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Die Geschichtschreiber der Philosophie haben seit jeher und bis aus die Gegenwart die meisten Denker des Altertums in Philosophenschulen geordnet und diese Schulen mit dem Märtyrer Sokrates in Verbindung gebracht; Sokrates war, eigentlich nur durch seine Persönlichkeit und seinen Tod, zum vorbildlichen Philosophen geworden, die folgenden Philosophen waren oder nannten sich doch seine Freunde und Schüler, und eine gewisse Klassifizierungssucht der gelehrten Menschheit trug das übrige dazu bei, die Orientierung nach Sokrates in der Philosophiegeschichte durchzuführen. In einigen Fragen der Erkenntniskritik und der Moral bestehen in der Tat engere oder weitere Zusammenhänge zwischen Sokrates und den Schulen, die sich auf ihn beriefen. Just in religiösen Fragen aber besteht ein solcher Zusammenhang durchaus nicht; gab es bei den Griechen überhaupt kein Wort Gottes, so hatte der allverehrte Sokrates kein Herrenwort, kein Buch hinterlassen, keinen heiligen Text. Zu den Göttern stellte sich der Kyniker, der Kyrenaiker, der Megariker, der Pyrrhoniker, und wie sie alle hießen, wie er wollte und konnte; es gab über Platon und Aristoteles hinaus eine gewisse Entwicklung in der Metaphysik, nicht in der religiösen Freidenkerei.

 

Kyniker

Den Gottesbegriff der Kyniker aus dem Wust der ebenso witzigen wie unverbürgten Anekdoten herauszuschälen, ist nach der philologischen Arbeit Zellers fast noch schwerer als vorher; einst konnte man sich naiv an den Anekdotenschatz von Diogenes Laertios und ähnliche Arbeiten halten, jetzt sind mit den kleinen auch die großen Züge unsicher geworden. So z. B. ist der Kyniker Diogenes, der mit dem Fasse, mit der Laterne und mit Alexander dem Großen – heute noch vielleicht die populärste Philosophengestalt des Altertums – fast zur Legende geworden; ich glaube nicht zu weit zu gehen, wenn ich sage, daß die hübschesten Anekdoten über ihn von antiken Humoristen nicht anders erfunden und umgeformt worden sind als Wilhelm Busch sie neu gesehen und gezeichnet hat.

Das wichtigste Ergebnis der gründlichen Forschung Zellers dürfte sein, daß auch die Kyniker sich für die echten Jünger des Sokrates ausgaben, für die einzigen wahren Sokratiker; nicht anders, als fast alle deutschen Philosophen seit Kant das Monopol der richtigen Schule Kants für sich in Anspruch nahmen. Die Torheit, mit welcher die Kyniker seit den Kirchenvätern und eigentlich bis auf Brucker als lächerliche und bestialische Menschen behandelt wurden, war schon vor Zeller überwunden; aber Zellers Verdienst ist es, in der kynischen Erkenntnistheorie einen gewissen Nominalismus (der Ideenlehre Platons gegenüber), in der Moral einen merkwürdigen Rigorismus, der die Verachtung aller Scheu vor Menschen aufs äußerste trieb, nachgewiesen zu haben. Uns gehen nur die religiösen Ansichten der Kyniker an.

Da ist es nun bemerkenswert (ich folge natürlich Zeller), daß der Gründer der kynischen Schule, Antisthenes, ebensosehr ein Schüler der anderen Sophisten wie der des einzigen Sokrates war; aber die kynische Aufklärung ist rücksichtsloser als die der anderen Sophisten, weitaus rücksichtsloser als die des milden Sokrates. Die Volksreligion ist diesen Radikalen ein Brauch wie ein anderer Brauch, eine Sitte wie eine andere Sitte; und weil diese Schule sich schamloser oder unverschämter als jede andere Schule – ich möchte mit beiden Worten keinen Tadel verbinden – von jeder Volksmeinung unabhängig gemacht hat, weil alles abgelehnt wird, was nicht die Charakterbildung unterstützt, darum wollen sie nichts wissen von religiösen Bräuchen und von den Volksgöttern, deren Geltung sie schon überraschend modern dem bloßen Herkommen zuschreiben. Der Spott über himmlische Dinge ist viel freier und kecker als selbst in den Briefen der Enzyklopädisten.

Auf die Frage, was im Himmel vorgehe, soll Diogenes geantwortet haben: »Ich war noch nicht oben.« Was dem Volke am heiligsten war an seiner Religion, nämlich nicht die Gebete und Gelübde, sondern die Weissagung und die Wahrsagerei, besonders aber die Mysterien, wurden schon von Antisthenes durch scharf geschliffene Bosheiten dem Gelächter preisgegeben. Tempel waren ihnen nicht heiliger als andere Orte. Demnach waren die Kyniker nach dem griechischen Sprachgebrauche einfach Atheisten; die einzigen Götter des Volkes wurden von ihnen geleugnet. Wenn sie selbst dennoch gelegentlich von einem Gotte sprachen, von dem unvorstellbaren Einen Gotte, wenn sie die griechische Bibel, die homerischen Gedichte nämlich, solange allegorisch umdeuteten, bis eine Tugendlehre herauskam (nach Julian dem Abtrünnigen wollte Krates die Götter lieber durch heilige Tugenden ehren als durch verschwenderische Opfer), so sind wir allzu leicht geneigt, diese und ähnliche griechische Aufklärung für ein Seitenstück zu dem moralischen Deismus des 18. Jahrhunderts zu halten. Ich glaube nicht, daß das richtig wäre. Wir werden noch sehen, wieviele Eigenschaften des alten Judengottes, der christlichen Vorstellung also, selbst in den Schatten des deistischen Gottes sich hineingerettet haben, vor allem der Optimismus und was drum und dran hängt. Die Kyniker hatten an ihrem Gotte nichts dergleichen; man kann fast überall »Tugend« anstatt »Gott« sagen. Sie waren mit der Sache fertig geworden; die sprachkritische Einsicht, daß das Wort der Sache nachgeschickt werden müßte, fehlte ihnen.

 

Diogenes

Fehlte auch noch dem sonst so kritischen Bayle, da er in seinem Artikel »Diogenes« an den Quellen die vorletzte Kritik übt, aber nicht die letzte. Die Unhaltbarkeit fast sprichwörtlich gewordener Überlieferungen wird mit gelehrtem Scharfsinn oft nachgewiesen, aber der Leichtsinn dieser Art von griechischer Geschichtschreiberei, deren Zuverlässigkeit kaum über der unserer Witzblätter steht, wird im ganzen noch nicht durchschaut, wie das später zuerst bei Lewes der Fall ist. Trotzdem ist es richtig und bei diesem strenggeschulten Forscher bemerkenswert, wenn Zeller Bayles Artikel »immer noch lesenswert« findet. Besonders die Anmerkung N, wo die Frage untersucht wird, ob Diogenes ein Atheist oder ein Deist gewesen sei, berührt einen Punkt von psychologischer Wichtigkeit: die Schwierigkeit, hinter Äußerungen des Witzes die nüchterne Meinung eines witzigen Schriftstellers herauszufinden. »Überhaupt sollte man aus den geistreichen Einfällen eines Menschen nicht zu einem Schlusse darüber kommen, ob er innerlich Religion habe oder nicht; denn die Leidenschaft, Witze zu machen ( de dire un bon mot), ist gewöhnlich so mächtig, daß man ihr folgt auf die Gefahr hin, einen Freund zu verlieren oder sich ein Unheil zuzuziehen. Ein Spottvogel, der an Gott glaubt, kann leicht wie ein Gottesverächter reden, ein Atheist ebenso leicht nach der Weise der Frommen.« Das gilt auch für die witzigen Menschen großen Stils, etwa für Voltaire und Heine; das gilt auch für andere bedeutende Menschen von lebhaftem Geiste, die nicht in erster Linie witzig sind, aber doch eine künstlerische Freude an der sprachlichen Formung ihrer Einfälle haben. Deshalb wird in der Folge auch die Ergründung der letzten Meinung so schwer sein, die selbst der weise und sonnenklare Goethe über seinen Gott hegte.

Diogenes erschien schon dem Altertum wie ein verrückt gewordener Sokrates; was an diesem Urteile richtig ist, trifft aber auf alle Kyniker zu, den Stifter der Schule etwa ausgenommen. Sie verachteten die Volkssitte und verachteten den Gottesdienst wirklich nur als einen Teil der Volkssitte. Man erwartete von ihnen, daß sie lauter Dinge taten und sagten, möglichst zugespitzt sagten, die den ehrsamen Bürgersmann entsetzten. Die Götterlästerungen gehörten dazu, traten aber nicht in den Vordergrund.

 

Hipparchia

Wie bei den übrigen Kynikern ist auch bei Hipparchia die Gottlosigkeit selbstverständlich, ohne daß in den Quellen auf ihre ausdrückliche Hervorhebung Wert gelegt würde. Hipparchia wurde nach der Legende auf eine ebenso romantische als unflätige Art die Gattin des buckligen und armen Kynikers Krates; die stärksten Anekdoten über die Hundehochzeit dieses Paares und über einen witzigen Streit zwischen Hipparchia und dem entschiedenen Atheisten Theodoros Eine Anekdote, die natürlich Diogenes Laertios zum besten gibt, bringt den Atheisten Theodoros mit der Atheistin Hipparchia zusammen; die beiden sollen einander am Hofe des makedonischen Königs Lysimachos getroffen haben; der wüste Ton der Unterhaltung gibt uns vielleicht kein richtiges Bild dieses nordischen Hoflebens, verrät uns aber doch, wie man sich in der römischen Kaiserzeit den Verkehr zwischen makedonischen Königen und griechischen Philosophen vorstellte. Der Streit selbst ist zu albern, um eine Nacherzählung zu verdienen; über Hipparchia wartet Diogenes mit ganz anderen Geschichten auf. sind wahrscheinlich ebensolche Fabeln wie die meisten Geschichten, die die spätere Zeit mit offensichtlicher Freude an der Schamlosigkeit von den Kynikern erzählte. Unser Wieland hat aus der Ehe von Krates und Hipparchia einen kleinen Roman geschaffen; wollte ein Naturalist von heute den gleichen Stoff aufgreifen und etwa die Darstellung von Diogenes Laertios wörtlich benützen, so würde er in Frankreich für einen Vergröberer Zolas erklärt und in Deutschland zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden. In einer Geschichte philosophischer Anschauungen sind diese Histörchen nicht zu verwenden, weil ihre Herkunft kaum zu entwirren ist; höchstens für den griechischen Geschmack in der Zeit ihrer Entstehung wären sie etwa bezeichnend. Schon der alte Jakob Brucker hat in seinen Philosophiegeschichten starke Zweifel an der Wahrheit dieser »Sauhistorien« ausgesprochen; merkwürdig genug, daß der so viel kritischere Zeller die schlimmsten Schamlosigkeiten für möglich hält und sie aus den Grundanschauungen der Kyniker zu erklären sucht.

Wieland nun kannte den gelehrten Brucker sehr gut; man braucht nicht erst die persönliche Beziehung herzustellen, daß Wielands Frau eine Nichte Bruckers war. Als er seinen Roman »Krates und Hipparchia« schrieb (1804), hatte dieser wahrlich nicht größte, aber liebenswürdigste unter unseren »Klassikern« längst nicht nur die Periode seiner Frömmelei, sondern auch die seiner koketten Frivolität hinter sich; in der Zeit seiner »Komischen Erzählungen« hätte er es sich schwerlich entgehen lassen, auf die Sauhistorien in seiner kitzelnden Weise wenigstens anzuspielen. Der fast siebzigjährige Dichter unseres »Romans in Briefen« verzichtet auf solche Dinge, und seine Darstellung ist dadurch nicht eben kurzweiliger geworden. Die genaue Kenntnis des griechischen Altertums verhindert Wieland nicht, das Kostüm der Sprache gröblich zu verletzen; auch werden die Kyniker (Diogenes gehört zu den Korrespondenten) so idealisiert, daß von ihren charakteristischen Zügen so gut wie nichts übrig bleibt; sogar ehrbar fromm ist Krates in seinem Briefe an Diogenes. Nur wer die Geschichte der Frauenemanzipation zu schreiben unternähme, dürfte an der altmodischen Geschichte Wielands nicht vorübergehen; das Verständnis der kynischen Schule hat sie nicht gefördert.

 

Stilpon

Gerade die Frechheiten der Kyniker wurden von den Behörden nicht verfolgt; vielleicht erfreuten sich diese Männer und Frauen des späteren Vorrechts der Narren, der öffentlichen Meinung ungestraft ins Gesicht schlagen zu können, vielleicht war just die Zeit ihres Auftretens besonders duldsam. Wenn nun Stilpon, der Atheist aus einer Nachbarschule, der der sogenannten Megariker, in einen Strafprozeß verwickelt wurde, so mag das daran gelegen haben, daß diese Gruppe von streitsüchtigen Menschen vielfach an die Sophisten erinnerte, gegen die seit Aristophanes und noch mehr seit Platon das Vorurteil bestand, sie wären Sittenverderber.

Für den Ton bei Anklagen auf Atheismus, für die griechischen Prozeßformen also, ist der Fall des Stilpon auch dann noch bezeichnend, wenn wir einige der witzigen Antworten für später hinzuerfundene Anekdoten halten; der Hauptpunkt der Anklage klingt ebenso echt wie die wunderliche Ausrede. Ich schicke die üblichen Bemerkungen über die Stellung Stilpons zu seiner »Schule« gar nicht erst voraus; man hat ihn (gewiß mit Recht) hauptsächlich zu der megarischen, in seiner Ethik zu der kynischen Schule gerechnet, so daß er einer der Vorläufer der Stoiker wäre; wir sind aber durch die Quellen über die sogenannten Megariker so unvollständig, über die Kyniker so irreführend unterrichtet, daß bei diesen Untersuchungen nicht einmal für die Systematiker viel herauskommen kann; auch scheint es mir niemals ein Lob für einen Philosophen zu bedeuten, wenn man ihn einer »Schule« zurechnet, wenn auch einst die »megarische Schule« etwas Selbständigeres bedeutet haben mag, als heute etwa die »Marburger Schule«. Von Stilpon wird also berichtet, er habe ziemlich freimütig das Dasein der Götter geleugnet; er habe nämlich auf eine recht verfängliche Frage des Krates geantwortet: darüber spreche man nicht auf der Straße, sondern unter vier Augen. (Genau die gleiche Antwort wird von Cicero dem Oberpriester Cotta in den Mund gelegt.) Weder wegen dieses Spottes noch wegen einer unziemlichen Bemerkung über die Vorschriften, die dem Betreten des Tempels der Göttermutter galten, erlitt er eine Verfolgung. Zu der kam es erst, als er einmal die (auch vom Standpunkte der Orthodoxie für uns völlig untadelige) Bemerkung machte, die Pallas Athene des Pheidias wäre kein Gott; es ist mir allerdings fraglich, ob geistliche Richter des Mittelalters die Äußerung geduldet hätten, ein Kruzifix wäre kein Gott. Auch das kecke Wort von Stilpon nahm auf seiner Wanderschaft christliche Form an. Ich glaube sie wenigstens wieder zu erkennen in dem Spaße, den Jörg Wickram in seinem »Rollwagen-Büchlein« erzählt (abgedruckt in der von Doktor Owlglaß veranstalteten Sammlung »Alte Deutsche Schwänke«, S. 328). Ein guter Gesell erregt die Entrüstung der Wallfahrer zu Einsiedeln durch die Behauptung, er sei nicht nur der Bruder der Maria von Einsiedeln, sondern auch der Bruder des Teufels von Konstanz und Gottvaters von Schaffhausen. Vor Gericht erklärt er, sein Vater sei Bildhauer gewesen und habe ihn ebenso gemacht wie die drei Statuen. »Darum sind wir Geschwister. Also lachten sie alle und ließen ihn ledig.« Jedenfalls glaubte sich Stilpon mit der Ausrede helfen zu können, die ein treffliches Beispiel ist für die forensischen Wortspaltereien der Griechen: Pallas Athene wäre kein Gott, sondern eine Göttin. Es half nichts, Stilpon wurde wegen Unehrerbietigkeit gegen die Götterstatue mit Verbannung gestraft. Beim Verlassen des Gerichtshofes, es war der Areopag, soll der Atheist Theodoros die unanständige Frage gestellt haben, woher er das Geschlecht der Pallas bestimmen könnte? Ob er ihr unter den Rock gesehen hätte? Für unsere prüde Zeit wirklich höchst unanständig; aber der überaus fromme Aristophanes durfte noch weit unflätiger sein, ohne das religiöse Gefühl der Griechen zu verletzen.

 

Nominalismus

Wichtiger als die Erinnerung an solche Geschichten wäre vielleicht der Versuch, zwischen der Gottlosigkeit des Stilpon und seiner (und anderer Kyniker) Neigung zu einem gewissen Nominalismus eine Verbindung herzustellen; die Aufgabe ist in diesem Falle von Zeller nicht gesehen worden, wohl aber bereits von Bayle, der aber dem Nominalismus feindlich ist wie dem Spinozismus und wirklich schon die Besorgnis ausspricht, solche nominalistischen Kindereien könnten einen verschrobenen Geist zum Spinozismus führen. Die Sache ist darum so schwierig, weil man oft nicht bestimmt sagen kann, ob die Griechen (wie ebenfalls Bayle schon bemerkt hat) klare Einsichten darlegen wollten oder ob sie da nur mit den Sprachformen spielten, wohlgemerkt: mit den ihnen allein bekannten Formen der griechischen Muttersprache. Daher hier wie sonst auch die Ungewißheit, ob wir es mit Ernst oder Scherz zu tun haben. Jedenfalls ist Plutarchos im Unrecht, wenn er die nominalistischen Schlüsse (meinetwegen Klopffechtereien) des Stilpon für Scherze erklärt; denn immerhin ist der Satz des Stilpon und des Anthisthenes, daß kein Begriff irgendeinem Subjektsbegriffe als Prädikat beigelegt werden könne, schon eine radikale Vorahnung einer Sprachkritik, und Bayle hat aus diesem fast extremen Nominalismus (seine Sätze sind ganz logisch und konsequent) die Folgerung gezogen: dann wäre das Menschengeschlecht genötigt ou à se taire ou à parler ridiculement. Die metaphysischen Grundlagen des Nominalismus sind im Altertum fast noch schwächer und unzuverlässiger als nachher im späteren Mittelalter; aber die nahe psychologische Verbindung da und dort zwischen Nominalismus (oder Sprachkritik) und Atheismus hätte schon längst dazu führen müssen, was ich behaupte: daß die ganze Frage nach dem Gottesbegriffe eine Frage der Wortgeschichte ist, eine historische Frage, und daß die Kritik der Sprache allein die Antwort finden kann.

 

Theodoros

Mit solchen Grübeleien gaben sich die Megariker nicht ab; noch weniger die sogenannten Kyrenaiker, die Prediger einer recht unmetaphysischen Lustlehre. Zur Erklärung der Tatsache, daß diese Lustanpreiser sich in gleicher Weise wie die Lustverächter auf Sokrates berufen konnten, hat man an die rechte und an die linke Partei der Hegelianer erinnert, an die Orthodoxen und an die Aufklärer; die Vergleichung war überflüssig oder falsch, weil die Begriffe »Tugend« und »höchstes Gut« für die Griechen noch gar nicht religiös gefärbt waren, der Grieche noch das Recht hatte, sich die Tugend sehr vergnüglich, das höchste Gut durchaus diesseitig vorzustellen. Auch hat nur ein einziger Lehrer dieser Schule den Spitznamen der »Atheist« erhalten und schleppt ihn so durch die Philosophiegeschichte; bei ihm schien freilich der Beiname ratsam, um ihn von ungefähr zwanzig Philosophen und Gelehrten gleichen Namens zu unterscheiden; aber auch sonst wäre zu beachten, daß die Griechen einen Mann, den sie Atheos nannten, dadurch nicht beschimpfen wollten, sondern nur eine Tatsache feststellen. Er war nach unkontrollierbaren Angaben ein Schüler des jüngeren Aristippos, des Enkels und Enkelschülers des älteren, soll aber auch den Unterricht der beiden großen Schulbegründer Zenon und Pyrrhon genossen haben; wenn anders diesen Nachrichten nicht bloß die Bemerkung zugrunde liegt, daß Theodoros in manchen Fragen von seinem Lehrer Aristippos abwich und den Stoikern wie den Skeptikern mancherlei entnahm. Er muß um das Jahr 300 »geblüht« haben und galt eine Zeitlang für das Haupt einer philosophischen Sekte.

Ich möchte gleich hervorheben, daß Theodoros nicht um seiner erstaunlich unmoralischen Moral willen zu den Atheisten gerechnet wurde; solche Duckmäuser waren die Griechen nicht, wie ihnen denn Aristippos trotz seiner Lustlehre kein Atheist war; die vertrug sich gar gut mit dem Charakter der griechischen Götter. Theodoros scheint allerdings seine Sätze in die verwegenste und rücksichtsloseste Form gefaßt zu haben; aber Unsittlichkeit, d. h. Abfall von der allgemeinen Sitte hieß im Altertum niemals Gottlosigkeit. Übrigens sind die Zeugen für die erschrecklichen Lehrsätze des Theodoros durchaus unzuverlässig, natürlich auch der Hauptzeuge Diogenes Laertios. Es wird aber schon etwas daran sein, daß er Traurigkeit als das Ziel der Narren und als böse hinstellte, Freude als das Ziel der Klugen und als gut, daß er die Freundschaft verachtete (wie das Neue Testament es tat), daß er Aufopferung fürs Vaterland albern fand, daß er (lange vor Shakespeare und Spinoza) die Relativität tugendhafter und lasterhafter Handlungen behauptete: der Erfolg entscheide über das Werturteil, an sich sei keine Tat lobenswert oder tadelnswert, unter Umständen sei Diebstahl, Unzucht jeder Art, auch Kirchenraub gestattet. Es braucht nicht erst durch Quellenkritik wahrscheinlich gemacht zu werden, es liegt vielmehr ganz in der Gewohnheit der griechischen Anekdotensammler, die sich Geschichtschreiber der Philosophie nannten, daß aus der Lehre der Relativität von Tugend und Laster sehr bald eine Empfehlung des Lasters wurde.

Ob Theodoros wirklich vor dem höchsten Gerichtshofe Athens als Angeklagter erschien und nur durch die Fürsprache von Demetrios Phalereus (geb. um 345, gest. um 285) gerettet wurde, ob er dann am Hofe des ägyptischen Königs Ptolemaios, des Sohnes des Lagos, eine ansehnliche Rolle spielte, ob er zuletzt doch den Giftbecher trinken mußte, wird für immer ungewiß bleiben; die Geschichte der Philosophie hat sich nicht viel mit dem Atheisten beschäftigt. Christlichkeit der neueren Gelehrten hat sie vielleicht geneigt gemacht, die Vermutung zu übertreiben, daß Theodoros nur die Vielgötterei seines Landes, nicht aber die Gottheit überhaupt geleugnet habe. Es kommt da in Betracht, daß das Moralpredigen genau genommen in allen Philosophenschulen und in allen Religionen auf einen und denselben Grundsatz zurückzugehen pflegt: die bestehende Sitte heißt Moral und diese Moral muß erhalten werden dem Volke, wenn nicht eine neue Sitte aufkommen soll. Stoiker und Epikureer im Altertum, christliche Theologen und pantheistische Monisten in der Gegenwart wetteifern miteinander, die hergebrachte Tugendlehre zu empfehlen und sich selbst als Hüter der alten Sitte aufzuspielen. Kleine Unterschiede ändern an diesem Tatbestande nichts; und ob man das jenseitige oder das diesseitige Heil zur Empfehlung der Tugend bemüht, das ist für das Beweisverfahren wichtiger als für das Ergebnis. Die Theologen, die Moral um des Seelenheils willen predigten, haben sich über die sogenannte Lustlehre des älteren Aristippos entsetzt; ob man aber die Lust als die Empfindung des Augenblicks verstand oder als die Gesamtstimmung des Lebens, ob man die Lust mehr objektiv oder mehr subjektiv bewertete, immer predigte man, auch mit der Lustlehre, ein höchstes Gut, eine Tugend, ein Ideal. Und weil die christlichen Gelehrten es sich nicht vorstellen konnten, daß ein Gottesleugner ein Tugendlehrer sein könnte, weil sie übrigens unhistorisch waren und den alten griechischen Denkern gern christliche Gesinnungen unterschoben, darum waren sie immer geneigt, bei den alten Atheisten die Leugnung der falschen Götzen und eine ahnungsvolle Anerkennung des eigenen, also des wahren Gottes vorauszusetzen. Immer ist ja Aberglaube der Glaube der anderen.

Nun war aber Theodoros offenbar in seiner Sprache so rücksichtslos, daß er seinen Beinamen wohl verdient haben wird. Nur daß er natürlich bloß den Gott oder die Götter leugnen konnte, die es zu seiner Zeit in der Sprache oder dem Denken seines Volkes gab; nur daß er begreiflicherweise nicht den christlichen oder den deistischen Gott leugnen konnte, der fünfhundert oder zweitausend Jahre später in einer neuen Sprache oder in einem neuen Denken aufkam.

 

Euemeros

Die alten Schriftsteller erzählen, daß Theodoros der Atheist eine Schule begründet habe; mit viel größerem Rechte könnte man das von einem Manne behaupten, der als jüngerer Zeitgenosse ein Schüler des Theodoros gewesen sein konnte, und nach einer verzwickten Vermutung Nietzsches wirklich sein Schüler war. Dieser Mann hieß Euemeros und sein platter Rationalismus hat eine ungeheure Nachwirkung gehabt; unter dem Namen des Euhemerismus ist diese Lehre bis auf unsere Zeit gekommen und ist jedesmal zu einer billigen Mode geworden, wenn oberflächliche Aufklärung ohne geschichtliches Wissen und ohne ernsthafte Kritik die Gestalten des Glaubens vermenschlichen wollte. Euhemerismus war der Versuch, die griechischen Legenden zu retten, den (nach dem Kirchenvater Eusebius) der sagenhafte Sanchuniathon anstellte; Euhemerismus war aber auch noch Renans »Leben Jesu«, das in meiner Jugend alle aufgeklärten Leser so überaus erfreute. Jesus wurde da zu einem ausgezeichneten, vorbildlichen Menschen gemacht; und genau genommen verbirgt sich hinter dem »Leben Jesu« von Strauß der gleiche Euhemerismus, nur daß er da mit unvergleichlicher deutscher Gründlichkeit durchgeführt ist. Euemeros scheint in einem der ältesten Reiseromane die Hypothese aufgestellt zu haben, die Wesen, die man als Götter oder Halbgötter verehre, seien nur durch Kraft oder Tüchtigkeit hervorragende Menschen gewesen; wobei er es dahingestellt sein ließ, ob die Sonne nicht doch eine Gottheit wäre. Nun möchte ich da wieder auf den Unterschied zwischen antiker und moderner Aufklärung hinweisen: wenn Renan seinen Jesus einen guten Mann sein läßt, einen edeln und einen weisen Mann dazu, so ist er ein Gottesleugner für jeden, der in Jesus Christus einen Gott sieht; wenn Euemeros die Götter in Heroen umwandelt, so wird dadurch an der griechischen Religion kaum etwas Wesentliches geändert, ja einer ungläubigen Zeit wird die Möglichkeit wiedergegeben, weiterhin einem so erhabenen Wesen Altäre zu bauen und Opfer zu bringen.

 

Hegesias

Der Anhängergruppe des Lustlehrers Aristippos gehört auch irgendwie Hegesias an, der wie so viele Philosophen des Altertums zur Bequemlichkeit der Philosophiegeschichte durch ein einziges Wort charakterisiert zu werden pflegt; man nannte ihn den Todesprediger. Was von ihm erhalten ist, erinnert durch die Hervorhebung des menschlichen Egoismus an die Aphorismen Larochefoucaulds, durch die Darstellung des Menschenelends an die populärsten Kapitel von Schopenhauer. Man achte wieder darauf, daß nur schlechte Christen den Egoismus als einzige Triebfeder erkannten, daß moderne Pessimisten immer des Atheismus verdächtig waren, daß aber ein Grieche, der die Lust für das höchste Gut hielt, der dieses Gut im Leben nicht fand und darum den Tod anpries, wahrscheinlich ein Eigenbrödler war unter seinen theoretisch pessimistischen und praktisch vergnügten Landsleuten, daß er jedoch durch seine Todespredigt die religiösen Vorstellungen seiner Heimat nicht verletzte.

Alle diese Schulen sind zu einer Abkehr vom griechischen Volksglauben auf einem ganz anderen Wege gelangt, als etwa die Männer, die sich seit der Renaissance nach den alten griechischen Philosophen benannten, zu einer Abkehr von der christlichen Religion; alle diese angeblichen Sokratiker befanden sich vielleicht durch ihren Individualismus im Gegensatze zu Platon und Aristoteles, die ein soziales Empfinden besaßen, unterschieden sich aber noch viel schärfer von den Individualisten etwa des 16. Jahrhunderts, die jedesmal – nach der Meinung ihrer Zeitgenossen und oft auch nach ihrem eigenen Gewissen – gegen Gottes Gebot sündigten, wenn sie an der ewigen Wahrheit irgendeiner moralischen Vorschrift zweifelten. War schon die Religion der Alten nicht theologisch, so war die Moral es noch weniger. Die selbstgestellte Aufgabe aller dieser Weisheitslehrer, für welche man den heruntergekommenen Namen Sophisten wieder zu Ehren bringen sollte, war: nicht die Menschen überhaupt, aber doch die eigenen Schüler in einem vernünftigen Lebensgenusse zu unterrichten. Kein priesterlicher Sittenkodex stand im Wege, einen höchsten Lebensgenuß so zu verstehen, daß er sich mit dem Herkommen nicht deckte; die Freude an der geistreichen Formung der bescheidenen Weisheitslehre führte dann ohne eine innere Entwicklung zu den äußersten Behauptungen, zu widersprechenden Idealen. Wer die Götter leugnete, tat es nicht, um – nach christlicher Anschauung – einem Lasterleben frönen zu können; Verächter wie Verehrer des sinnlichen Lebensgenusses konnten sich auf das Beispiel der Götter berufen oder auch zum Abfall vom Götterglauben gelangen.

Und dennoch ist es merkwürdig, daß diejenige Schule, die von der sittlichen oder anthropologischen Lebensweisheit wieder zu dem Versuche einer Naturerklärung zurückkehrte, die dann dem neuzeitlichen Materialismus in seinen Anfängen die ersten Waffen lieferte, bei so großer Freiheit das Dasein der Götter nicht einfach leugnete.


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