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IV

Wir werden, um die innere und äußere Geschichte des Atheismus verstehen zu können, manche Anleihe machen müssen bei der Geschichte des Aberglaubens, der Ketzerei und der Philosophie; und wir werden die Erfahrung machen, daß die Meinungen des Aberglaubens und der Ketzerei einander ebenso oft berühren wie die Meinungen der Ketzerei und der Philosophie, daß darum auch die Kluft zwischen Aberglauben und Philosophie nicht unüberbrückbar ist; überall tönen uns nur arme Menschenworte entgegen, und vor der rücksichtslosen Wortkritik wandelt sich leicht auch Metaphysik wie Physik in Wortaberglauben.

 

Theologie

Die eigentliche Theologie als die vermeintliche Wissenschaft derer, die von dem Wesen und den Eigenschaften Gottes unglaublich viel auszusagen wissen, sollte nach dem ursprünglichen Plane von dieser Darstellung ausgeschlossen werden; wie es aber nicht angeht, eine Geschichte der Heilkunst zu schreiben, ohne sich mit den Verirrungen und den Betrügereien der Zauberer und Scharlatane zu beschäftigen, wie die Alchimie notwendig zu einer Geschichte der Chemie gehört, die Astrologie zu einer Geschichte der Sternenkunde – schon um der lebendigen Menschen willen, die auf diesen Wissensgebieten gearbeitet haben –, so ist für einen Geschichtschreiber des Atheismus der geistige Kampf nicht zu umgehen, der sich nicht unmittelbar gegen das Dasein Gottes richtete, sondern mittelbar gegen theologische Sätze, welche das Dasein des alten Gottes als unzweifelhaft annahmen und darüber hinaus über das Verhältnis zwischen Gott und Welt allerlei zu erzählen wußten: über die Art und Weise der göttlichen Weltregierung oder über die Vorsehung, über die Unabhängigkeit Gottes von den Naturgesetzen oder über die Wunder, über die Gerechtigkeit Gottes, die sich bei der Ungerechtigkeit des Weltlaufs nur in jenseitigen Belohnungen und Strafen äußern konnte, oder die Unsterblichkeit der Seele. Heutzutage noch gibt es Menschen genug, welche an die Vorsehung, an Wunder, an die Unsterblichkeit der Seele nicht glauben und dennoch in dem geheimsten Schreine ihres Herzens einen konfessionslosen, unbekannten Gottschöpfer irgendwie verehren; um so weniger darf es überraschen, wenn wir in den Zeiten der Aufklärung, der Renaissance und des mittelalterlichen Nominalismus (um nur die wichtigsten Perioden der älteren Freidenkerei zu nennen) Männer kennen lernen werden, die einen Zweifel am Dasein oder Wesen Gottes niemals aussprachen, die aber bereits Vorsehung oder Wunder oder Seelenunsterblichkeit leugneten und so das Aufkommen der Gottesleugnung selbst vorbereiteten; vom Wesen Gottes blieb wirklich nichts mehr übrig, wenn man dem Wesen seine Eigenschaften genommen hatte. Die schwierigste und wichtigste Aufgabe wird in jedem Falle der Versuch sein müssen, sich auf den Standpunkt so eines alten Freidenkers zu versetzen, der z. B. die Unsterblichkeit oder die Geister oder die Hexen nicht anerkannte, dennoch aber für einen Gottgläubigen gelten wollte. Wir werden ja von unserer Darstellung fast immer die frommen Ketzer auszuschließen haben, die die eine oder andere Meinung der Theologen nicht teilten, an dem Gotte der Offenbarung aber mit um so stärkerer Inbrunst hingen; wir werden bei den eigentlichen Aufklärern oder starken Geistern, die jedoch nur einzelne Eigenschaften Gottes bestritten, nicht aber sein Dasein, sehr genau zusehen müssen, ob sie in dieser schwankenden Haltung – die oft erst uns schwankend erscheint – mehr von der Macht des Zeitgeistes und der Sprache oder mehr von ihrem eingewurzelten Kinderglauben oder gar mehr von der Gefahr beeinflußt wurden, die durch ein Bekenntnis zum Atheismus ihnen drohte.

Es wird also nötig sein, den Begriff des Atheismus auch auf viele dogmenfeindliche Bestrebungen auszudehnen und die Aufmerksamkeit besonders aufs solche Schriftsteller zu lenken, die unter dem Scheine der Ketzerei die rechtgläubige Lehre über Vorsehung, Wunder, Unsterblichkeit und über ähnliche leere Worthülsen bekämpften. Die Aufgabe ist freilich, eine Geschichte der Leugnung Gottes zu entwerfen; der Gott, um den es sich da handelt, bleibt aber immer der Gott des christlichen Abendlandes, der zwar nicht einer und derselbe geblieben ist durch die Jahrhunderte, der aber bis zum Schatten verblassen muß, wenn man ihn seiner Tätigkeiten und seiner Eigenschaften beraubt. So wird in meiner Darstellung der Deismus und die Aufklärung einen breiten Raum einnehmen, obgleich die meisten Vertreter beider Richtungen ängstlich bemüht waren, sich zum Gotte einer Vernunftreligion zu bekennen. Eine Geschichte des Atheismus wäre unvollständig, wenn sie z. B. Voltaire, den Advokaten eines konfessionslosen Gottes, nicht ausführlich behandeln wollte. Unter den Tätigkeiten und Eigenschaften Gottes gibt es aber eine (Tätigkeit oder Eigenschaft? ich wüßte es nicht zu sagen), die bei dem bloßen Glauben an das Dasein Gottes im Abendland fast immer mitgedacht wird: die göttliche Weltregierung, die sogenannte Vorsehung.

 

Vorsehung

Zu den Atheisten wurde also auch gerechnet, vom Standpunkt der christlichen Gottesvorstellung mit vollem Recht, wer nur die Weltregierung durch die göttliche Vorsehung anzweifelte oder leugnete. Bei den Alten standen sich in dieser Frage die Epikureer und die Stoiker schroff gegenüber; aber selbst Epikuros leugnete die Götter nicht ausdrücklich, die freilich bei ihm müßig und überflüssig waren, das fünfte Rad am Weltwagen, und das »Schicksal« der Stoiker war doch etwas ganz anderes als etwa die Vorsehung beim heiligen Thomas. Wo die theistischen oder deistischen Theologen in Gott die erste Ursache und den Schöpfer und Regierer der Welt sahen, daneben aber doch das Bestehen der Naturgesetze, der sogenannten zweiten Ursachen anerkannten, da verwickelten sie sich in unlösbare Widersprüche, am meisten die lutherischen Theologen mit ihrem concursus, einer Mitwirkung von Schöpfer und Geschöpf; der fromme Volksglaube, besonders der der Katholiken, kennt solche Widersprüche nicht, weil er, wenn man ihn zu einer Besinnung darüber zwingen wollte, außer der ersten Ursache keine zweiten Ursachen, d. h. keine unabänderlichen Naturgesetze kennen würde. Nach diesem einfachen Glauben wird die Welt unaufhörlich, im größten wie im kleinsten, von dem wandelbaren oder unwandelbaren Willen Gottes regiert, ohne Rücksicht auf die naturgesetzliche Ursächlichkeit, in jedem Augenblicke durch unzählige Wunder; nicht die poetisch so genannten Wunder der Natur sind damit gemeint, sondern richtige Wunder im kirchlichen Sinne, unmittelbare Wirkungen der ersten Ursache. Die göttliche Vorsehung des abendländischen Volksglaubens, übrigens auch die des Judentums und des Islam, ist nicht die unzerreißbare Kausalkette des naturwissenschaftlichen Denkens, sondern eine unendliche unzusammenhängende Reihe von Wundern. Wer also die Vorsehung leugnet, der leugnet wirklich die Wunder und damit den Gott des gemeinen Volksglaubens. Wie eng die beiden Vorstellungen miteinander verwachsen sind, mag man daraus erkennen, daß der Fromme die Vorsehung personifizieren und anstatt Gott »die Vorsehung« sagen kann. In dichterischer Sprache heute noch »die Vorsicht«.

»Vorsicht« ist natürlich die ältere (schon althochdeutsche), »Vorsehung« die jüngere Lehnübersetzung von providentia ; das griechische Modellwort πςουοια bedeutete mehr das Vorherbemerken, in der Gemeinsprache dann soviel wie menschliche Klugheit. Auch das Vorhersehen war in einem gewissen Umfange nicht der Gottheit vorbehalten; auch der kenntnisreiche Mensch, freilich besonders der von der Gottheit beratene, konnte mancherlei vorhersehen, vorherwissen, vorhersagen ( propheta). Im Deutschen wie im Lateinischen ist aber, sicherlich nicht unabhängig voneinander, zu unterscheiden zwischen praevidentia und providentia, zwischen Vorsehung und Fürsehung, wie man die beiden Worte noch vor hundert Jahren und auch noch einige Jahrzehnte später auseinanderhielt. Prae und pro , vor und für wurden im Sprachgebrauche oft miteinander verwechselt oder doch vermischt, wahrhaftig ebenso oft wie in der älteren Philosophie vorausgehende Ursachen und Endursachen. Worüber nachzudenken wäre. In den Begriff der Vorsehung wurde so, auch nachdem man nicht mehr »Fürsehung« schrieb, der Begriff der Fürsorge gemischt. Buddeus sagt also ungefähr die Wahrheit, wenn er sich vernehmen läßt: unter denjenigen Lehrsätzen, welche mit dem Atheismus eng verbunden seien, habe wohl den vornehmsten Platz die Verleugnung göttlicher Vorsehung inne. »Denn gleichwie ein Atheiste dieselbe nicht zuläßt, also ist ein solcher, der sie leugnet, nicht viel von einem Atheo unterschieden; wenigstens hebet er allen Grund der Religion und Gottesdienst auf.« Auch ist Buddeus dem Skeptiker Bayle gegenüber vollkommen im Rechte, wenn er die in den Artikeln über Origenes, über die Marcioniten, die Manichäer und die Paulicianer hervorgehobenen Schwierigkeiten so deutet, daß Bayles Absicht mehr die Vorsehung zu bekämpfen als den Manichäismus zu unterstützen war. Und Bayle wiederum ist im Rechte gegen Spinoza, der zwar alle Wunder und damit eine wunderbare Vorsehung Gottes entschiedener bestritt als irgend jemand vor ihm, die providentia also durchaus ablehnte, die praevidentia jedoch an einigen Stellen, die leider nicht gut spinozistisch sind, anzunehmen schien; freilich ist Bayles Artikel »Spinoza«, wie wir in anderem Zusammenhange sehen, ein wunderliches Gemisch von erstaunlicher Überlegenheit und ebenso erstaunlichen Vorurteilen.

Die rechtgläubigen Schriftsteller, die zu einem Atheisten machten, wer auch nur die göttliche Vorsehung leugnete, waren demnach in ihrem guten Rechte; wer die wesentlichen Eigenschaften eines Dinges nicht sieht, der kann das Ding nicht sehen, und die Vorsehung – mit dem was drum und dran hängt – gehört zu den wesentlichen Eigenschaften des abendländischen Gottes. Ich wiederhole auch, daß die rechtgläubigen Schriftsteller auch diejenigen zu Atheisten stempelten, die die Wunder nicht anerkannten; ich werde bald zu zeigen haben, daß der kirchliche und der volkstümliche Begriff der Vorsehung mit dem Wunderglauben stehen und fallen muß.

Was aber die Griechen unter einer Erhaltung der Welt, die sie allerdings auch den Göttern zuschrieben, verstanden, das hat wenig zu tun mit der Vorsehung, die die Haare auf dem Kopfe jedes Menschen gezählt hat. Die ältere griechische Philosophie, die Naturwissenschaft sein wollte, staunte über die Regelmäßigkeit der Himmelskörper und nahm einen menschenähnlichen Verstand an, der die Ordnung der Sterne hergestellt hätte; noch bei Aristoteles, bei welchem bereits eine Art Teleologie eine Rolle spielt, erstreckt sich die Aufsicht des ersten Bewegers – wenn er an so etwas wie eine Aufsicht gedacht hat – nicht auf die sublunare Welt; nur daß schon seit Sokrates die Vorstellung aufgekommen war, die Naturvorgänge hätten eine Beziehung zum Nutzen des Menschen. Die Stoiker bemühten den Begriff providentia allerdings sehr gern; aber auch bei ihnen hat das, was doch nur ihr Fatum (είμαϛμενη) ist, mit der christlichen Vorsehung nichts zu schaffen. Seneca hat eine besondere Abhandlung über die providentia geschrieben; und da sieht man deutlich, daß sich seine providentia, sein Fatum ganz gut mit dem vertrug, was heute die Gottlosen die eherne Kette der Notwendigkeit nennen. » Causa pendet ex causa. Cuncta veniunt, non incidunt.« Wie denn die Religion der Stoiker sich ebensogut in christlichen wie in atheistischen Worten ausdrücken ließe. Seneca sah sehr richtig, daß z. B. die Folge der Jahreszeiten nicht um der Menschen willen da ist; Lactantius aber schon legte in die stoische Philosophie die kleine Menschenvorstellung hinein, der Mensch sei die Zweckursache der Welt.

Diese Vorstellung, noch vergröbert durch den Glauben, der Lokalgott habe das kleine Volk Israel zum Zwecke seiner Schöpfung gemacht, lag der altjüdischen Lehre zugrunde. Irgendein naturwissenschaftliches Denken gab es nicht; der Gott regierte die Welt nach seinem Willen oder nach seiner Laune, wie er sie ebenso erschaffen hatte; Fruchtbarkeit und Mißwachs, Landplagen und Glück, Sieg und Niederlage kamen unmittelbar von Gott, der unaufhörlich zu arbeiten hatte, ein angestrengter Zauberer. Es gab gar keinen ordentlichen Zusammenhang der Dinge, also konnte ein außerordentliches Ereignis gar nicht als ein besonderes Wunder angesprochen werden. Eine Schwierigkeit entstand erst, als die Juden die ethische Forderung stellten, ihr Gott müßte die Gerechten belohnen, die Ungerechten bestrafen; dieser Forderung widersprach der Weltlauf. So regten sich bereits in einigen Büchern des Alten Testaments Zweifel an der Gerechtigkeit und an der Güte Gottes, pessimistische Zweifel an dem, was alle späteren Theodizeen unter der Vorsehung verstanden. Erst die Pharisäer scheinen die Gerechtigkeit der göttlichen Vorsehung durch die Annahme jenseitiger Belohnungen und Strafen haben retten zu wollen.

Unter dem Bilde des Vaters stellte sich Jesus seinen Gott vor, wieder einen unermüdlichen Zauberer, der die Blumen des Feldes kleidet, der beim Tode jedes Sperlings mitwirkt und der demnächst sichtbar werden wird, um sein Reich auf der Erde zu errichten. Dem Vater im Himmel ist kein Ding unmöglich; kein Naturgesetz steht der Erhörung des Gebetes entgegen. Daraus entwickelte sich gleich im apostolischen Zeitalter das Vertrauen auf eine Vorsehung, die mit unausdenkbarer Geschäftigkeit die alltäglichen Schritte jedes Menschen leitet, die bedeutungsvollen Schritte hervorragender Menschen erst recht; Paulus macht seinen Reiseplan von dem Willen Gottes abhängig, wie viel später die Pietisten (Spener) jedes Ereignis ihres kleinen Lebens als eine Leistung der allwirksamen Vorsehung zu betrachten lieben. Nur langsam dringen aus Alexandrien naturphilosophische Begriffe in das altchristliche Weltbild ein und bringen Unsicherheit in den Glauben an das behagliche Zauberwesen. Wer sich durch Anerkennung der Naturgesetze oder des Fatums an der naiven Zaubervorsehung irremachen ließ, der schien jetzt die christliche Glaubenslehre zu leugnen; wohl konnte selbst ein Kirchenvater (Hieronymus) die Konsequenz absurd finden, daß Gott sich um Geburt und Tod jeder Mücke kümmere, aber allgemein sah man nicht so genau hin, und ohne dogmatische Definition schien der Vorsehungsglaube eine selbstverständliche Voraussetzung der Lehre. Und eine optimistische Geschichtsauffassung (Augustinus) verließ sich darauf, Gott könnte und würde alles zu seinen guten Zielen lenken: die Weltgeschichte wurde zum Weltgericht. Mit seiner erstaunlichen Sophistik behandelte der heilige Thomas die Vorsehung als ein Element seines Systems. Die Kirche aber hütete sich, einen theologischen Streit über den schwierigen Begriff anzuregen; sie ließ es, auch in ihrem Katechismus, bei dem gemütlichen Volksglauben bewenden, bis die mechanistische Welterklärung der neuesten Zeit sie zwang, auch den Vorsehungsglauben dogmatisch festzulegen. Das geschah erst in einem Syllabus Pius IX. und dann noch strenger im Vaticanum. Verdammt war erst von jetzt ab, wer nicht glaubte, daß Gottes Vorsehung die Welt regierte und auch die künftigen Regungen des freien Menschenwillens voraus wüßte.

Gegenüber dieser einfachen und klugen Haltung Roms macht das Schwanken des Protestantismus einen kläglichen Eindruck. Luther zwar blieb dabei, den Vorsehungsglauben als eine Herzenssache des Christen zu betrachten und ihn nicht philosophisch zu erklären; so ungefähr dachten auch Zwingli und Calvin. Doch die späteren protestantischen Theologen wollten die Vorsehungsfragen (Willensfreiheit, Theodizee) in einem System unterbringen und gerieten bald auf die Abwege einer neuen Scholastik. Sie waren eben Theologen und wußten darum über Gottes Wissen und Wirken mehr, als unsereiner sich träumen läßt. Wie sie die psychologische Tätigkeit Gottes (Vorwissen, Vorsatz und Ausführung), wie sie seine regierende Tätigkeit einteilten, das ist heillose Begriffsspalterei; es gibt da im Walten der Vorsehung ein Ordinarium und ein Extraordinarium, was recht bedenklich an die oft auf Täuschung berechnete Einteilung des Budgets erinnert. Zum Glücke für den Glauben kümmerte sich das Volk nicht viel um solche Ungehörigkeiten; es blieb bei seinem zudringlichen Gottvertrauen und hielt sich an das Kirchenlied von Neumark »Wer nur den lieben Gott läßt walten«. Die Pietisten besonders machten – wie gesagt – den lieben Gott zu einem Mädchen für alles; als Francke mit der Stiftung seines Waisenhauses Erfolg hatte und dies unter ein speziellstes Extraordinarium der Vorsehung buchte, eigentlich doch ganz christlich, wurde das von den Orthodoxen gerügt, die eben mit Gott nicht auf so vertrautem Fuße standen. Und die Rationalisten, die den Pietisten nicht so entgegengesetzt waren, wie man gewöhnlich glaubt, machten den Vorsehungsglauben, wenn auch nicht den ganz plumpen, zu einem Teil ihrer Naturreligion. Nicht nur der in allen Sätteln gerechte Leibniz, auch der in Freiheit tapfere Lessing erblickten eine Annäherung an Gottes Ziele in der Weltgeschichte; Rousseau fühlte das Schicksal als den Willen einer Vorsehung, und selbst Voltaire ließ diese Vorstellung gelten, bis das Erdbeben von Lissabon ihn stark machte, seinen unheimlichen und unwiderstehlichen » Candide« gegen den optimistischen Glauben an eine sittliche Weltregierung zu schreiben.

Insofern der Protestantismus höhere Bibelkritik und die unmetaphysische Philosophie Erkenntniskritik wurde, hätten beide darauf verzichten müssen, den Vorsehungsbegriff zu behandeln, der der Lebenserfahrung widersprach und in logischer Beziehung noch widerspruchsvoller war. Die Aufgabe war jedoch von der Kirche und daher auch von den Staatsbehörden gestellt, und so versuchten sich Theologen und Philosophen eifrig oder schamlos an ihrer Lösung. Die Schultheologie und die Schulphilosophie hielten es nicht unter ihrer Würde, die alten Haarspaltereien wieder aufzunehmen und mit Schlußfiguren sophistisch beweisen zu wollen, was den frommen Christen von jeher schlichte Andacht und kindliche Sehnsucht gewesen war. Anstatt bescheiden zu beschreiben und zu berichten, als eine seelische Erscheinung, wie der gläubige Christ sich durch die Vorstellung einer allweisen und allgütigen Vorsehung in diesem Jammertal von Elend und Sünde zurechtfand, wie er so seine Sehnsucht innerlich erlebte und das Irdische überwand, wollten diese Sophisten ein Dogma, das für sie gar nicht da war, theoretisch demonstrieren, wollten Naturnotwendigkeit, Willensfreiheit und Vorsehung zusammenmischen und die Theodizee gegen den Augenschein aufrecht halten. Sie wollten nicht zugestehen, daß es für keine Wissenschaft eine Theodizee oder eine Vorsehung geben kann, nicht für die Geschichte und nicht einmal für eine logisch anständige Theologie. Auch die Schulphilosophie sank in diesem Wettbewerb auf eine sehr niedrige Stufe hinab. Was bei uns namhafte Philosophieprofessoren, in Frankreich Boutroux (auch Bergson dürfte noch auf diesen Weg gelangen) über die begriffliche Vereinigung von Naturgesetz und Vorsehung mit scheinbarer Freiheit vorgetragen haben, das würde in seiner ganzen Unwürdigkeit kenntlich werden, wollte man die Gedanken nach Gebühr in das scholastische Latein des Mittelalters zurückübersetzen, woher sie geholt sind.

Da war Schleiermacher, der frivole Offiziosus des »christlichen Glaubens«, beinahe noch moderner, da er die Religion als ein Gefühl definierte, als das Gefühl der »schlechthinigen Abhängigkeit«, und so eine Tür sich offen ließ, um vielleicht unter vier Augen erklären zu können, eine Tatsache wäre durch ihre Abhängigkeit von Gott nicht unabhängig vom Naturzusammenhang, d. h. doch wohl: er fände keinen Unterschied zwischen Gott und Natur.

 

Wunder

Die frommen Geschichtschreiber des Atheismus haben nun nicht nur die Leugner der Vorsehung, sondern auch die Leugner der Wunder zu Atheisten gemacht, wieder mit einigem Rechte; aber sie haben die Apologie des Wunderglaubens in einem besonderen Kapitel untergebracht und dabei übersehen, daß jede Äußerung der göttlichen Vorsehung ein Wunder ist, daß also ein besonderes Eingreifen der Vorsehung anzunehmen keine Ursache hat, wer vom Dasein der Wunder überzeugt ist; so oft der alte Zauberer einen Finger rührt, von selbst oder auf ein Gebet hin, tut er Wunder.

Gottfried Keller hat einmal (»Grüner Heinrich« III. S. 19) so ein Wunder den »theatralischen Fall« der allgemein angenommenen Hilfe Gottes genannt; wirklich besteht gar kein begrifflicher Unterschied zwischen dem alltäglichen Walten der Vorsehung, die einem frommen Manne oder einem gläubigen Volke das Leben erleichtert, und den außerordentlichen Fällen, in denen Tote erweckt und Lebensmittel in Rosen verwandelt werden. Und wie die Vorsehung, so entspricht auch das Wunder völlig dem verwissenschaftlichen Weltbilde der alten Juden und der ersten Christen; mit den gleichen Mitteln, mit denen der alte Zauberer die Welt aus Nichts hervorgebracht hat, erhält und regiert er sie auch; die Naturkräfte sind Gesetze seiner Willkür, sind Wunderkräfte. Es läuft fast nur auf einen bequemen Sprachgebrauch hinaus, wenn man die alltäglichen Gaben Gottes unter dem Ordinarium, die seltenen und auffallenden Gunstbezeugungen unter dem Extraordinarium des göttlichen Budgets verrechnet.

Wunderbare, d. h. aller Erfahrung entgegengesetzte und darum unglaubliche Erscheinungen finden sich in der verwissenschaftlichen Zeit überall, im Abendlande wie im Morgenlande, bei Geschichtschreibern, Naturbeobachtern und Theologen. Auf dem Gebiete der Religionen naturgemäß besonders häufig, weil doch die Götter nicht einmal an den mangelhaft genug beobachteten Naturlauf gebunden sind. Selbst die Heilswunder, die der inneren Erfahrung angehören, waren den griechischen Mysterien nicht fremd; und der Volksaberglaube der antiken Welt war voll von überaus tollen Wundergeschichten. Die fabelhaften Überraschungen, von denen die christlichen Heiligenlegenden wimmeln, in solchem Übermaß, daß nicht nur Modernisten eine Säuberung des heute noch üblichen Breviers für nötig halten, fallen uns nur darum so auf, weil die Quellen aus den ungebildeten Kreisen des Altertums nur sickern, die Quellen aber aus dem wissenschaftlich ebenso ungebildeten Mittelalter überreichlich fließen. Das Wunder ist auch des Volksglaubens liebstes Kind. Nun war die katholische Kirche wieder einmal ganz folgerichtig und eigentlich tapfer, da sie dem Volke diese Fabeltiere mit Haut und Haar zu verspeisen gestattete. Die geistigen Führer der Kirche waren um eine Begründung um so weniger verlegen, als ihnen damals noch naturgesetzliches Denken fremd war und es ihnen schon darum aus ein Mehr oder Weniger nicht ankommen konnte. Augustinus half sich mit dem vernünftigen Satze, daß ein Wunder nicht gegen die Natur geschehe, sondern nur gegen die uns bekannte Natur; also – wenn man von dem Unterschiede zwischen dem damaligen und dem heutigen Naturwissen absehen will – mit dem scheinbaren Agnostizismus, der in unseren Tagen die Okkultisten, Spiritisten, Theosophen rüstige Anstalten zu einer neuen Religionsgründung treffen läßt. Der heilige Thomas, der große Systematiker, half sich schon mit gelehrterer Schlauheit. Ein Wunder sei, was von Gott außerhalb der uns bekannten Ursachen, außerhalb der Naturgewohnheit geschieht; innerhalb der von Gott bestimmten Naturgesetze seien die Wunder so ungefähr Ausnahmegesetze. Einige scholastische Distinktionen kamen hinzu, und dabei ist die katholische Kirche bis zur Stunde stehengeblieben. Der einzig mögliche Standpunkt, wenn man den Wunderglauben nicht fallen lassen will.

Die Reformation war wieder einmal nicht folgerichtig und verstrickte sich von Jahrhundert zu Jahrhundert, je mehr sie sich vor der Wissenschaft schämte, mehr und mehr in abenteuerliche Unmöglichkeiten. Da sie die Verehrung der Heiligen aufgab, brauchte sie sich mit der ganzen Masse der Heiligenwunder nicht zu schleppen; auch fügte sie sich in die Zeit, und selbst Luther gab zu, daß neuerdings keine rechten Wunder mehr geschehen; er hatte kein Bewußtsein davon, daß die Greuel von Teufeln und Hexen, an die er glaubte, den Heiligenlegenden an Wunderbarkeit nicht nachstanden. Um so fester hielt sich die Reformation zunächst an die alten Wunder, die durch Gottes Wort verbürgt wurden; und an das umfassende Wunder der Offenbarung selbst. In der Hauptsache war also die Reformation zunächst katholisch geblieben. Als aber die protestantische Scholastik nicht mehr aufrecht zu halten war, als die gebildeten Theologen Kompromisse mit der jeweiligen Naturwissenschaft schlossen, verriet sich die langsame Selbstzersetzung des Protestantismus besonders deutlich in der unehrlichen Behandlung des Wunderglaubens. Was heutzutage darüber von den Halben vorgetragen wird, um weder bei der Kirche noch bei der Wissenschaft anzustoßen, das muß ich doch recht unhöflich eine Affenschande nennen. Dem Worte Wunder wird Gewalt angetan; man redet sehr vornehm und geistig, als handle es sich gar nicht darum, ob Moses (vom neuen Testamente zu schweigen) einen Holzstab in eine lebendige Schlange verwandelt habe oder nicht, als handle es sich einzig und allein um eine innere Wundererfahrung. Der psychologische Vorgang des Glaubens oder des Gebets sei das wahre Wunder. Der Wunderbegriff wird in eine poetische Metapher aufgelöst. Aber das dicke Ende kommt nach. An die Wunder der Metamorphosen von Ovidius brauche ein gebildeter Mensch selbstverständlich nicht zu glauben; wohl aber habe er zu glauben oder glaube er – das Sollen wird verschleiert – an die Wunder, die Gottes Wort an die Stiftung der Religion knüpft, welche heute noch die herrschende ist. Kurz (was die Herren freilich nicht so eindeutig sagen): unser Glaube allein ist kein Aberglaube und alles Wirkliche ist vernünftig. Eine Kritik an der Wahrheit der biblischen Wundergeschichten wird nicht geradezu abgelehnt; aber die Kritik wird dadurch unwirksam gemacht, daß die Herren sagen: wer das Dasein der Wunder leugnet und Gründe für sein Leugnen beibringt, der ist an die Frage bereits mit einem Vorurteil herangetreten. Daß diese Wunder sich in der Vorzeit ereigneten und jetzt sich nicht mehr wiederholen, das spreche erst recht für die Wahrheit der Wunder. Die Herren kennen Gottes Absicht wieder genau: er habe einer wundersüchtigen Zeit mit Wundern kommen müssen, um sie zur wahren Gotteserkenntnis zu erziehen; Gott habe sich eben (diese Leute bemerken die Blasphemie gar nicht!) dem geschichtlich gewordenen Zustande der damaligen Menschheit angepaßt – wie ein heutiger Theologieprofessor der Wirklichkeit, die immer vernünftig ist. (Diese Anpassung der göttlichen Vorsehung an die Kulturstufen der Menschheit wird gern durch eine Berufung auf Lessing unterstützt; man vergißt dabei, daß Lessing in seiner »Erziehung des Menschengeschlechts« das Lehrbuch des Alten und das des Neuen Bundes nur in Kauf nahm, um das dritte Reich verkünden zu können.) Nun hätte ja die erzieherische Anpassung Gottes an das Jugendalter der Menschheit auch darin bestehen können, daß die Zeugen der biblischen Wunder sich das alles nur einbildeten; die psychologische Überredungskraft der geglaubten Tatsachen hätte darum nicht geringer zu sein brauchen; dann hätte man aber auch das Wunder der Offenbarung unter die Einbildungen oder Selbsttäuschungen rechnen müssen, dazu einige Wunder der Christologie, und das alles wollten die Halben doch festhalten. Sie lehrten also fröhlich weiter: die Naturgesetze gelten gegenwärtig, haben aber nicht immer gegolten. Und noch schlimmer, bald unehrlicher, bald törichter, sind die Sophismen, mit denen die Halben solche alte Wunder gegenüber der modernen Anschauung von der Unverbrüchlichkeit der Naturgesetze erklären wollen; es ist zum Schreien, wenn sie mit Psychologie und Erkenntnistheorie vorgehen und sich dann plötzlich wie auf der Kanzel eines Bibelverses als eines Beweises bedienen. Die Naturgesetze seien, was zu leugnen ich der letzte wäre, nur menschliche Formeln; der Mensch benütze diese Gesetze für seine Zwecke. Nun aber wird der Kopfsprung gemacht und behauptet: noch freier als der Mensch stehe Gott den Naturgesetzen gegenüber; er sei der Gesetzgeber, könne seine Gesetze wieder aufheben, könne aber vor allem die Gesetze, die er besser verstehe als irgendein Mensch, zu neuen und überraschenden Erscheinungen verwenden. Und zuletzt wird das Wort Gottes zu einem Zauberspruch, der je nach Umständen körperliche oder seelische Verwandlungen hervorruft.

Auch bezüglich der Wunder haben sich einzelne Philosophen der Zeit angepaßt, wie Gott den Kulturstufen der Menschheit. Lotze ist in dieser Nachgiebigkeit nicht am weitesten gegangen, soll aber hier als warnendes Beispiel stehen, gerade weil man ihm die Bemühung anmerkt, mit der Kirche einen Frieden zu schließen, ohne sich zu unterwerfen. Sein »Mikrokosmus« steht in hohem Ansehen und ist doch nur ein hübsches Lesebuch für hochgebildete Beschränktheit. Er hat sich da (II5 S. 44ff.) mit dem Begriffe des Wunders in der Weise auseinandergesetzt, daß er ihn der angenommenen Einheit der Natur entgegenstellt, ihn also eigentlich rund ablehnen müßte. Er sagt auch ausdrücklich, man würde die Kompensation der Störungen im Naturlauf gleich sehr mißverstehen, »sowohl wenn man sie nur für eine in dem Fortarbeiten jedes Mechanismus sich von selbst verstehende Erhaltung der Ordnung ansähe, als wenn man in ihr eine von oben her eingreifende, dem Mechanismus gänzlich fremde Wiederherstellung dieser Ordnung vermutete.« Lotze nimmt also, was für das geschlossene System eines Organismus sicherlich angeht, aber für die gesamte Natur sehr bedenklich ist, eine Naturheilkraft an, die von selber bessernd eingreift; er konstruiert sich das Vorkommen von Wundern, die mehr sein sollen als bloß ungewöhnliche Erscheinungen, doch auch weniger als eine völlige Durchbrechung der Naturgesetze. »Die wunderbar wirkende Macht, welche sie auch sein mag, richtet sich nicht unmittelbar gegen das Gesetz, um seine Gültigkeit aufzuheben, sondern indem sie die inneren Zustände der Dinge durch die Kraft ihres inneren Zusammenhanges mit ihnen (?) ändert, verändert sie mittelbar den gewohnten Erfolg des Gesetzes, dessen Gültigkeit sie bestehen läßt und fortdauernd benutzt.« Die Macht, »welche sie auch sein mag«, wirkt also mittelbar auf die innere Natur, die durch den »Sinn der Welt« bestimmbar ist. Ob dieser Konstruktion eine Wirklichkeit entspreche und welcher Kraft die »Berechtigung« zum Wundermachen zuzuschreiben sei, will Lotze nicht entscheiden. So ungefähr sagt das der Pfarrer auch, nur mit schlichteren Worten.

Die Aufklärung hat den Wundern von jeher ihre Anerkennung versagt; häufig nur in der Weise, daß sie die Berichte allegorisch oder sonst umzudeuten suchte. Selbstverständlich stellte sich Leibniz auf Seite des Wunderglaubens, und das zu einer Zeit, als Spinoza den Wunderbegriff schon kritisch vernichtet hatte. Nur den Begriff, mit Hilfe seiner begrifflichen Abstraktion. Gott und Natur seien dasselbe; Ereignisse gegen die Natur seien also Ereignisse gegen Gott; das Wunder sei also unmöglich. Diese Beweisführung genügte den Freidenkern, war aber zu metaphysisch und zu theologisch, um in einer Zeit vorhalten zu können, die der Metaphysik und der Theologie nicht mehr vertraute. Die Axt an die Wurzel des Wunderglaubens schien erst der starke Hume zu legen, da er an die Wunderberichte den gleichen Maßstab anlegte, wie an andere geschichtliche Nachrichten. Die Wunder seien so unwahrscheinlich, daß die Zeugnisse für ihre Wahrheit stärker sein müßten als die Zeugnisse von wahrscheinlicheren Begebenheiten.

Über diese Wahrscheinlichkeitsrechnung Humes hinausgehen kann nur eine sprachkritische Beleuchtung der aufdringlichen Begriffe »Wunder« und »Vorsehung«.

Schon bei substantivischen Gestalten des Glaubens (Götter, Teufel, Engel, Hexen) ist es eine ungehörige Zumutung der Gläubigen, von den Nichtgläubigen den Erweis der Nichtexistenz solcher Personen zu verlangen; die Beweispflicht ist bei der bejahenden Partei, und diese hat eine solche Pflicht durch endlose Beweisversuche anerkannt. Das Wunder ist keine Person, ist nur ein angeblicher Vorgang, aber der Erweis der Wahrheit müßte ebenso der bejahenden Partei zugeschoben werden. Dazu kommt jedoch, daß es einen Vorgang wie ein Wunder in irgendeiner Wirklichkeitswelt objektiv gar nicht geben kann; nur subjektiv könnte der Mensch diese Bezeichnung gebrauchen, und zwar für einen Vorgang, der gut beobachtet ist und über den er sich trotzdem »wundert«. Vorläufig: »Wunder« ist, was der Erwartung widerspricht. Bedenken wir nun, daß die sogenannten Naturgesetze letzten Endes nur Formeln sind, welche unsere Zuversicht auf die Regelmäßigkeit zusammenfassen, unsere bestimmte Erwartung der Folge hinter einer Ursache, so ergibt sich der Sprachgebrauch: was der Erwartung widerspricht, widerspricht den Naturgesetzen. Ein Wunder in diesem Sinne, ein Ereignis gegen die Naturgesetze, erscheint dem unmöglich, dem die Naturgesetze Dogmen sind; erscheint dem nicht nur möglich, sondern alltäglich, also nicht mehr wunderbar, dem die Allmacht Gottes über alle Naturgesetze ein Dogma ist; und ist uns ganz Dogmenfreien ein leeres Wort. Auf die richtige Beobachtung trifft die Kritik Humes zu; es gibt in der ganzen Religions- und Weltgeschichte keinen widernatürlichen Vorgang, der so einwandfrei bezeugt wäre, daß ein vorurteilsloser Mann ihn glauben müßte. Was aber das Wundern betrifft, so ist dieser Geisteszustand des Beobachters ohne Frage von dem Weltbilde abhängig, das ihm nach der allgemeinen und der persönlichen Beschaffenheit der Naturerkenntnis geläufig ist; es hat nachweisbar Zeiten gegeben, in denen gerade die besten Köpfe sich über den Blitz und das Aufflammen von Holz, über die regelmäßige Wiederkehr der Jahreszeiten, über Geburt und Tod, über die seltsamen Beziehungen im Zahlensystem wunderten, und alle diese Sachen dem Einflusse übernatürlicher Kräfte zuschrieben. Alle diese Erscheinungen waren solange Wunder, bis ihre natürlichen Ursachen mehr oder weniger erkannt wurden und so gegen den Wunderglauben ins Treffen geführt werden konnten. Das Wunder ist also, geschichtlich genommen, ein relativer Begriff, ein Korrelatbegriff zum Naturerkennen; man nannte »Wunder«, was noch nicht begreiflich war, und der Umfang des Unbegreiflichen wurde immer kleiner, wenn man davon absah, daß auch die Begreiflichkeit nur wieder ein relativer Begriff der armen Menschensprache ist. Objektiv aber, positiv, ist der Wunderbegriff unfaßbar, unmöglich. Für den Gottlosen fallen – um es wieder anders auszudrücken – diese Handlungen eines Gottes, der außerhalb der Weltordnung stünde, von selber fort. Der Gläubige muß sich aber sagen oder uns zugestehen: bei Gott ist nichts unmöglich, es ist also schon eine Ketzerei oder eine Sünde, von einem Wunder zu reden, sich über irgendetwas zu wundern; die Weltschöpfung aus dem Nichts, die Offenbarung eines unkörperlichen Wesens an körperliche Menschen, die nur durch ihre Sinnesorgane Mitteilungen erhalten können, widersprechen den für Naturgesetze erklärten Regelmäßigkeiten viel stärker als etwa die erstaunlichsten Heilungen oder Verwandlungen, und dennoch gehören Schöpfung und Offenbarung zu den wichtigsten Tatsachen der göttlichen Weltordnung; einerlei, ob Gott heute noch als Wundertäter aktiv ist oder nicht, die sogenannten Wunder gehören zu der Ordnung seiner Welt, und nicht die Gottlosen, sondern die Frommen sollten sich vor dem Gebrauche des Wortes Wunder hüten; Gott kann keine Wunder tun, weil alles, was er tut, zur Weltordnung gehört; wer das leugnet, wer also von Wundern redet, der weiß nichts von Gott. Mit einiger Heiterkeit könnte ich zeigen, daß diese Aufdröslung des Wunderbegriffs im wesentlichen mit der Wunderlehre des heiligen Thomas zusammentrifft; nur daß Thomas trotzdem jedes, aber auch jedes Wunder glaubte.

Leichter scheint es mir, die Unfaßbarkeit, die Undenkbarkeit des Vorsehungsbegriffs zu sehen, schwerer, sie aufzuzeigen; wenn dieser Begriff dennoch für Millionen und aber Millionen meist ganz ungelehrter Leute denkbar und sogar ganz einfach scheint, so spricht das weniger gegen meine Kritik, als gegen das Denken oder Sprechen dieser Leute, d. h. der Menschen überhaupt. Da ist zunächst zu beachten, daß der Volksglaube – natürlich unter Billigung der Theologie – mit gewohnter Realisierungssucht die drei Bilder der Welt Vgl. meinen Versuch: »Die drei Bilder der Welt«. durchschritten hat, um aus einer Eigenschaft eine Tätigkeit und aus der Tätigkeit eine Person zu machen. Ich bitte mir aufmerksam zu folgen. Die alte providentia war zwar nach der Wortform bereits so etwas wie eine personifizierte Tätigkeit, aber es lag dem Altertum fern, sich unter dem Wissen oder gar dem Vorwissen Gottes eine Geistestätigkeit vorzustellen, wie das die Menschenpsychologie nötig macht; zum Wissen und nun gar zum Vorwissen gehört eine ungeheure Arbeitsleistung an Beobachtung und Schlußfolgerung. Solche Tätigkeit mutet aber der Fromme seinem Gotte gar nicht erst zu. Das Wissen und Vorwissen ist für den Frommen eine Eigenschaft Gottes, die noch an gar keine Tätigkeit geknüpft ist; es gehört zum Wesen oder zum Zustande Gottes, allwissend zu sein. Seine Person hat diese Eigenschaft. Und dies scheint mir die erste Unfaßbarkeit im Vorsehungsbegriffe zu sein. Wir stellen uns Gott nach dem Menschenbilde vor, und Gott sieht keinem Menschen ähnlich. Wir erkennen den adjektivischen Charakter von Gottes Vorsehung besser, wenn wir das Wort »witzig« in der veralteten Bedeutung (klug) verwenden und so Gott »allwitzig« nennen wollen; ohne Gehirnarbeit weiß er alles, was in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft irgend geschieht, sieht alles voraus; unverständlich ist es nur, wie er ein künftiges Ereignis zugleich vorauszusehen und zu ändern vermag. Da ist doch das antike Fatum, das voraussieht, aber nicht ändert, eine viel logischere Gottheit; freilich hatten Gebete zu ihr keinen Zweck, weil sie eben nicht erhören konnte.

Das Bedürfnis nach einer erhörenden, einer das Fatum ändernden Gottheit mochte dazu führen, der Vorsehung, die eigentlich eine Eigenschaft Gottes war, eine Tätigkeit beizulegen, übrigens (der Sperling, die Haare auf dem Kopfe) eine bis zur Würdelosigkeit vielseitige Geschäftigkeit. Dieser Gott hat sich nach dem Volksglauben wie nach der Theologie in alles hineinzumischen; er ist tätig beim Wüten des Sturms und bei entscheidenden Völkerschlachten, beim Reifen des Korns und bei der Frage, ob die Brotschnitte auf die Butterseite fällt. Er ist unaufhörlich wundertätig und überall zugleich. Abgesehen nun von den Unfaßbarkeiten, was da noch ein Wunder sei und wie ein Vorherwissen sich mit einer Änderung des Fatums vertrage, ist diese ganze Wundertätigkeit Gottes durchaus anthropomorphisch vorgestellt; wird aber Gott erst zu einem so menschenähnlichen Wesen gemacht, dann läßt sich seine Ruhe oder gar seine Seligkeit mit einer solchen verteufelten Zauberhetze nicht vereinigen.

Endlich haben Volksglaube und Theologie, vielleicht ohne diese Schwierigkeiten zu beachten, aus der Vorsehung ein Substantiv gemacht, eine Person. Der Gläubige verläßt sich auf die Vorsehung wie auf eine besondere hilfreiche Gottheit. Da diese Vorsehung jedoch in einer monotheistischen Religion nicht ein besonderer menschenfreundlicher Gott sein kann, etwa ein Gegenteufel, so fällt die Vorsehung mit dem lieben Gotte zusammen, dem Schöpfer Himmels und der Erden. Und da meldet sich als letzte Unfaßbarkeit die uralte Frage, die man in unzähligen Theodizeen immer vergebens zu beantworten versucht hat: Wie konnte ein Gott mit so vielen Alleigenschaften eine solche Pfuscherarbeit leisten? Wie konnte er eine Welt schaffen, in welcher einerseits die eherne Kette der Notwendigkeit eine Vorsehung, d. h. ein Vorherwissen möglich macht, in der anderseits ohne unaufhörliches Eingreifen der Vorsehung, d. h. einer wunderbaren Hilfeleistung, der Jammer und das Elend unerträglich wären? Nur Theologen können sich da zurechtfinden.

Etwas anders gestaltet sich die Frage sprachlich, wenn wir den Wunderbegriff nicht mehr einseitig logisch, sondern psychologisch untersuchen. Die Sehnsucht nach dem Wunderbaren ist zu tief in der armen menschlichen Natur begründet, als daß nicht bei allen Völkern der Glaube an Wunder hätte entstehen müssen. Zwischen dem Wunder aber der christlichen Religion und dem Wunderbaren in der Vorstellung anderer Gemeinschaften ist doch der wesentliche Unterschied, daß die Christenlehre gegen die Vernunft Wunder zu glauben befiehlt, anderswo jedoch das Erstaunliche oder Wunderbare mit dem übrigen Volksbewußtsein nicht in Widerspruch gerät. Man achte auf den psychologischen Bedeutungswandel des Wortes und seiner Ersetzungen.

Im Lateinischen hieß portentum (von portendere = ankündigen) wirklich nur das Vorzeichen, das Wunderzeichen, wie denn im Altertum der Glaube an die Möglichkeit von Prophezeiungen zu der Seelensituation aller Menschen, mit wenigen Ausnahmen, gehörte; aber portentum glitt bald nach abwärts in die Bedeutungen Erdichtung, Mißgeburt, Ungeheuer, Abschaum hinein. In die modernen Sprachen ist das andere Wort miraculum geradezu oder durch Lehnübersetzung herübergekommen; miraculum (von mirari = sich wundern) steht sogar noch bei Kirchenschriftstellern für das substantivische Staunen und für den Gegenstand des Staunens; die »sieben Wunder«, die erstaunliche Menschenwerke waren, sind in unsere Schulsprache übergegangen. Die deutsche Lehnübersetzung ist sehr belehrend. »Sich wundern« entspricht völlig dem lateinischen mirari ; auch »Wunder« bezeichnet (allgemein noch heute im Alemannischen) den Zustand der Verwunderung. »Wunderhalber« = »um der Seltsamkeit willen« nähert sich dem Sinne von »ausnahmsweise« (Paul). Die Redensart »das nimmt mich Wunder« heißt nichts weiter als »dessen ergreift mich Verwunderung«.

Gegenstände nun und Ereignisse, über die der Mensch ihrer Seltenheit oder Seltsamkeit wegen staunt oder sich verwundert, haben nicht aufgehört, sind nur in unserer Zeit des allgemeinen Schulunterrichts scheinbar nicht mehr so zahlreich wie früher. Gegenstände und Veränderungen, über die man sich in dem höheren Sinne verwundert, daß man die Unbegreiflichkeit ihrer letzten Ursachen zugeben muß, haben sich wiederum gerade für den Höchstgebildeten vermehrt, seitdem die Erkenntniskritik uns gelehrt hat, uns mit dem Rationalismus nicht zu begnügen, Beschreibung mit Erklärung nicht zu verwechseln. Just die Wissenschaft stößt am Ende überall auf das Wunder der Unbegreiflichkeit.

Im Gegensatz dazu ist das Wunder der christlichen Theologie für jedes Kind begreiflich; man braucht nur übernatürliche Ursachen, den Willen Gottes oder des Teufels, anzunehmen und hat neben den natürlichen Wundern, die uns rings umgeben, eine zweite Welt von Wundern, die uns nur erzählt werden. Sicher ist, daß diese Gottes- und Teufelswunder nur aus alter Zeit berichtet werden; was heute davon noch gelegentlich vorkommt, wird ja gar nicht mehr geglaubt. Sicher ist ferner, daß jene Art von Wundern mit dem Aufkommen der historischen Kritik und mit dem Wachstum der naturwissenschaftlichen Erfahrung fast aufgehört hat. Sicher ist endlich, daß der Glaube an die ersten christlichen Wunder (Heilung von Kranken, Auferweckung von Toten, Austreibung von Teufeln) zur Festigung der jungen Religion und zur Propaganda unter leichtgläubigen Heiden beigetragen hat; die Kirche selbst scheint geneigt zu sein, das Vorkommen der Wunder auf die Zeit ihrer historischen Zweckmäßigkeit einzuschränken, da sie das Nachlassen dieser Wundergabe nach dem Siege des Christentums nicht leugnet. (Besonders protestantische Theologen knüpfen dieses Versiegen der Wunderkraft an das letzte Wunder, das die Bekehrung von Constantinus veranlaßte; andere Kirchenhistoriker denken an das Ableben der Apostel oder an die Ausrottung der arianischen Ketzerei.)

Niemand wird von mir erwarten, daß ich zu den durchaus theologischen Fragen Stellung nehme, ob es diese übernatürlichen Wunder gegeben habe, ob Moses seine Wunder mit Gottes und der ägyptische Priester die seinen mit des Teufels Hilfe vollzogen habe. Für mich ist das übernatürliche Wunder wieder nur ein Wort, dessen Vorkommen in der Gemeinsprache nicht beweist, daß dem Worte irgendetwas in der sogenannten Wirklichkeit entspreche. Nur über die psychologische Geschichte des Begriffes oder Wortes, über das Wunderbedürfnis habe ich mich zu äußern, wie bei den Begriffen Gott und Teufel; auch bei dem Wunderbegriffe nur anzugeben, wie er von dem skeptischen Geiste langsam überwunden wurde und im Zeitalter des Deismus endlich verblaßte.

Es läßt sich nicht leugnen, daß das katholische Mittelalter überaus wundersüchtig war, aber nicht um des Katholizismus willen, sondern eben weil es das Mittelalter war. Lecky sagt sehr hübsch: die Nachfrage nach Wundern sei grenzenlos gewesen und das Angebot habe der Nachfrage entsprochen. Ich verzichte auf den wohlfeilen Erfolg, aus den Legenden über die wohl 25 000 Heiligen, deren Lebensgeschichten fast alle erst im Mittelalter entstanden sind, wunderbare Züge zusammenzustellen, die beim Leser ein allzu selbstgerechtes Lachen hervorrufen könnten.

Die protestantische Kirche war gar nicht konsequent, unterstützte eigentlich den schlimmsten und gefährlichsten Aberglauben, als sie das Aufhören der Gotteswunder lehrte und die (gewöhnlich durchaus moralischen) Heiligenlegenden gerade um ihrer zudringlichen Wunder willen nicht glaubte, dagegen die (fast immer sehr unmoralischen) Teufelswunder und Hexenlegenden anerkannte. Diese Inkonsequenz ist um so verwunderlicher, als bei den Begründern des Protestantismus außer der Heiligen Schrift auch die wunderschwangeren Kirchenväter in hohem Ansehen standen. Immerhin waren die Begründer des Protestantismus schon so weit kritisch und naturwissenschaftlich geschult, daß sie moderne Wunder (immer mit Ausnahme der Hexenzaubereien) nicht mehr Zugaben und so bei protestantischen Denkern und Historikern die Stimmung erzeugten, die schließlich auch den Glauben an die alten Wunder in Schimpf und Ernst bekämpfte.

Der wirksamste Bekämpfer des psychologischen Wunderglaubens war John Locke, der eben auch der philosophische Vater des Deismus war, der Denker, von dem alle Verteidiger der Vernunftreligion ihre besten Waffen holten; das ist für England um so bemerkenswerter, als noch der große Newton, Lockes jüngerer Zeitgenosse, als ein guter Christ den Glauben an die Wunder der ersten Jahrhunderte festzuhalten suchte. Noch bemerkenswerter ist aber der Gedankengang, der den Erneuerer unserer Psychologie dazu führte, auch die Wahrheit der alten Wunder zu kritisieren.

 

Locke

Die Theologen hatten nämlich, um die Verfolgungen um des Glaubens willen zu rechtfertigen, die abscheuliche Behauptung aufgestellt: in den Jahrhunderten vor Constantinus hätte Gott die Bestrafung und Vernichtung der Ungläubigen durch Wunder bewirkt; alsdann wäre das Christentum zur Staatsreligion geworden, die Wunder hätten als überflüssig aufgehört und Inquisition, Ketzerverfolgung und jede Unduldsamkeit fiele als Erbe dem christlichen Staate zu. Gegen diese nichtswürdige Theorie hatte sich (allerdings erst nach Bayle) also Locke zu wenden, als er seinen bis in die Gegenwart nachwirkenden Brief » On Toleration« schrieb; es ist verrückt, aber es ist so: ein freier Geist wie Locke mußte sich auf den theologischen Standpunkt stellen und die alten Wunder aus dem Plane der Vorsehung löschen, wollte er logisch und psychologisch die Ansicht bekämpfen, daß die blutigen Glaubensverfolgungen im Plane der Vorsehung lägen.

Während nun Lockes Philosophie auf dem Kontinent die reichsten Früchte trug, in Frankreich den Übergang zum politischen Liberalismus, zum psychologischen Sensualismus und zum religiösen Indifferentismus bildete, in Deutschland den immer eifersüchtigen Leibniz sehr stark beeinflußte, mischten sich in England die politischen und religiösen Parteien so sehr, daß gerade in Lockes Heimat die Wirkung auf die öffentliche Meinung zunächst verfälscht wurde. Er war sich selbst untreu gewesen, als er die Toleranz mit theologischen Gründen verteidigte; die Theologen gewannen die Oberhand und konnten sich gelegentlich gegen die Nachfolger Lockes, gegen die Prediger einer Vernunftreligion oder die Deisten, Lockescher Argumente bedienen. Das werden wir an einer anderen Stelle sehen. Nur in einem Punkte kamen die Freidenker und einige radikale Theologen einander nahe, darin nämlich, daß man allgemein anfing, auch die Wunder der ersten christlichen Jahrhunderte und somit die Zuverlässigkeit der Kirchenväter in Zweifel zu ziehen. Man trennte sich bald wieder. Der Weg der Freidenker führte weiter in unchristlichen Deismus, hinter welchem sich doch bei vielen ein vorsichtiger Atheismus verbarg; der andere Weg führte zu einem vermeintlich evangelischen, in Wirklichkeit ganz traditionslosen Festhalten am starren Bibelwort. Wir haben nur den konsequenten negativen Gedankengang der Freidenker zu verfolgen.

 

Middleton

Conyers Middleton (gest. 1750) hatte schon 1729 – im Gegensatze zu anderen Engländern – den Katholizismus nicht so sehr als Fälschung des Christentums bekämpft, es vielmehr als eine Rezeption des Heidentums gut historisch betrachtet; er machte zuerst Ernst damit, die sogenannte heilige Geschichte ebenso kritisch zu prüfen wie die Profangeschichte. Im Jahre 1748 erschien dann sein grundlegendes Werk: Inquiry into the miraculous powers etc. Dieser konsequent deistische Theologe wagte es da einfach, den Glauben an die Wahrhaftigkeit der wundersüchtigen Kirchenväter zu erschüttern. Er ging in doppelter Beziehung noch weiter. Auf dem Boden des rationalistischen Zeitalters, das immer schroffer (neuerdings, nach seinem Vorgehen) jede Religion und jeden Aberglauben als das absichtliche Werk abgefeimter Betrüger betrachtete, zieh er die Kirchenväter einer systematischen und bewußten Geschichtsfälschung und ließ schon damals durchblicken, daß solche Fälschungen in noch ältere Zeit zurückreichten. (In den nachgelassenen Schriften von Conyers Middleton findet sich schon der Verdacht, die Evangelisten seien nicht inspiriert und auf die Wahrheit nicht genügend aufmerksam gewesen.) Die Schrift erregte ungeheures Aufsehen. Natürlich stellte sich die Universität Oxford dem Ketzer entgegen, wie denn auch in Frankreich die Sorbonne – früher die Verteidigerin des Aristoteles gegen Descartes – sich jetzt an die Spitze der Cartesianer gegen die Schüler Lockes stellte.

In England selbst haben berühmtere Männer als Middleton seine Richtung weiter verfolgt. Der gottlose Gibbon scheint seine große Geschichte der römischen Kaiserzeit in der Hauptabsicht geschrieben zu haben, die Legenden über die ersten christlichen Jahrhunderte zu zerstören; er rüttelt überall an der Glaubwürdigkeit der Kirchenväter, behandelt die Wunder der Heiligen des 4. Jahrhunderts mit höflichem Spotte und geht an den Wundern der Apostelzeit und damit an der Begründung des Christentums mit merklicher Ironie vorüber; sein Werk wird heute noch in England mit Entzücken gelesen und darf auch von uns gerühmt werden, so vielfach es seitdem in Einzelheiten von der Detailforschung verbessert worden sein mag.

Viel tiefer, doch ebenfalls in der Richtung Middletons, drang der überlegene Erbe des Lockeschen Geistes in die Frage ein, der Skeptiker Hume.

Die englischen Theologen, welche den Glauben an die Wahrheitsliebe und schließlich auch an jede Sittlichkeit der Kirchenväter zerstörten, hatten dabei mit mehr oder weniger Bewußtsein ihre Feindschaft gegen den Katholizismus bewiesen; hatte doch sogar der feine Augustinus mit seiner ganzen Autorität so viele Wunder aus seiner eigenen Zeit berichtet, daß wirklich nur das Dilemma übrigzubleiben schien: entweder die Lehren der katholischen Kirche sind wahr oder selbst der hl. Augustinus war ein Fälscher. Ganz anders entwickelte sich die Logik der Freidenker gegenüber den Wundern. War nicht auch die Schöpfung der Welt ein Wunder? War nicht sogar jede Offenbarung, die erst durch die Wundertaten der Boten Gottes beglaubigt werden sollte, selbst ein Wunder für sich? Auf die kleinen Wunder der Märtyrer und Heiligen kam es gar nicht mehr viel an, wenn man die großen Wunder der Schöpfung und der Offenbarung glaubte. Noch war man den Wundern gegenüber nicht so übermütig frei wie in unseren Tagen, in denen Anzengruber (im »G'wissenswurm«) den frommen Bauern in seiner Not ganz einfach fragen lassen konnte, ob denn in der Bibel »nix Dummes geschrieben« sein könnte; aber man war doch von dem Zweifel an der Wahrheitsliebe der Kirchenväter zu dem Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Bibel übergegangen. Eine neue vorurteilslose Bibelkritik setzte ein; nach der philologischen Bibelkritik Spinozas folgte die rationalistische Bibelkritik des l8. Jahrhunderts, und die streng historische Bibelkritik von David Strauß und seinen Genossen machte den Beschluß. Aus dem neuen Glauben wurde das Wunder der Offenbarung und zuletzt das Wunder der Schöpfung ausgemerzt. Der kritische Protestantismus hatte den Begriff des Wunders untergraben und damit auch – oft ohne es zu wollen – den Gottesbegriff. Die katholische Kirche ist wirklich nicht im Unrecht – wobei ich mich freilich ihren Werturteilen nicht anschließe –, wenn sie behauptet, die Begründung des Protestantismus mit seiner Bibelkritik und mit seiner Verwerfung der Heiligen habe dem Atheismus die Wege geebnet; die katholische Kirche befürchtet ebenso mit Recht von dem Auftreten der heutigen Modernisten ähnliche Folgen; ist es doch kein Zufall, daß die besten Engländer, welche zuerst Traktarianer waren (Anhänger Puseys) und dann Katholiken wurden, schließlich in das modernistische Lager übergingen.

Aber auch die Gemäßigten, die wohl auf alle Wunder, aber nicht auf den Gott der Deisten verzichten wollen, sogar die Eigenbrödler, die an irgendeinem fast nur noch individuellen Christentum festhalten, unterscheiden sich von den wahrhaften Christen der christlichen Zeit dadurch, daß ihre Gedanken nicht mehr theologisch gerichtet sind. Das Wunder war ein ganz volkstümliches Seelenbedürfnis der theologischen Zeit; sie ist vorüber, und das Wunder ist zu einem veralteten leeren Worte der Gemeinsprache geworden.

Die Leerheit des Worts entbindet uns aber nicht von der Pflicht, seine Geschichte zu studieren. Wir sind so psychologistisch geworden und so vorurteilslos sprachkritisch, daß wir den Glauben an Gott und den Glauben an Wunder auch dann noch begreifen möchten, nachdem wir den einen und den anderen Glauben verloren haben. Und wir möchten am Ende noch klarstellen, daß der alte Gottesbegriff sehr eng mit dem Wunderbegriff zusammenhing, daß der deistische oder pantheistische, kurz der immanente, wunderfreie Gott gar nicht mehr der scheinbar so transzendente, in Wahrheit ganz persönliche und darum robuste, eigentlich materielle Gott des lebendigen Christenglaubens ist.

Als die englischen Deisten des 18. Jahrhunderts (und nach ihnen Lessings Reimarus) vor dem Dilemma standen, die Wunder des Alten und auch schon des Neuen Testaments entweder allegorisch zu deuten oder für gemeinen Betrug zu erklären, da war Lessings Wort von den »betrogenen Betrügern« noch nicht geprägt, das also eine unbewußte Täuschung zuließ, da war eine psychologische Erklärung von Religionsentwicklungen noch nicht gefunden. Das ist der Punkt, wo wir Modernen in aller Gottlosigkeit religionsfreundlicher geworden sind als die radikaleren englischen Deisten waren und deren französische und deutsche Nachfolger. Es ist gar nicht daran zu zweifeln, daß die führenden Christen der ersten Kirche nicht nur die Wunder der unmittelbaren göttlichen Dazwischenkunft (die Schöpfung, den Stillstand der Sonne) glaubten, daß sie sich selbst sogar wunderbare Kräfte gegen den Teufel, gegen Krankheiten usw. zuschrieben. Kein Zweifel auch, daß viele Polytheisten ebenso wundergläubig und wundersüchtig waren und darum in den sehr wunderwirkenden Bund der Christen eintraten. Wie schon berichtet, herrscht in der theologischen Geschichtschreibung ein Streit darüber, wann diese Wunderkraft in der christlichen Kirche nachgelassen oder aufgehört habe; daß keine Wunder mehr geschehen, wird allgemein anerkannt, wenn man nur von neueren Hintertreppen-Heiligen der katholischen Kirche absehen will. Diese neuesten Wunder (Lourdes usw.) können neben den natürlichen Wundern der durch und durch naturwissenschaftlichen Gegenwart nur noch auf eine tiefe Unterschicht des Volkes Eindruck machen; die übrige Welt schreit über Betrug oder geht mit einem Achselzucken weiter ihres gottlosen Weges.

Eine geringe Oberschicht nur glaubt zu wissen, daß die sogenannten natürlichen Wunder unserer Physik, Chemie und Technik zwar ebenso real sind, wie die übernatürlichen irreal waren, daß aber der Übergang der Bezeichnung »Wunder« auf diese schlauen Maschinen gar nicht unberechtigt war: daß es eine Begriffsähnlichkeit gibt zwischen den Wundern Gottes und den Wundern der Technik. Das möchte ich klarer, als es meines Wissens bisher geschehen ist, mir und anderen zum Bewußtsein bringen.

 

D. F. Strauß

Für die katholischen und protestantischen Theologen ist David Friedrich Strauß der leibhaftige Satan, weil er mit der Bibelkritik wissenschaftlichen Ernst gemacht und das Leben Jesu (vor mehr als 80 Jahren) in einen Mythus aufgelöst hat. Der Wandel der Zeiten ist deutlich wahrzunehmen: in den ersten christlichen Jahrhunderten erschien die neue Religion besonders darum glaubhaft, weil an ihrem Stifter und durch ihren Stifter Wunder geschehen waren; in den zwei Jahrhunderten von den englischen Freidenkern bis auf Strauß erschienen alle die gleichen Tatsachen unglaubhaft, eben weil Wunder an sie geknüpft waren. Und als der böse Feind vor allen stand Strauß da, weil seine Kritik die gründlichste war. Man übersah aber oder wollte übersehen, daß Strauß damals den letzten Versuch gemacht hatte, das christliche Religionsgefühl psychologisch zu retten. Für die Freidenker des 18. Jahrhunderts waren alle Religionsstifter bewußte Betrüger gewesen, gemeine oder geistig hochstehende Betrüger, aber immer doch Betrüger. Diesem unhistorischen Gerede machte Strauß, 20 Jahre nach dem Auftreten des Historismus, dadurch ein Ende, daß er den Begriff des Mythus einführte und auch in der Religion die unbewußte Entstehung für die bewußte Erfindung einsetzte; was Otfried Müller für die griechische Mythologie erkannt hatte, was vorsichtig schon aus die Mythologie des Alten Testaments angewandt worden war, das führte Strauß mit freier Kühnheit für die Mythologie des Neuen Testaments folgerichtig durch. Von Gottlosigkeit kann noch keine Rede sein. Der junge Strauß des »Leben Jesu« steht noch im Banne Hegels; er schaut noch gläubig zu dem Absoluten auf und das Absolute ist ihm so etwas wie der pantheistische Gott, durch welchen sich in den dreißiger Jahren die deutsche Aufklärung des 19. Jahrhunderts von der französischen Aufklärung des 18. wesentlich unterscheidet. Dort überall Spott, hier überall eine letzte Andacht für die christliche Heilslehre.

Erst mehr als ein Menschenalter später hat der zum Atheisten gewordene Strauß dem alten Glauben seinen neuen mechanistischen Glauben entgegengestellt: wir sind keine Christen mehr, wir haben eigentlich keine Religion mehr. Das kritische »Leben Jesu« war – wenn man von den Theologen absieht – mit Begeisterung aufgenommen worden; das reife und abschließende Bekenntnisbuch wurde von Theologen und Philosophen mit Nasenrümpfen abgetan und der edle Strauß starb in Verbitterung. Die gebildeten Deutschen, die heute den Monisten nachlaufen und die Naturnotwendigkeit an die Stelle des lieben Gottes setzen, haben 40 Jahre vorher noch an dem viel feiner begründeten Glauben des alten Stiftlers Anstoß genommen; freilich hatte Strauß seinen Spinoza und seinen Kant gut verstanden und benützt, während die Monisten den großen Denkern nur einige unverstandene Zitate als Zierat entnehmen. Wir hoffen wirklich um eine ganze Stufe (um die Kritik der Sprache) höher zu stehen als Strauß, möchten uns darum aber doch nicht vermessen, auf ihn hinunter zu blicken. Nur darzulegen, welche weitere Aussicht der um eine Stufe höhere Standpunkt etwa gewährt.

Man könnte von Strauß sagen, daß er die Wunder gegen die Natur für Mythen erklärt habe, aber beinahe anbetend vor den Wundern der Natur und den Naturwissenschaften stehe. Auch bei ihm tritt an die Stelle eines wunderhaften Gottes die notwendige Kette der Kausalität. Und hätte eine ehrliche Abstimmung unter den gebildeten Deutschen darüber zu befinden, was jetzt in Deutschland geglaubt werde, dieses Bekenntnis zu einer unentrinnbaren, wunderlosen Notwendigkeit des Naturverlaufs würde sich als die Grundlage der gegenwärtigen Weltanschauung herausstellen.

Auch wir – die persönliche Einzahl bei einem solchen Bekenntnisse widersteht mir, wie sie Strauß widerstand – wissen wahrlich nichts mehr mit dem robusten, materiellen lieben Gotte anzufangen, der den unentrinnbar notwendigen Naturverlauf, wann er will, durch ein Wunder unterbrechen kann. Wahrlich nichts mehr. Aber für uns sind einige Begriffe, ohne die wir die Kette der Kausalität nicht vorstellen können, ungefähr ebenso leer geworden, wie die Begriffe Gott und Wunder. Wir streiten nicht mehr über die modi der Substanz von Spinoza, wie wir über die Eigenschaften Gottes nicht mehr streiten. Wir glauben nicht mehr den Kausalzusammenhang des Naturverlaufs dadurch erklärt zu haben, daß nach unserer Erfahrung Gleichförmigkeiten in den Erscheinungen vorkommen und wir für diese Gleichförmigkeiten den bildlichen Ausdruck »Gesetze« haben. Wir haben erkannt, daß wir immer heimlich an solche strenge, unentrinnbare Gesetze denken, wenn wir von der ehernen Kette der Notwendigkeit oder der Kausalität reden. Das Bild Kette ist ebenso falsch wie das Bild Gesetz. Verfolgen wir die Glieder der Kette von der Erscheinung an, die wir eben erleben, zurück zu ihrem Ursprunge, so ist das letzte Glied jedesmal irgend etwas Luftiges, eben das Wort Gesetz, wenn so ein Luftglied nicht am Ende gar jedesmal zwei reale Glieder der Kette verbindet. Und mit einigem Schrecken werden wir dazu uns noch sagen müssen, daß auch die Kausalität auf einem ganz anderen Gebiete, auf dem des menschlichen Handelns, ebenso eine Kette mit einem Luftgliede oder mit vielen Luftgliedern darstellt. Wir können nicht anders, wir müssen auch an die Notwendigkeit, an die notwendige Motivation aller menschlichen Handlungen glauben. Unsere Seele, unser Wille werden determiniert wie alles Körperliche. Nur daß Seele und Wille zu Luftgliedern geworden sind, zu leeren Wortschällen wie die Begriffe Gott und Wunder.

Darin nun sind wir duldsamer geworden, als die Freidenker des 18. Jahrhunderts waren oder gar die Monisten sind, daß wir bei der Überzeugung von dem Unwerte aller Worte keinen rechten Haß mehr haben, selbst gegen das Wort Gott. Mag man doch, wenn man den gefährlichen Wunderbegriff durch Bedeutungswandel auf die Wunder der Natur und der Technik bezogen und so – »worüber man sich wundert« – auf seinen Ursprung zurückgeführt hat, auch den noch gefährlicheren Gottesbegriff durch Bedeutungswandel auf alles beziehen, was man zur Welterklärung nicht weiß und doch wissen möchte.


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