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Vierter Abschnitt
Abu Bekr ibn Tophail

 

Averroës

Über die Bedeutung der Juden für die Aufklärung des Mittelalters gibt es Streit, hervorgerufen durch Neigung und Abneigung gegen den jüdischen Stamm. Um so unzweifelhafter, wenn auch im einzelnen nicht immer historisch zu verfolgen, ist die ungeheure Wirkung, welche Averroës (1126-1193) seit dem 12. Jahrhundert auf das Denken des Abendlandes ausübte; blieb doch der römischen Kirche schließlich nichts weiter übrig, als den alten Aristoteles, der durch die Araber zu einer neuen geistigen Weltmacht geworden war, zu rezipieren und durch Verchristlichung unschädlich zu machen; wie die Kirche ja auch heidnische Feste und Gebräuche verchristlichte, wenn sie nicht auszurotten waren.

Averroës, in dessen Darstellung ich zumeist dem bekannten Buche von Renan folge, war kein Umstürzler wie die französischen Enzyklopädisten, war nicht einmal ganz ein aristokratischer Aufklärer etwa wie Voltaire; er zieht nirgends die letzten Konsequenzen aus seiner Kritik und bekämpft keine der positiven Religionen, die nach seiner Meinung alle gleich wahr sind. Er weiß ganz gut, daß diesem Satze sein Korrelat entspricht: alle Religionen sind gleich falsch. Es scheint, daß er sich damit begnügt habe, für sich und seinesgleichen Freiheit der Forschung zu verlangen, dem Pöbel aber die positive Religion erhalten wissen wollte; vielleicht leitete ihn da Menschenverachtung doch, wie einen Voltaire oder einen Friedrich den Großen, vielleicht fügte er sich nur der Macht seiner Kirche, vielleicht war es aber seine ehrliche Meinung, daß die dem Volke notwendige Moral vom vorurteilslosen Denken nicht begründet werden könnte. Eine traurige Folge dieser Halbheit war es, daß just durch Averroës die nichtswürdige Redensart von der doppelten Wahrheit aufkam; ein Satz könne wahr sein für den Philosophen und falsch für den Theologen oder umgekehrt. Hinter dieser Redensart konnte sich – wie bei Averroës selbst – die Unterscheidung zwischen einer esoterischen und einer exoterischen Lehre, zwischen einem bildlichen und einem exakten Ausdrucke verbergen; hinter dieser Redensart konnten die vielen unklaren Geister Schutz suchen, die unsicher zwischen Philosophie und Theologie hin und her schwankten; von der Kirche jedoch wurde am Ende die Lüge von der doppelten Wahrheit benützt, um allen Ernstes das Gebiet des Glaubens von dem des Wissens zu trennen. Wenn die Kirche einmal genötigt war, eine neue wissenschaftliche Wahrheit anzuerkennen, so verschanzte sie sich hinter die Lüge von der doppelten Wahrheit und behauptete buchstäblich: das gehe den Glauben nichts an.

 

Der Robinsonroman

Wer die Gedankenwelt der arabischen Aufklärer des 12. Jahrhunderts kennen lernen will, der hat es bequemer als beim Studium irgendeiner anderen Philosophie; er braucht bloß mit einiger Aufmerksamkeit ein sehr merkwürdiges Buch zu lesen, das in Form eines Romans die gesamte Physik und Metaphysik der freisinnigen arabischen Aristoteliker enthält. Ein Robinsonroman aus dem 12. Jahrhundert, der freilich nur im ersten Drittel der Erzählung so kurzweilig ist wie das berühmte Kinderbuch des Daniel Defoe, denn der alte Araber schreibt nicht für Kinder, läßt seinen Helden sich nicht nur zu einem praktischen Menschen erziehen, sondern auch zu einem wunderlichen Heiligen, der in einer Art Pantheismus, in einer Art Mystizismus die höchste Stufe der Erkenntnis erreicht: die ekstatische Vereinigung mit dem Alleinen. Eine Darstellung ganz freier Vernunftreligion und dennoch ein Andachtsbuch. Es verdient eine eingehende Würdigung um so mehr, weil es eigentlich voraussetzungsloser ist als noch fünfhundert Jahre später der Deismus des Herbert von Cherbury; kein Christ besaß im 12. Jahrhundert eine solche äußere und innere Freiheit; wohl läßt es der Verfasser an schmückenden Koransprüchen nicht fehlen, aber der Islam nimmt auch seine Bibel nicht so dogmatisch, wie die Christen die ihrige. Am Ende läßt der Verfasser keinen Zweifel darüber, daß ihn die positive Religion des Pöbels nichts mehr angehe.

Der philosophische Dichter dieses Robinsonromans hieß Abu Bekr ibn Tophail (meinetwegen Tufeil), wurde zu Anfang des 12. Jahrhunderts in Guadix geboren und starb wahrscheinlich im Jahre 1185. Mediziner und Mathematiker wie alle diese arabischen Naturphilosophen; daneben auch Dichter, nicht nur durch unseren Roman. Am Hofe der Almohaden, die die maurische Macht in Spanien noch aufrechthielten, wurde er geehrt; er soll dem Könige Iussuf den jungen Averroës empfohlen haben, als ein Handbuch über die aristotelische Philosophie verlangt wurde. Averroës und Maimonides, die beiden berühmtesten Denker unter den Mauren und den Juden, sollen seine Schüler gewesen sein. Erhalten ist von seinen Schriften nichts als der Robinsonroman; wahrscheinlich beziehen sich Nachrichten von anderen Schriften Tophails auf eben dieses Buch, so die Notiz, Tophail habe eine Schrift verfaßt unter dem Titel »Geheimnisse der morgenländischen Weisheit«. In dieser Gestalt muß der Roman gleich nach seinem Erscheinen Aufsehen erregt haben; Mauren und Juden beeilten sich, Kommentare und Kommentare zu Kommentaren zu schreiben. Dann wurde es still von der einzigartigen Schrift, bis sie der gelehrte Orientalist Edward Pocock wieder entdeckte und sie von seinem gleichnamigen Sohne ins Lateinische übersetzen ließ. Die Übersetzung nebst dem arabischen Urtext erschien 1671 zu Oxford unter dem klug gewählten Titel » Philosophus Autodidactus«. So war der verschollene Roman Gemeingut der europäischen Welt geworden. Rasch nacheinander kamen drei englische Übersetzungen heraus; die letzte, 1708 von Simon Ockley, ist dadurch merkwürdig, daß der Übersetzer in einem Anhang die Unmöglichkeit einer Religion aus bloßer Vernunft nachzuweisen sucht, wir aber aus diesem Anhang erfahren, daß die englischen Enthusiasten oder Quäker den Roman des Ibn Tophail mit Begeisterung aufgenommen hatten. Der erste englische Übersetzer war selbst Quäker. Für Ockley freilich ist die Übereinstimmung zwischen dem Araber und den englischen Sekten einfach zu erklären: beider Lehren sind Werke des Teufels

Es gibt von dem Romane noch eine holländische Übersetzung und zwei deutsche. Die erste deutsche Übersetzung ist von Pritius (auf dem Titelblatte stehen nur die Anfangsbuchstaben J. G. P.) und erschien 1726; sie ist schon als Sprachdenkmal beachtenswert, obgleich Pritius offenbar aus dem Englischen übertragen hat und zur Vergleichung nur noch etwa die lateinische Übersetzung Pococks hinzuzog. Für das Fehlen der wertvollen Einleitung wird der Leser durch fromme Zugaben nur mangelhaft entschädigt. Der Titel dieser deutschen Ausgabe lautet: »Der von sich selbst gelehrte Welt-Weise; das ist eine angenehme und sinnreiche Erzählung der wunderbahren Begebenheiten des Hai Ebn Yockdahn; darinnen vorgestellet wird, wie derselbe durch das Licht der Natur zur Erkenntnüß natürlichen und übernatürlichen Dinge, absonderlich Gottes, der Unsterblichkeit der Seele und des andern Lebens gelanget sey; Anfänglich im Arabischen geschrieben von Abu Jaafar Ebn Tophail« usw.

Dieser ersten Übersetzung aus der Frühzeit der deutschen Aufklärung folgt eine viel brauchbarere aus deren Spätzeit. »Der Naturmensch oder Geschichte des Hai Ebn Joktan, ein morgenländischer Roman des Abu Dschafar Ebn Tofail. Aus dem Arabischen übersetzt von Johann Gottfried Eichhorn, Professor in Jena. Berlin und Stettin bey Friedrich Nicolai, 1783.« Eichhorn war ein Kenner der orientalischen Sprachen und der arabischen Philosophie; man merkt es seiner Übersetzung überall an, daß der Urtext verglichen ist; seine Arbeit erschien im Verlage der Aufklärung. Es ist beachtenswert, daß der Roman jetzt erst in seiner freigeistigen Tendenz erkannt wurde, während die ersten englischen Übersetzungen – wie gesagt – bei den separatistischen Sekten Beifall finden konnten. Das Buch war so inhaltreich, daß es den Rationalisten wie den Pietisten etwas bieten konnte. Ich erwähne gleich, daß auch Leibniz, in Religionssachen mehr Diplomat und Achselträger als Bekenner, an dem Romane seine Freude hatte, daß endlich auch der vorsichtige Skeptiker Huet den Robinsonroman lobte. Moses Mendelssohn hat das Buch (die englische Übersetzung oder vielleicht die erste deutsche) durch Lessing erhalten. Mendelssohns Urteil beweist wieder einmal seine jüdisch-nationale Beschränktheit; es ist ihm angenehm »die Denkungsart und das ganze System unserer hebräischen Weltweisen in diesem Araber wiederzufinden«; aber dessen Begriffe von der Welt, von der Seele und seine ganze Moral seien höchst elend. Die Schuld trage vielleicht des Arabers Religion. Der Brief Lessings, in welchem er wahrscheinlich sein eigenes Urteil über Ibn Tophail aussprach, ist leider verloren gegangen.

Eindringliche Beschäftigung mit dem Romane hätte für allerlei Abhandlungen Anregung bieten können. Eine Abhandlung: »Über die Märchenfigur des Hai Ebn Joktan, die offenbar dem morgenländischen Sagenschatze schon lange angehörte, von berühmten arabischen Philosophen auch schon benützt worden war, unter dem gleichen Namen (wörtlich: der Lebende, der Sohn des Erwachten), bevor Tophail ihr die endgültige Form gab.« Eine andere Abhandlung: »Über das Verhältnis zwischen dem alten und dem neuen Robinson«, wo dann zu sagen wäre, daß der so viel plattere Defoe leicht die störenden Unwahrscheinlichkeiten seines Vorbildes vermeiden konnte, weil er auf die großzügige Entwicklung eines unbelehrten Kindes zum vollkommenen Weisen verzichtete und nur die Entwicklung des Naturstandes zu behaglichem Komfort darstellen wollte. Ferner eine Abhandlung: »Über die durchgehende Benützung der wirklichen oder der unterlegten Gedanken des Aristoteles«; der Aufstieg des Hai Ebn Joktan ist nicht mehr und nicht weniger als ein Abriß der arabisch-aristotelischen Philosophie, ist ohne deren Kenntnis nicht ganz zu verstehen, setzt bei dem vermeintlichen Autodidakten Hai (der, was noch nicht beachtet worden ist, nicht einmal irgendeiner Menschensprache mächtig war) ein tiefgehendes Studium der arabisch-aristotelischen Philosophie voraus. Endlich eine Abhandlung: »Über die Geistesfreiheit, die der Boden des Islam vor dem des Christentums gewährte«; ein christlicher Denker des 12. Jahrhunderts konnte ein solches Buch unmöglich schreiben. Ich aber darf alle diese Fragen nur leicht berühren, darf mich weder bei den kleinen Abenteuern des Helden noch bei seinem fabelhaften inneren Wachstum aufhalten, wenn ich das für meinen Zweck Wesentliche hervorheben will, die freigeistige Tendenz des Romans.

Mit mehr ironischem als künstlerischem Verstande verläßt Tophail gleich zu Anfang die Welt des Märchens, da er für die Entstehung Hais zwei Möglichkeiten offen läßt: Hai sei entweder, wie in alten Büchern zu lesen und dort sehr genau beschrieben, ohne Eltern von der Erde erzeugt worden oder es habe ihn seine Mutter auf der unbewohnten Insel ausgesetzt. Genug daran, ein Reh hat ihn gesäugt und ein unerhörter Wissenstrieb hat ihn von der zartesten Jugend an angetrieben, seine natürliche Umgebung zu begreifen und von Stufe zu Stufe – wirklich, wie an der Hand eines Lehrbuches – zur Erkenntnis aller Naturgesetze und der übersinnlichen Geisteswelt emporzuklimmen. Wollten wir uns gegen die ungeheuerlichen Unwahrscheinlichkeiten verwahren, so müßten wir sagen: nur die Versenkung in die Mystik ist bei dem Wunderkinde ohne Belehrung und ohne Sprache vorstellbar, nicht aber die ganz von selbst erworbene Erforschung von Physik, Mathematik, Astronomie, Anatomie, Physiologie und Psychologie. Einerlei. Wir nehmen die Unwahrscheinlichkeiten gern mit in Kauf.

Hai lernt also mit erstaunlicher Schnelligkeit von dem Reh und von den anderen Tieren für seine nächsten Bedürfnisse zu sorgen, auch wohl von der Natur selbst für etwas menschliche Kultur, wie den Gebrauch des Feuers. Der Tod des Rehs weiht ihn in die Geheimnisse des Lebensprinzips und des Verhältnisses zwischen Geist und Körper ein. Nun treibt er mit fliegender Eile vergleichende Naturwissenschaft oder vielmehr Naturphilosophie. Jedes Tier bilde eine Einheit, weil Ein Geist alle Organe lenkt; aber auch alle Tiere einer Gattung haben nur Einen Geist, sind also wieder eine Einheit, ebenso alle Tiere insgesamt, ebenso alle Pflanzen, die ja beseelt sind, und Pflanzen und Tiere zusammen. Endlich bilden auch alle unorganischen Körper mit den organischen zusammen eine Einheit. Die Welt ist Alleinheit. (In der Darstellung wird da von dem aristotelischen Begriff der »Form« ebenso überreichlich Gebrauch gemacht, wie in der gleichzeitigen christlichen Scholastik; auch von den Beziehungen der Körperlichkeit zur Ausdehnung ist viel scholastisches Gerede.) Schon der Tod des Rehs hat bei Hai eine Verachtung gegen den Leib geweckt; die formgebende Seele scheint ihm allein der Aufmerksamkeit wert. Er war inzwischen viermal sieben Jahre alt geworden und begann (recht scharfsinnig) die Begriffe von Raum, Zeit und Unendlichkeit zu untersuchen, auch den Begriff des ersten Bewegers. Wie er das ohne Gebrauch der Sprache möglich machte, das mag dahingestellt bleiben. Über die Ewigkeit der Welt (man erinnere sich, daß wegen dieser Behauptung Aristoteles selbst für einen Atheisten erklärt wurde) gelangte er zu keiner Gewißheit, nur darüber, daß der Urheber des All-Einen weder in einem Körper, noch außerhalb eines Körpers gedacht werden könnte. Über die Vollkommenheit dieses höchsten Wesens freilich, über seine Weisheit und Güte wurde er sich klar; zu auffallend war die Zweckmäßigkeit aller Geschöpfe und Naturgesetze.

Als er fünfmal sieben Jahre alt geworden war, begann er sich von der Sinnlichkeit abzuwenden und sich völlig der Erforschung seines eigenen übersinnlichen Wesens zu widmen. Was aus den Wahrnehmungen seiner Sinne stammte, befriedigte ihn nicht mehr; er empfand die Sehnsucht, das Anschauen durch seine übersinnliche Seele allein zu genießen, dessen sich sichtbarlich nicht die Tiere und Pflanzen erfreuten, sondern nur er und etwa noch die himmlischen Gestirne. Er war also wesentlich verschieden von allen anderen Tieren. Diese Verschiedenheit mußte einen vernünftigen Zweck haben. (Wieder hält sich Hai streng an Aristoteles, an die Lehre von den Elementen und an die Begriffe actu und potentia.) Sein Lebenszweck ist Abwendung von der Sinnenwelt und Versenkung in das Anschauen eines Wesens von notwendiger Existenz. Diese Versenkung, durch Übung erworben, läßt das persönliche Wesen von selbst in Nichts verschwinden. Die Übung erlangt er auf dem Wege einer Askese, die uns mit ihren wunderlichen Vorschriften und ihrer Tierliebe buddhistisch anmutet. Die Übung in der Erzeugung eines ekstatischen Zustandes wird durch Mittel gesteigert, die an die wilden Bewegungen der tanzenden Derwische erinnern. An Nahrung darf nicht mehr genommen werden, als nötig ist, um seinen Leib und damit den Tiergeist in sich zu erhalten. Die Übung, durch Askese dem höchsten Wesen in allen Eigenschaften ähnlich zu werden, steigert sich zu einer ordentlichen Technik des mystischen Eingehens in die All-Einheit. Himmel und Erde verschwinden und das einzige Wesen ewiger Existenz spricht mit ihm. »Und er verstund seine Worte und hörte seine Rede. Denn daß er keine Sprache verstund und nicht reden konnte, das hinderte ihn nicht, sie zu verstehen. Er war in diesen Zustand tief versenkt und sah, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehöret und in keines Menschen Herz gekommen ist.« Was kein menschliches Herz fassen könne, das sei in Worten doch nicht auszudrücken; man könne Farben nicht kosten, nicht untersuchen, ob schwarz süß oder sauer sei; gefährlich sei der Versuch, das mit Worten vorzustellen, was sich seiner Natur nach nicht mit Worten fassen lasse.

Für die Einheit der Welt, die dem Menschenverstande und seiner Sprache als eine Vielheit erscheine, bringt Tophail ein Bild bei, das an Schönheit das berühmte Bild Platons von der Höhle übertrifft. In der höchsten Sphäre, über der kein Körper ist, ist nur etwas wie das Bild der Sonne in einem Spiegel, in der nächsten Sphäre ist wieder ein unkörperliches Wesen zu erblicken, aber jetzt nur das Spiegelbild des ersten Spiegelbildes; und so weiter in jeder nächsten Sphäre das dritte, vierte, fünfte Spiegelbild des höchsten Wesens, bis man endlich in die Welt des Entstehens und des Untergangs gelangt, die sublunarische Welt. Hier schaut man das all-eine Wesen im soundsovielten Spiegelbilde wieder; es hat hier siebzigtausend Gesichter, an jedem Gesichte siebzigtausend Münder, in jedem Munde siebzigtausend Zungen, die das all-eine Wesen preisen. Auch dieses Wesen ist nicht vielfach, ist einfach, ist wieder ein Bild der Sonne, wie es sich in einem wallenden Wasser zeigt, das in sich das Bild des letzten Spiegels bricht. Der Asket (von dem uns erzählt worden ist, daß er von dem Dasein anderer Menschen nichts ahnte) kommt so zu der Erkenntnis, daß er und seinesgleichen nur die Wahrheit der All Einheit begreifen, daß andere ähnliche Geschöpfe, schmutzigen Spiegeln gleich, zu Unwissenheit und sichtbarlich auch zu Höllenqual verurteilt sind. Trotz dieses Rückfalls in abergläubische Religionsvorstellungen (die aber ebenfalls dem späteren Buddhismus nicht fremd sind) wird das Bild vom Spiegel prachtvoll weitergeführt. Die Anschauung des all-einen Wesens dauere mit der Dauer der Spiegel; wenn ein Spiegel zugrunde gehe, müsse auch das Bild verschwinden. Man dürfe aber nicht vergessen, daß ein Gleichnis die Sache niemals völlig genau treffe. Für die Sonne sei es gleichgültig, ob alle ihre Spiegel untergehen. Und der scheinbare Untergang sei immer nur eine Veränderung.

Hai brachte es schließlich in der mystischen Technik so weit, daß er sich jederzeit in diesen Zustand der Verzückung versetzen konnte; immer aber wieder verlangte die Notdurft seines sinnlichen Leibes, daß er zu der äußeren Welt der Vielheit zurückkehrte. Dann verschwand zu seinem Kummer die göttliche Welt vor seinen inneren Augen. »Diese sublunarische Welt und jene andere sind wie zwei eifersüchtige Weiber; lebst du einer zu Gefallen, so wirst du die andere zum Zorne reizen.«

Als Hai sieben mal sieben Jahre alt geworden war, fand er auf seiner einsamen Insel einen Gefährten, wie Defoes Robinson seinen Freitag; aber auch dieses Abenteuer Hais hat keinen anderen Zweck als den, den Helden der Geschichte zu religiösen Fragen Stellung nehmen zu lassen. Fern von allen Menschen hatte sich der Autodidakt Hai zu einem deistischen Mystiker entwickelt; die Menschen mit ihrer positiven Religion erwecken in ihm den Freigeist. Man könnte es auch so ausdrücken: ohne Menschenumgang und ohne Menschensprache erwirbt Hai die Weltanschauung eines deistischen Mystikers; die Menschensprache bringt ihn zur Verwerfung aller positiven Religion.

Der neue Gefährte Hais war Asal; der stammte von einer benachbarten Insel, auf welcher die Menschen alle einer Sekte angehörten, die bestimmte Vorstellungen mit bestimmten Redensarten ausdrückte. Es war da also eine Staatsreligion, zu der auch Asal gehörte. Während aber der mächtige Salaman dort gedankenlos die äußeren Vorschriften dieser Staatsreligion befolgte und so zu Ansehen kam, forschte Asal nach einem tieferen Sinn und entfernte sich allmählich von seinen Religionsverwandten. Endlich aber genügte ihm diese Absonderung nicht und er ließ sich nach der vermeintlich menschenleeren Insel Hais übersehen, um als ein beschaulicher Mönch dem Nachdenken über seinen Glauben zu leben. Wochen vergingen, bevor die beiden Einsiedler voneinander Kunde erhielten; als sie einander dann dennoch begegneten, kam es zwischen Hai, der noch nie einen Mitmenschen gesehen hatte und ja nicht sprechen konnte, und Asal, der jeden Verkehr mit einem Mitmenschen vermeiden wollte, zunächst zu ergötzlichen Mißverständnissen. Schließlich beruhigte sich Asal, weil der sprachlose Hai seinem geläuterten Glauben nicht gefährlich werden konnte; ihre Freundschaft begann damit, daß Asal den Hai im Gebrauche der Sprache unterrichtete. Nun aber stellte es sich bald heraus, daß die sprachlose Mystik Hais und die geläuterte, rationalistische Religion Asals die gleiche Weisheit lehrten: Vereinigung mit dem höchsten Wesen, daß also die Vernunfterkenntnis (Vernunft ohne Sprache vorgestellt) mit der Offenbarung übereinstimmte. Sie nahmen viel voneinander an; nur daß Hai nicht begreifen konnte, warum die Lehren des Propheten in sinnlichen Bildern bestanden und gar von Belohnungen und Strafen redeten, warum die Religion Asals irdischen Besitz, überhaupt Eigentumsbegriffe zuließ. Weil er die Menschen für so gut hielt, wie er selber war, leuchtete ihm weder das Verbot des Diebstahls, noch das Gebot des Almosenspendens ein. Asal hatte keine so gute Meinung von seinen Religionsverwandten gefaßt; nach einigem Zögern willigte er aber darein, aus einem von Wind und Wellen verschlagenen Boote mit Hai auf seine Insel zurückzukehren und zuzusehen, wie Hais tiefste Weisheit auf die klügsten Gläubigen seiner Religion wirken würde. Diese hörten den Naturweisen geduldig an, solange er ihnen seine Naturerklärung vortrug; als er aber die sichtbare Welt verließ und seine letzte Einsicht aussprach, faßten sie Widerwillen und Haß gegen ihn. So erkannte Hai, wie einst Asal erkannt hatte, daß diese Religionsgenossen ihren Glauben nur um der Welt willen beibehielten, daß von den Führern die Religion nur gepflegt würde, um das Volk im Zaume zu halten, daß demnach das Gesetz des Propheten, wenn man erst die Beschaffenheit der Menschen durchschaute, wirklich alles enthielt, was zur Leitung und Besserung der Menge nötig war. Dem Volke müßte also seine Religion erhalten bleiben. Nach dieser schmerzlichen Erkenntnis nahm er vor der Heimkehr nach der einsamen Insel Abschied von den klugen Lenkern des gläubigen Volkes und tat das mit Worten einer abgründig traurigen Ironie; denn er wußte jetzt wie sein Freund Asal, daß die sklavisch-rebellische Menschenart auf diesem Wege verhältnismäßig glücklich werden könnte. Die ironischen Abschiedsworte aber lauten: »Zweifelhafte Dinge sollten sie glauben und nicht darüber grübeln, hingegen sich vor allen neuen Meinungen hüten und sich daran nicht vergnügen; sie sollten ihren frommen Vorfahren nachahmen, Neuerungen aber fliehen. Er empfahl ihnen, wie der Pöbel die Gesetze nicht zu übertreten und diese Welt zu lieben – dies schärfte er ihnen aufs dringendste ein.« Die Freunde fanden den Weg zurück, Hai den Zustand der Vereinigung mit dem All-Einen, Asal eine Reinheit der Religion, die nicht weit hinter Hais Erhabenheit zurückblieb. So verehrten sie ihren Gott, bis der Tod beide hinwegnahm.

Tophail ist sich klar bewußt, daß sein Buch der Welt zum ersten Male die geheime Weisheit älterer Denker mitgeteilt habe. Was es biete, sagt er in einer kurzen Nachschrift, sei in keinem Buche zu finden und in der gemeinen Sprache nicht zu hören. Und er spricht es deutlich aus, daß man noch zwischen den Zeilen zu lesen habe, daß seine wahre Meinung noch schärfer ausgedrückt worden wäre, zum Geheimnis der Geheimnisse vorgedrungen wäre, wenn er die volle Freiheit des Wortes gehabt hätte. »Doch ist das Geheimnis, das wir diesen wenigen Blättern anvertraut haben, nicht ohne einen dünnen Schleier vorgetragen, den der geschwind zerreißen wird, der es fassen kann; der aber für den, der nicht würdig ist weiterzugehen, zu dicht sein wird, um durch ihn hindurchzudringen.«


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