer Bildung empfangen hatten oder empfangen sollten, erhielt er seine erste Ausbildung. In Italien studierte er das kanonische Recht und nahm später, als ihm das Prozeßführen verleidet worden war, die geistlichen Weihen. Zur Teilnahme an dem Reformkonzil von Basel (1431-1443) berufen, schien er zuerst einen Kompromiß zwischen Kaisermacht und Papstmacht gutzuheißen, in seinem ersten Buche » de concordantia catholica«, stellte sich aber später entschieden auf seiten der Minderheit, die dem herrschenden Papste ergeben war und, nachdem Frankreich seine Sonderrechte durchgesetzt hatte, wenigstens in Deutschland die mittelalterliche Obmacht des Papstes aufrechterhalten wollte. Persönliche Beziehungen zu dem Legaten mögen den Ausschlag gegeben haben. Das Konzil wurde nach Italien verlegt, amtlich, während die rebellische Mehrheit in Basel verblieb und dort einen Gegenpapst aufstellte. Von Italien aus ging der Cusaner mit einer Gesandtschaft nach Konstantinopel, um wegen einer Vereinigung der abendländischen und der morgenländischen Kirche zu verhandeln; die Mühe war ergebnislos, aber der Cusaner brachte aus dem Orient den Gedanken mit, den er für eine Erleuchtung und für eine Lösung aller theologischen Rätsel hielt. Gott ist die Einheit der Gegensätze, ist unendlich groß und zugleich im unendlich Kleinen. Der Cusaner kehrte nach Deutschland zurück, in das Kloster der Eiffel, dessen Probst er geworden war, und verfaßte dort sein Buch vom abgründigen Wissen des Nichtwissens.

Auf deutschen Reichstagen stritt er, als ein Dauerredner, doch auch als Diplomat, gegen die Mehrheit des Konzils, für die absolute Macht des alten Papstes. Es gelang ihm, die undeutschen Kurfürsten zu sich hinüberzuziehen. Während er aber so politische Erfolge errang, die ihm selbst und einer Partei nützlich waren, welche mit durch solche Erfolge zu der orthodoxen Partei wurde, verfolgte er als Denker und Schriftsteller weiter einen Weg, der nicht minder ketzerisch war als der des Meisters Eckhart. Der war nicht von der Mathematik ausgegangen, hatte aber doch schon die Unerkennbarkeit des unendlich großen Gottes gelehrt und die teilweise Erkennbarkeit des Gottes im ganz Kleinen. Kein Lehrer von Paris könne begreifen, was Gott in einer Mücke sei. »Ich werfe mich in das Nichts der bloßen Gottheit; da sinke ich ewig vom Nicht zum Icht, daß ich mit dem Nicht zum Icht werde.« Da haben wir schon den gottseligen Pantheismus, den der Cusaner jetzt immer träumerischer vertrat, als ob er nicht in der Wirklichkeitswelt ein Agent der orthodoxen Papstkirche gewesen wäre. Ich habe nicht zu untersuchen, unter welchen Einflüssen der Cusaner zu seinem Pantheismus gelangte, denn diese katholische Mystik steht nur in fernem Zusammenhange mit der Geschichte der Gottlosigkeit; ob der Cusaner seine Mystik dem Meister Eckhart allein verdankte, ob er (wie wahrscheinlich ist) die eben geschriebene natürliche Theologie des Raymund von Sabunde Der » liber naturae« wurde 1436 vollendet; er ist seitdem von Protestanten und Mystikern für einen Vorläufer ihrer Lehren erklärt worden, mit Unrecht. Wir dürfen uns durch den Umstand nicht irreführen lassen, daß ein so überlegener Geist wie Montaigne das Buch (für seinen Vater) ins Französische übersetzte und dem Verfasser ein langes Kapitel in seinen Essays widmete. R. v. Sabunde war nur unklarer, aber durchaus nicht freier als andre kirchliche Schriftsteller der Zeit. Ähnlich steht es um den weniger oft genannten Bradwardinus: die Vernunft wird freundlich behandelt, solange sie sich nicht über den Glauben erheben will. gelesen hatte, ob er endlich die Spekulationen über das Größte und Kleinste dem Engländer Bradwardinus (oder wie dieser sich sonst geschrieben haben mag) verdankte, das kommt für mich nicht in Betracht. Genug daran, der bereits zum Kardinalat bestimmte oder heimlich ernannte Mann, der bei Gelegenheit seiner Agentenreisen ungeheure Ablaßgelder gesammelt hatte, war in den Schriften dieser Zeit ein ausgesprochener Gegner der offiziellen Theologie, die nicht nur das Dasein Gottes, sondern auch die Wahrheit der katholischen Dogmen aus der Vernunft zu beweisen hatte. Der Cusaner aber weiß nur von einem unbekannten Gotte, dem man sich allein etwa durch Erkenntnis seiner kleinsten Geschöpfe langsam zu nähern vermag.

Ein anderer Widerspruch zwischen dem Agenten des Papstes und dem freien Schriftsteller. Die Türkengefahr ist für das Abendland drohender geworden als je; Konstantinopel ist von den Türken erobert. Da predigt der Cusaner auf dem Reichstage von Regensburg im Sinne eines Panchristianismus den Türkenkrieg; zu gleicher Zeit schreibt er aber ein Buch » de pace sive concordantia fidei«, ein Religionsgespräch, worin zwar nicht wie in früheren und späteren Religionsgesprächen das Christentum versteckt oder offen preisgegeben wird, worin die Fabel von den drei Ringen nicht anklingt, worin aber doch nicht mehr und nicht weniger gepriesen wird als eine Einigung aller Konfessionen der Erde; Christen aller Bekenntnisse, Juden, Türken, Perser, Indier und Tartaren kommen zu Worte und einigen sich mit Jesus, Petrus und Paulus auf den eigentlich schon deistischen Satz, daß es einen Gott gebe und es auf die Form des Gottesdienstes nicht ankomme; zu den verschiedenen Völkern habe Gott verschiedene Propheten gesandt. Lasse man nur den Juden ihre Beschneidung, den Heiden ihre Götterbilder und so jedem Volke seine Gewohnheiten, so könne man sich über die Anbetung des einen Gottes friedlich vertragen. Der Cusaner ist Katholik und Kardinal genug, um in seine Schrift Versuche einzuschmuggeln, die Geheimnisse der Dreieinigkeit und der Menschwerdung auch bei Türken und Heiden zu entdecken; doch das Wesentliche des merkwürdigen Buches ist der Aufschrei: wir kommen ohne gegenseitige Duldung und Achtung aus der Religionsfeindschaft und den Religionskriegen nicht heraus. Der Cusaner hatte von den Hussitenkriegen, der Eroberung von Konstantinopel und dem Versagen einer Versöhnung zwischen der abendländischen und der morgenländischen Kirche mehr gelernt als Papst und Kaiser.

Inzwischen ist er Bischof von Brixen geworden und beginnt da, weil er sich als ein Kardinal und bald als ein Freund des neuen Papstes mehr dünkt als ein einfacher Bischof, einen Kampf mit seinem Landesherrn, einen Kampf um die Vormacht der Kirche. Unbekümmert darum, daß er aus seinem Bistum vertrieben wurde, nimmt er seine geschäftige Wirksamkeit und seine schriftstellerische Tätigkeit wieder auf. Ich wurde bei einem mühevollen Studium der Schriften aus seinen letzten zehn Jahren den Eindruck nicht los, daß er in seiner Philosophie immer spielerischer wurde, während er als Kirchenfürst immer tapferer eine große Reform der Kirche, an Haupt und Gliedern, forderte und so für die Gedanken des Basler Konzils eintrat, die er zwanzig Jahre vorher verraten hatte. Ganz spielerisch ist sicherlich das von ihm erfundene Kugelspiel trotz aller abgründigen mathematischen Allegorien, spielerisch scheint mir aber auch der » Dialogus de possest«, Das barbarische Wort ist eine Zusammensetzung von » posse« und » esse«; es ist unübersehbar; wir kommen dem Sinne am nächsten, wenn wir uns ein Substantiv denken, in welchem die Begriffe der Möglichkeit und der Wirklichkeit vereinigt sind. der für die Sprachkritik nicht ernsthafter wird, wenn wir den Gedankengang in der Sprache Hegels auszudrücken suchen: Gott ist das Wirkliche an sich und das Mögliche an sich, faßbar also erst in der Synthese von Wirklichkeit und Möglichkeit. (In seinen letzten Schriften hat der Cusaner den Dreischritt des Denkens noch weiter entwickelt: es gibt eine Weisheit an sich, die uns unerkennbare Weisheit der Möglichkeit, es gibt eine Weisheit der Wirklichkeit, die aber nur ein Abglanz der Wirklichkeit ist; es gibt aber auch einen Abglanz des Abglanzes, die dritte Stufe der Weisheit, die Lehre vom Wirklichwerdenkönnen. Auf dieser Stufe hat der Cusaner sein tiefstes Wort geprägt, das überraschend an das Tat-twam-asi der Inder erinnert: Gott ist das Non-aliud. Du oder ich sind Gott.) Spielerisch scheint mir auch, mit seinem großen Gedanken von der friedlichen Vereinigung aller Bekenntnisse der Erde verglichen, sein breites Buch von der Siebung des Korans (» de cribratione Alchorani«); es konnte die Türken nicht überzeugen und die Christen kaum fördern, wenn da die christlichen Wahrheiten mit mehr Sophistik als historischem Sinn aus dem Koran bewiesen wurden.

Der Cusaner starb, ohne in sein Bistum zurückkehren zu können; er war sogar vom Herzoge Sigismund von Österreich einige Zeit gefangen gehalten worden. Der Herzog hatte es nicht geduldet, daß der Cusaner, in seiner Studierstube ein pantheistischer Mystiker, also ein Ketzer, als Kardinal ein Verkünder von Reformideen, als der einfache Bischof von Brixen kirchliche Realpolitik trieb und womöglich das ganze Land Tirol seiner geistlichen Herrschaft unterwerfen wollte.

Wenn ich den Cusaner trotz seines Schwankens zwischen einem unerkennbaren Gotte und einem robusten Kirchenglauben in dieser Geschichte der Aufklärung nicht übergehen zu dürfen glaubte, so möchte ich mich vorerst darauf berufen, daß sein verwegenster Schüler, Bruno, ihn einen göttlichen Mann genannt hat; wir können genau verfolgen, wie die mathematischen Träumereien des Cusaners durch die neue Astronomie des Kopernikus abgelöst wurden und damit auch der katholische Pantheismus durch den unchristlichen Pantheismus Brunos, wie dann die neue Psychologie Lockes hinzutrat und Toland über dem unchristlichen Pantheismus Brunos zuletzt seinen atheistischen Pantheismus aufbaute. Aber auch eine eigentliche Schule hat der Cusaner als sein Erbe hinterlassen; Faber Stapulensis (Jaques le Fèvre d'Etaples), der die Werke des Cusaners zuerst herausgab, wirkte als sein Schüler weiter und hatte in Bovillus (Charles Bouillé) wieder einen Schüler, der die Unerkennbarkeit Gottes lehrte. Von Faber Stapulensis führen dann andere Fäden zu Agrippa von Nettesheim, dem Scharlatan in der Mystik, der der Welt dann das Rätsel seines großen Lachens und seiner wilden Skepsis aufgab.

Der Cusaner hatte seine erste Ausbildung – wie erwähnt – zu Deventer erhalten, in dem Mutterhause der Brüder des gemeinsamen Lebens. Es wäre immerhin von Bedeutung, wenn eine Nachwirkung dieser Jugendeindrücke bei dem Kardinal nachzuweisen wäre; ich glaube aber nicht, daß man da über einige allgemeine Züge hinausgehen darf, die überdies zugleich Züge des ausgehenden Mittelalters waren. Die Begründer der Brüderschaft und der »modernen Frömmigkeit« waren Gegner der Scholastik und der Mönche und waren einer ernsten kirchlichen Freiheit und einer beschaulichen Mystik zugetan. Sie sahen schon in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts so klar die Mißbräuche der römischen Kirche, erkannten den Gegensatz zwischen der gewordenen christlichen Lehre und der ursprünglichen Lehre Jesu Christi, sehnten sich darum nach einer Art von Urchristentum und beriefen sich unmittelbar auf die Heilige Schrift, die sie bereits in den Volkssprachen lasen und lesen ließen. Die Brüder waren aber nicht kampflustig und stellten darum den alten Dogmen keine neuen gegenüber; es wird schon dabei bleiben müssen, was Ritschl bemerkt hat, daß die Brüder des gemeinsamen Lebens Vorgänger der Pietisten waren. Ihre überaus zahlreichen Niederlassungen (in den Niederlanden und in Deutschland) bildeten ein bewußtes Gegenstück gegen die Mönchsorden, doch auch da enthielten sich die Brüder jedes Angriffs; sie begnügten sich damit, den üppigen und müßigen Mönchen ihren eigenen Wandel entgegenzustellen: vita clerici evangelium populi; in ihrer Gemeinschaft herrschte Armut und Gehorsam, aber in Freiwilligkeit; auf körperliche Sauberkeit und geistigen Schmuck wurde großer Wert gelegt. Dem Humanismus gestatteten sie Zutritt. Als von ganz anderer Seite die Kirche endlich reformiert wurde, da waren viele von den Brüdern stark genug, sich der Bewegung nicht anzuschließen; sie meinten wohl, sie besäßen schon von ihrem Gründer Geert Groote her die innere Frömmigkeit besser und reiner, als Luther sie ihnen brachte; und diese Meinung wird nicht ganz unberechtigt gewesen sein.

Den Grundgedanken dieser »modernen Frömmigkeit« ist der Cusaner sein Leben lang treu geblieben; während er als Politiker den Ansprüchen des Papsttums diente und so persönlich zu genügendem Ansehen gelangte, um vielleicht die Kirche selbst regieren zu können, verlor er die Reform von Geistlichkeit und Mönchsorden niemals aus den Augen. Diese Tätigkeit tritt nur darum in den Hintergrund, weil der Cusaner sich nicht so eng beschränkte wie seine Lehrer zu Deventer, weil er als Kirchenfürst in die großen weltlichen Kämpfe der Zeit hineingezogen wurde und als Denker den Versuch machte, die gesamte Lehre von Gott und dem Menschen und die Erkenntnisphilosophie dazu umzuformen. In diesem großen Rahmen ist Raum genug für manche Ketzerei, für Freigeisterei nur dann, wenn man den Cusaner mit dem Maßstabe derjenigen Scholastik messen will, die der Ausdruck des orthodoxen Katholizismus geworden und geblieben ist. Besonders wenn man ihn mit Thomas von Aquino vergleicht.

Will man also den gottseligen Pantheismus oder besser Panentheismus weitherzig ein Zeichen freien Denkens nennen, so war der Kardinal Nicolaus von Cusa ein wenig Freidenker. Sein Wissen vom Nichtwissen war keine verneinende Skepsis; aber gegenüber der Sicherheit, mit welcher Thomas alle Eigenschaften Gottes und der Engel zu kennen vorgab, war es doch ein bescheidenes Bekenntnis: es gibt kein Erkennen, wenn nicht das Erkennende und das Erkannte in Eins zusammenfließt. Eher könne ein Blinder nach dem Hörensagen den Sonnenglanz beschreiben als ein Sehender; so blind seien die scholastischen Theologen. In der Auffassung Gottes fließe Erkennendes und Erkanntes nur durch die Liebe zusammen. Thomas war wortabergläubisch bis zum äußersten; der Cusaner wußte schon, daß die Einheit, in welcher Erkennendes und Erkanntes zusammenfließen müssen, namenlos ist, ahnte schon, daß die Einheit keine Zahl ist, sondern nur Ursprung und Endziel der Zahlen. Er war kein Nominalist im Sinne Ockams; ihm sind die Allgemeinbegriffe keine bloßen Gedankendinge, denn auch Gott ist ein Allgemeinbegriff; aber für uns Menschen ist Gott nicht durch Sprache erkennbar. Daher des Cusaners oft tiefsinnige, oft verstiegene Versuche, sich der Erkenntnis Gottes durch mathematische Symbole zu nähern. Die bewußte Symbolik, zu der er aus dem Nichtwissen seine Zuflucht sucht, unterscheidet ihn wieder von der Hegelei; der Dreischritt des Könnens (das Wirkenkönnen, das Werdenkönnen, das Gewordenseinkönnen) tritt nicht mit dem Anspruche auf, die Welträtsel zu lösen; die Deutung der Dreieinigkeitslehre ist nicht wie bei Hegel ein Rückschritt in die Kirche hinein, sondern eher ein Fortschritt aus der Kirche heraus; Denken und Wirklichkeit und dazu der Akt dieses Zusammendenkens werden in Eins verbunden, aber nicht im Kopfe des Philosophen, sondern höchstens im Sensorium Gottes. Von Hegel wie von Thomas unterscheidet sich der Cusaner endlich dadurch, daß er eine helle Freude hat an dem farbigen Abglanze der überirdischen Welt, an dem schönen und geschmeidigen Menschenleibe, an der schönen sinnlichen Gottesnatur, die er an Werkeltagen fast wie ein Physiker ansieht.

Erinnern wir uns nun noch einmal daran, daß der Cusaner die Einführung in die glühende germanische Mystik den Brüdern des gemeinsamen Lebens zu danken hatte, daß die Gründung dieser Brüderschaft wahrscheinlich bereits von dem Lehrer des Geert Groote geplant war, dem Doctor ecstaticus Ruysbroek, daß Johannes Ruysbroek jedenfalls ein Jünger, vielleicht ein persönlicher Schüler des Meisters Eckhart war, so ist die Kette geschlossen, die den Cusaner mit dem inbrünstigsten Ketzer des Mittelalters verbindet. Ich werde mich hüten, aus dieser Tatsache weitgehende Schlüsse zu ziehen, werde auch der Versuchung widerstehen, aus den Schriften des Cusaners Stellen herauszureißen und zu sammeln, die ihn allzu deutlich zu einem Genossen der mystischen Ketzerei machen würden; denn am Ende wollte er selbst auf seine Zeit nicht als ein Ketzer wirken. Nur darf nicht verschwiegen werden, daß dieser papable Kirchenfürst Gedanken wälzte, die hundert Jahre später in freieren Köpfen den Weg zu einer gottlosen Mystik bahnten. Zwar die leidenschaftliche Sehnsucht nach einer Vereinigung mit dem Alleinen, nach einer Vergottung des Menschen, ist noch wie bei Eckhart und bei Ruysbroek, gottselige Frömmigkeit; Goethe läßt sie den Pater ecstaticus heiß genug ausströmen: »Ewiger Wonnebrand, glühendes Liebeband, siedender Schmerz der Brust, schäumende Gotteslust.« Aber daß Gott nicht die Weltseele sei wie eine Menschenseele im Individuum, daß das Wesen der Hand in der Menschenseele wirklicher sei als in der Hand, das leitet schon zu einem Panpsychismus hinüber, der kaum mehr einen persönlichen Gott kennt. Daß die Vergottung des Menschen für den Sohn Gottes fast nur noch Liebe übrigläßt, das leitet zum Socinianismus hinüber, wenn auch das Geheimnis der Dreieinigkeit mit immer neuen Deutungen scheinbar orthodox festgehalten wird. Und wenn gar der Cusaner (besonders › de docta ignorantia‹ Kap. III) die Ewigkeit des Sohnes dadurch aufhebt, daß er das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ›überzeitlich‹ nennt, so rüttelt er an einem Dogma aller christlichen Kirchen.


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