Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dritter Abschnitt
Aufklärung bis zum 13. Jahrhundert

Für die Neuzeit, etwa seit der Renaissance oder doch seit der Reformation, deckt sich die Geschichte der Gottlosigkeit oder des Atheismus vielfach mit der Geschichte der Aufklärung; für das Altertum, weil es eine herrschende Kirche nicht gab, ist die Geschichte des Atheismus eigentlich ein Ausschnitt aus der Geschichte der Philosophie; im Mittelalter, etwa von Karl dem Großen bis auf Kaiser Friedrich II. kreuzt und verschlingt sich die Geschichte des Atheismus oft unentwirrbar mit der Kirchengeschichte, mit der Ketzergeschichte: es gab Ketzer, die die allergläubigsten Christen waren und nur darum nicht rechtgläubig; es gab andere Ketzer, die sich an irgendeine Abweichung im Glauben anzuschließen schienen, nur um in ihrem Abfall vom Glauben nicht allein zu stehen. Im Altertum und in der Neuzeit war das Bekenntnis zur Gottlosigkeit fast immer mit einiger Gefahr verbunden; im Mittelalter war ein martervoller Tod schon dem Ketzer gewiß, ein Bekenntnis zur Gottlosigkeit schien undenkbar, war unerhört, obgleich die Fäden, die den modernen Atheismus mit dem antiken verbinden, niemals ganz abgerissen waren.

Aus diesen Gründen begegnet die Geschichtschreibung des Atheismus in diesen drei Zeiträumen, die nicht ganz willkürlich auseinander gehalten werden, verschiedenen Schwierigkeiten. Die Darstellung der dritten Epoche ist nur mühsamer, weil die Quellen mit ungleicher Stärke fließen und weil die wahre Absicht der Aufklärer aus der verhüllenden Ausdrucksweise erst herauszuschälen ist; mindestens die Befreiung von der Kirche und vom Christentum ist bei den führenden Männern am Ende immer festzustellen; und auch der Übergang von einer deistischen Vernunftreligion zum Atheismus ist eine der Kritik oft lösbare Aufgabe. Die Darstellung der ersten Epoche war für unsere Sprache dadurch besonders erschwert, daß die Gottheit der griechischen und römischen Philosophie (das gilt wahrscheinlich nicht so für die Gottheiten des antiken Volksglaubens) kein so wohlbekannter, im Katechismus genau beschriebener, ich möchte sagen: begrifflich festgelegter Gegenstand war, wie der Gott der Kirche. Darum ließen sich die griechischen und römischen Begriffe von Glauben und Gottlosigkeit nicht einfach und ohne Vorbehalt in die neueren Sprachen übersetzen. So war z. B. in Rom ein atheistischer Pontifex vielleicht nur ein unklarer Kopf, vielleicht nur so unbewußt feige wie heute ein Richter, der ein Gesetz anwendet, das er de lege ferenda abschaffen möchte; wenn es nachher in Rom atheistische Päpste gab, so begingen sie die Sünde am Heiligen Geiste.

 

Mittelalter

Die Darstellung der mittelalterlichen Gottlosigkeit aber bietet außer allen anderen historischen Aufgaben noch psychologische Schwierigkeiten, die nur selten völlig zu überwinden sind. Nicht nur wegen der Lebensgefahr war damals ein Bekenntnis zur Gottlosigkeit beinahe undenkbar, auch aus inneren Gründen der gemeinsamen Seelensituation des Mittelalters; verwaltete doch, als man an die alte Kultur wieder anknüpfte, die Kirche allein das langsam wachsende Reich der Wissenschaft und des Denkens; waren doch ganze Jahrhunderte einer wühlenden Geistesarbeit nötig, um auch nur die Redensart von der doppelten Wahrheit zu erfinden, hinter der der Widerspruch zwischen Wissen und Glauben sich eine Zeitlang verstecken konnte. Durch das Wissen und die Schule konnte die Kirche den Staat beherrschen, aber auch jeden Atemzug des einzelnen, mit weniger Bewußtheit als heute, aber mit besserem Erfolge. Man könnte das Paradoxon aufstellen: die Welt, die Frau Welt, also das Gegenteil des Christentums, war nahe daran, christlich zu werden. Um nun in dieser Zeit nur vom Dogma abzufallen, ein Ketzer oder ein Reformator zu werden, mußte ein Geistlicher schon sein Leben und sein bißchen Lebenszeit daran wagen; Vorbedingungen einer solchen Aufgabe waren: gründliches Studium der damaligen Wissenschaft, also der Theologie, und die Kampflust eines furchtlosen Herzens. Diese Vereinigung von Gelehrsamkeit und Charakter war schon selten. Vollends aber der Abfall vom Christentum oder gar vom Gottglauben war gar nicht zu vollziehen in einer Seele, die von Kindheit an nichts kennen gelernt hatte als eben diesen Glauben und diese Dogmen. Durch ihre Erziehung wurden die Kleriker und ihre adeligen Mitschüler blind gemacht für jeden Zweifel, farbenblind für die unchristliche Welt der Wirklichkeit. Da erforderte im christlichen Abendlande – bevor die Araber die Vergleichungsmöglichkeit mit einer zweiten Religion und dazu die alten Antworten auf alte Religionsfragen herüberbrachten – die Loslösung von Christus oder gar von Gott eine persönliche Lebensarbeit, die fast über Menschenkraft ging; hätte sich doch in dieser christlichen Umwelt ein Unchrist oder gar ein Gottesleugner nicht nur äußerlich ausgestoßen gefühlt, sondern sich auch innerlich als einen Ausgestoßenen, als einen Verirrten, als einen Unmenschen, als ein Ungeheuer fühlen müssen. Es mußten ihm Zweifel an seinem Zweifel kommen, solange es nicht Gemeinden oder Genossen der Gottlosigkeit gab. Viele der stärksten Geister halfen sich nun so, daß sie an einzelnen Steinen rüttelten, weil sie sich dem ganzen Kirchengebäude gegenüber ohnmächtig fühlten; sie mochten den Trieb fühlen, das Ganze zu verneinen, verurteilten sich aber selbst zu der unwahren Rolle von Ketzern oder Reformatoren, die das Ganze stützten, indem sie brüchige Steine zu ersetzen suchten. Es lag in den Umständen, daß sowohl die Reformatoren als auch die eigentlichen Zweifler sich nur gegen die allgemeine oder katholische Kirche wandten, weil es amtlich in den neuen Kulturländern eine andere christliche Kirche nicht gab. Um die Vorstellung lebendiger zu machen, denke man bei den Reformatoren an so übergläubige, tiefchristliche Männer wie Franziskus von Assisi oder Luther, bei den Zweiflern an die Averroisten der Pariser Universität im 12. Jahrhundert. In solchen Fällen ist die Unterscheidung zwischen Glaubensinnigkeit und Glaubenslosigkeit leicht; in sehr vielen anderen Fällen wissen wir von dem Leben und von den Schriften der Ketzer zu wenig, um mit Sicherheit etwas darüber ausmachen zu können, ob sie im Herzen mehr fromme Reformatoren oder unchristliche, ja gottlose Zweifler waren; denn – was nicht zu vergessen ist – auch eine Mischung beider Stimmungen oder ein Wechsel zwischen beiden war in jenen Zeiten möglich, von deren angeborener und anerzogener Unfreiheit wir uns nur schwer einen ausreichenden Begriff machen können. In allen diesen ungeklärten Fällen ist es die schwierigste Aufgabe einer psychologischen Kritik, aus den Zeitumständen, aus den Wirkungen, aus den böswilligen Berichten der kirchlichen Gegner (mitunter den einzigen Quellen) die eigentliche Gesinnung des Ketzers mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erraten.

 

H. Reuter

Ich brauche nicht erst zu sagen, daß mein Leitfaden in diesem Wirrsal zumeist Hermann Reuters Buch gewesen ist »Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter«. Die beiden Bände sind in dem schlechten Stil geschrieben, durch welchen die deutsche Gelehrsamkeit einst verrufen war; aber zu einer umfassenden Sachkenntnis kommt ein guter historischer Blick und die überaus reichen Quellennachweise gestatten dem aufmerksamen Leser fast überall, die Urteile des Verfassers nachzuprüfen. Reuter hat vortrefflich unterschieden zwischen den immer noch kirchlichen Versuchen, die christliche Religion historisch-kritisch oder vernunftgemäß umzugestalten, und der eigentlichen Aufklärung, die entweder eine fast dogmenlose Naturreligion einführen oder die Religion überhaupt abschaffen wollte. Das große Verdienst Reuters bestand darin, daß er die Legende von einem unwidersprochen abergläubischen Mittelalter zerstörte und alle Nachrichten und Forschungen sammelte, die das Vorhandensein einer mittelalterlichen Aufklärung auch vor den Anfängen der Renaissance bewiesen.

 

Karl der Große

Die Darstellung Reuters beginnt mit dem Zeitalter Karls des Großen. Der fühlte sich zwar als einen Erben der römischen Kaiser, der als solcher auch Pontifikalgewalt hatte und seinen Untertanen Kirchenbesuch und Auswendiglernen von Paternoster und Credo bei Prügelstrafe befehlen durfte, der christlichen Kultus ordnen konnte wie ein römischer Kaiser den heidnischen, aber er war in allen weltlichen Dingen weltlich und verachtete manchen kirchlichen Aberglauben, der noch heute im Katholizismus oder im Pietismus blüht. Der Mann, der das Taufen der Glocken, die Sprüche gegen den Hagel und die Losprophezeiungen aus der Bibel untersagte, war ein Aufklärer gegenüber dem heidnischen oder christlichen Aberglauben seiner Völker. Er wollte nicht so sehr ein treuer Diener der Kirche sein als ihr Herr, der katholischen Kirche, welcher damals bereits die wichtigsten dogmatischen Grundlagen gelegt waren, welche jedoch noch durchaus nicht die reichen und festen Formen angenommen hatte, die heute für uralt und für unveränderlich gelten. Karl war mächtiger als der Papst, gebrauchte aber seine Macht so, wie er es für das beste der Kirche hielt; wir würden seine Auffassung bald aufklärerisch, bald rechtgläubig nennen. So hielt er zwischen seinen Schlachten eine Synode zu Frankfurt am Main ab (794), auf welcher er zugleich einen orthodoxen und einen vom Standpunkte des späteren Katholizismus äußerst revolutionären Beschluß fassen ließ; er ließ zugleich den Adoptianismus und den Bilderdienst verdammen. Die Adoptianer waren halbe Arianer; gemäß ihrer Lehre war Jesus nur nach seiner göttlichen Natur ein Sohn Gottes, nach seiner menschlichen Natur ein Sohn Josephs, von Gott nur adoptiert; Karl duldete diese künstliche Konstruktion nicht, deren spanische Erneurer vielleicht nur dem neuen Islam, dem Eroberer von Spanien, entgegengekommen waren. Auf der gleichen Synode wurde aber auch ohne Rücksicht auf die Anschauung des Papstes die Anbetung und der Dienst ( adoratio et servitus) der Bilder verboten, der Bilder, die kurz vorher auf einem orientalischen Konzil nicht gerade der göttlichen Ehren würdig, aber einer ähnlichen Verehrung wert erklärt worden waren. In der kräftigsten Sprache, die an den Reformator Luther gemahnt, wandte sich Karl gegen die aufkommende Bilderreligion; sie wird als Götzendienst des Pöbels der Verachtung preisgegeben. Ein Satz aus der Denkschrift Karls oder seines Theologen klingt uns geradezu rationalistisch: »Die Anbetung der Bilder ist unvernünftig; das Unvernünftige kann selbst durch ein Wunder nicht vernünftig werden.« Wir müssen uns aber hüten, unsere Begriffe in den verstaubten Satz hineinzulegen. Das Wunder wird nicht geleugnet.

Unter dem Nachfolger Karls, dem Zertrümmerer des fränkischen Weltreichs, dem Kaiser Ludwig, den wir den Frommen, die Franzosen le Débonnaire nennen, hörten solche Strömungen nicht auf, obgleich er mehr und mehr unter den Einfluß der Geistlichkeit geriet. Der Bischof Claudius von Turin predigte und verlangte einen puritanischen Gottesdienst und war ein rechter Bilderstürmer. In seiner Polemik gegen den äußeren Gottesdienst der Kirche verschmäht er einen für das jetzige Gefühl blasphemischen Hohn nicht; wer jedes Kreuz anbete, weil der Heiland daran gehangen habe, der könne auch jeden Esel anbeten, weil der Heiland auf einem Esel in Jerusalem einzog. Bischof Claudius war vor mehr als tausend Jahren so antikatholisch, reformatorisch, gelegentlich beinahe pietistisch, daß ihm in der Hitze des Gefechts scheinbar antichristliche Äußerungen entschlüpfen konnten; man glaubt in einzelnen Worten schon eine Vorahnung des Deismus zu finden, der ja der exoterischen Volksreligion (bei Toland) eine esoterische Urreligion der Gebildeten gegenüberstellte. In Wahrheit wird Bischof Claudius aber doch ein reinigender Ketzer gewesen sein.

 

Agobard

Ebenfalls unter Ludwig dem Frommen lebte und lehrte Agobard, Erzbischof von Lyon, der wahrscheinlich ein ebenso guter Christ war wie Bischof Claudius, aber nicht nur in der Hitze der Polemik, sondern in gelehrter Ruhe Sätze bildete, die – wenn man den Geist der Zeit unbeachtet läßt – selbst an die Phraseologie des 18. Jahrhunderts erinnern können; er ist darum auch der hellste Kopf des 9. Jahrhunderts genannt worden. Man staunt wirklich, wenn man in solcher Vorzeit die Behauptung findet, das Christentum habe die Welt nur noch mehr verfinstert; es herrsche, wenigstens im Frankenreiche (also im christlichen Abendlande), eine so große Dummheit, daß die Christen blödsinnigere Dinge glauben, als man den Heiden einreden konnte; man lasse sich von den lächerlichsten Ammenmärchen erschrecken. Man verzichte auf den richtigen Gebrauch der Vernunft. Die Geistlichkeit mißbrauche den Aberglauben, um dem Volke Geld zu erpressen, wie durch das angebliche Wettermachen. Das Dasein des Teufels wird nicht geradezu geleugnet, aber die Versuchungen des Teufels werden ganz modern auf Autosuggestion zurückgeführt. In einem Falle, wo unglückliche Menschen sich selbst beschuldigten, und das noch ohne Anwendung der Tortur, durch den Teufel zur Verbreitung einer Pest angestiftet worden zu sein, erklärt Agobard diese Selbstbeschuldigung aus naturwissenschaftlichen Gründen für eine Selbsttäuschung, einerlei ob die der Teufel verschuldet habe oder nicht. Der Glaube an das Gottesurteil im Zweikampf wird wieder als Aberglaube enthüllt: nicht der Gute siege, sondern der Starke. Es wäre also gar nicht unberechtigt, diesen Agobard als den ersten Aufklärer zu nennen, der gegen den Unfug des Gespenster- und Hexenglaubens auftrat, ja, der jede supranaturalistische Weltanschauung bekämpfte und so als ein Naturalist erscheint.

Auch in seiner Geschichtsauffassung. Er fühlte sich sicherlich nicht als ein Werkzeug Gottes, da er in den erbitterten Kämpfen um die Aufteilung des Frankenreichs gegen den geistlich geleiteten Kaiser Partei nahm; für ihn war die Politik vom Dogma unabhängig. Aber auch theoretisch leugnete er vorsichtig die Leitung der Völkergeschicke durch die göttliche Vorsehung. Die Vorsehung selbst leugnete er nicht, nicht eine ausgleichende Gerechtigkeit, etwa im Jenseits. Auf der Erde aber gehe es menschlich zu. In einer Zeit, welche die fränkische Geschichte als Gesta Dei per Francos bezeichnete, wollte er die Ereignisse durch menschliche Taten allein erklärt wissen; die ganze Weltgeschichte hätte ganz anders verlaufen müssen, wenn Gottes Hand in ihr sichtbar sein sollte. Weil wir Gottes Willen nicht sehen, müssen wir uns eben damit begnügen, an ihn zu glauben. Agobards Intoleranz, besonders gegen die Juden, beweist gar nichts gegen seine aufklärerische Gesinnung; noch fast tausend Jahre später hat es Aufklärer gegeben, die nicht christgläubig waren und dennoch die Toleranz nur innerhalb der christlichen Konfessionen geübt wissen wollten.

Von einer Bibelkritik im Sinne des Humanismus oder gar unserer Zeit konnte natürlich in seinem unkritischen Jahrhundert noch nicht die Rede sein; aber auch da fehlt es bei Agobard nicht an einem modernen Zuge. Die göttliche Inspiration der beiden Testamente leugnet er nicht, behauptet er sogar (vielleicht nur, um sich im Streite zu decken) sehr scharf; aber nur der Sinn sei inspiriert, nicht das Wort; im Gebrauche der Worte habe sich jeder Verfasser zu der Gemeinsprache seiner Zeit herabgelassen. Sein Hauptgegner witterte in solchen Lehren auch schon gefährliche, bibelkritische Tendenzen.

 

Fredegis

Dieser Gegner, der Abt Fredegis (gest. 834), Schüler des gelehrten Alcuin und Kanzler des Kaisers Ludwig, erscheint uns leicht als ein scholastischer Wortrealist vor der Scholastik und vor dem Kampfe um den Nominalismus, weil er in seiner Darstellung und Verteidigung der biblischen Schöpfungsgeschichte die dingliche Realität so negativer Begriffe wie Nichts und Finsternis behauptete; Agobard bekämpfte viele Meinungen des Abtes Fredegis und so könnte man geneigt werden, den weltlich und gewissermaßen naturwissenschaftlich denkenden Erzbischof von Lyon für einen verfrühten Nominalisten zu halten. In Wahrheit wissen wir nicht einmal das genau, ob Agobard eher als Fredegis die Vernunft über die Autorität stellte; in Wahrheit wird Fredegis mit seiner verwegenen Gleichung (ungefähr: Nichts = Etwas = Gott) mystisch gerichtet gewesen sein, fast unhistorisch könnte man sogar sagen: pantheistisch; just ihm gegenüber war Agobard Aufklärer in allen menschlichen Dingen, als Theologe nüchtern, dem Rationalismus geneigt, wenn auch immer in der irrationalen Sprache seiner Zeit.

 

Gottschalk

Wenn nach dem Tode Ludwigs des Frommen allerlei Streitigkeiten über Geheimnisse des Glaubens ausbrachen, über das Wunder von Christi Geburt und über das Wunder des Abendmahls, so mochte die Wirkung bei dem weniger wundersüchtigen Teile der Bevölkerung einem aufklärerischen Spotte günstig gewesen sein, weil namentlich die halb schwärmerische, halb geburtshilfliche Phantasie der Nonnen zu jedem Widerspruche herausforderte und auch der begrifflich dogmatische Streit über das Abendmahl erst recht zum Nachdenken veranlaßte; aber diese Streitigkeiten wurden doch allgemein im Geiste des wachsenden Zauberglaubens geführt, und auch bei der besonneneren Partei kam es nicht zu einer Verwerfung der Wunder. Auch der unglückliche Mönch Gottschalk von Orbays (868 im Gefängnisse gestorben) war sicherlich kein Aufklärer, sondern ein ketzerischer Reformator; aber seine Lehre und sein Schicksal hatten abermals die Wirkung, daß eine Vertiefung in eine der schwierigsten theologischen Fragen angeregt wurde, in die Frage nach Willensfreiheit und Vorsehung. Ob er über die Dreieinigkeit wie ein Arianer dachte, also vom Standpunkte der abendländischen Kirche unchristlich, vom historischen Standpunkte aus deistisch, das wird kaum mehr auszumachen sein; gewiß ist nur, daß er ungefähr siebenhundert Jahre vor Calvin den Calvinismus lehrte; und der Calvinismus ist, obgleich er die Unfreiheit des menschlichen Willens voraussetzt, von Aufklärung praktisch noch weiter entfernt als der Katholizismus. Bekanntlich wurde Gottschalk um die Mitte des Jahrhunderts (849) auf Befehl des Erzbischofs von Mainz, des in Latein und Kirchenzucht sehr starken Hrabanus Maurus, in Gottes Namen solange gepeitscht, bis er seine Überzeugung widerrief; zu lebenslänglichem Kerker verurteilt, nahm er seinen Widerruf wieder zurück. In dem trotzigen Eintreten für das, was er subjektiv für die Wahrheit hielt und wofür er sich wie Freund und Feind auf Augustinus berief, war er nur antikatholisch; aber die bloße Möglichkeit eines so leidenschaftlichen Subjektivismus rüttelte an den Grundlagen der Kirche und stellte das Heil durch die Kirche in Frage. Und mit der Grübelei über die Prädestination war wieder einmal der Anfang gemacht zu Grübeleien über das Wesen des Menschen (Freiheit) und über das Wesen Gottes (Güte und Gerechtigkeit). Wenn man damals schon den Begriff Optimismus gekannt hätte, so hätte an das Auftreten Gottschalks bereits der aufrührerische Streit über Optimismus und Pessimismus angeknüpft werden können, das ist der Streit über eine göttliche oder natürliche Lenkung der Welt.

Man darf sich durch die Erscheinung der starken Geister – damals waren auch Ketzer starke Geister – nicht darüber täuschen lassen, daß sie Ausnahmen waren, daß der Stand der allgemeinen Bildung im Abendlande immer geringer wurde. Das wurde nicht so eigentlich durch das Christentum selbst verschuldet wie durch die Unwissenheit der Volksmassen und durch die Roheit des niederen Klerus, der mit dem Volke zu tun hatte. Dagegen half es wenig, daß Kaiser Karl der Kahle, der unkriegerische, Neigung und Zeit genug hatte zu fördern, was etwa noch an Wissenschaft vorhanden war. Es wird wohl darauf hinausgelaufen sein, daß die Hofgeistlichen (andere Gelehrte gab es kaum) miteinander wetteiferten, dem Beschützer ihre Schriften mit kriecherischen Redensarten zu widmen. Er scheint eine gewisse Freiheit der Disputation zugelassen oder gar gewünscht zu haben, vielleicht um durch seine Hofgeistlichen bevorstehende Beschlüsse der Synoden beeinflussen zu können. Aber wenn Karl der Kahle sich auch nicht schließlich immer den kirchlichen Entscheidungen unterworfen hätte, wären seine Bestrebungen um Hebung der Kultur unfruchtbar geblieben, weil sie bestenfalls den Theologen zugute kamen, weil irgendeine untheologische Wissenschaft von Amts wegen nicht gepflegt wurde und weil im Volke noch jede Entwicklungsmöglichkeit zu Wissenschaft oder geistiger Freiheit fehlte.

 

Scotus Erigena

Doch auch die Starkgeisterei selbst der gelehrtesten und freiesten Männer jener frühscholastischen Zeit darf man nicht so verstehen, wie die Begriffe Denkfreiheit und untheologische Philosophie sich seitdem entwickelt haben. Einer der Günstlinge Karls des Kahlen, sein bester und vielleicht liebster Hofgelehrter, Johannes Scotus Erigena (ich weiß, daß man Eriugena zu schreiben hat, wenn man auf seine Reputation hält) behauptete bereits den Vorrang der Philosophie vor der Theologie; so klingt es, wenn er die wahre Philosophie für die wahre Religion erklärt; aber des Johannes wahre Philosophie ist, wenn auch die Kirche schon zweihundert Jahre später Ketzerei in ihr witterte, wenn wir auch Anläufe zu Mystik und sogar zu Pantheismus nicht verkennen wollen, doch noch nicht Aufklärung etwa im Sinne des 18. Jahrhunderts. Johannes Scotus wußte nur nicht, wie theologisch sein System war; wußte er doch nicht einmal, daß die Grundlage seiner ganzen Weltanschauung, die krause Lehre des Dionysios Areopagita, nicht ein Werk aus der Apostelzeit, sondern eine Fälschung aus dem 6. Jahrhundert war. Nicht so sehr um seines versteckten Pantheismus willen, deutlich nur um seiner antikatholischen Ketzereien willen wurde er von Paris, wohin ihn der Kaiser berufen hatte, fortgeärgert, wurde er dann auch in Oxford unmöglich, wurde er endlich (um 877) in dem Kloster zu Malmesbury, seiner letzten Zuflucht, von seinen eigenen Schülern umgebracht; pennälerhaft mit Federmessern oder mit Schreibgriffeln erstochen.

Aber nicht einmal ein beständiger, zielbewußter Ketzer war er; und tolerant erst recht nicht. Gegen den Mönch Gottschalk schrieb er um 850 ein kleines Buch, worin die kirchliche Lehre von der menschlichen Willensfreiheit verteidigt und Gottschalk aller Höllenstrafen würdig erachtet wurde; von der Gegenpartei wurde Johannes dafür auch beschuldigt, seinen Geist mit der Eichelmast weltlicher Wissenschaft genährt zu haben. Die Schrift gegen Gottschalk war bestellte Arbeit gewesen; eine solche Abhängigkeit von Erzbischöfen und Königen ist auch sonst wenigstens für den Stil dieses Mannes bezeichnend. Johannes Erigena unterscheidet zwischen den Wenigen, die zum Wissen gelangen können, und den Vielen, die in ihrer Einfalt beim Glauben bleiben müssen; diese aristokratische Gesinnung, die einem Selbstdenker des 9. Jahrhunderts freilich leichter zu verzeihen ist als einem Voltaire, hat zur Folge, daß Johannes im Ausdrucke zweideutig ist. Selbst in der Frage, ob man der Autorität oder der Vernunft zu folgen habe, rückt er mit seiner wahren Meinung nicht offen heraus: daß der Vorrang der Philosophie gebühre und nicht der Theologie. Ja, der Vortrag wird beinahe immer so dunkel und bei aller Mystik so christelnd, daß man zweifelhaft wird, ob dem Schüler des Dionysios die Tragweite seiner stärksten aufklärerischen Sätze auch zum klaren Bewußtsein gekommen ist, ob Johannes wirklich, wie Reuter anzunehmen scheint, ein Vorläufer Lessings war. Sicher ist nur, daß er in seinem systematischen Buche, dem über die Einteilung der Natur, es ängstlich ausspricht, der Weise müsse sich den Einfältigen gegenüber auch auf die Autorität berufen, weil auch die Mündigen zunächst erschrecken, wenn man die Vernunft allein zur Richtschnur nehme. So weiß man am Ende nicht recht, ob Johannes ehrlich oder unehrlich ist, wenn er sein System, das im Aufbau schon ganz scholastisch doch etwas wie eine Einheit von Gott und Natur zu lehren sucht, überall mit der Bibel und mit den Kirchenvätern (daneben auch mit Platon) in Übereinstimmung bringen will. Dennoch wird man ohne Zwang an Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts« erinnert, wenn Johannes Erigena von der Dreieinigkeit, die auch sonst ganz ketzerisch gedeutet wird, nur symbolisch redet, wenn er in ebenso kühner Weise (Ev. Joh. 1, 17) die Dreiheit von Gesetz, Gnade und Wahrheit so deutet, als ob das Gesetz dem Alten Testamente angehöre, die Gnade dem Neuen, die Wahrheit aber, die bei Johannes wie die Gnade von Jesus kommt, erst der Zukunft des ewigen Lebens; dem dritten Reiche, sagt Ibsen nach Lessing.

Überall hält sich Scotus Erigena an die Bibel, nirgends will er sich an ihren Wortlaut halten; sogar Sätze des Katechismus, wie die Himmelfahrt Christi, will er bildlich verstanden wissen; eine Art von theologischer Poetik soll die Bibel erklären und zum Verständnisse führen aus einer gewissen kindlichen Unvollkommenheit heraus ( ex quadam imperfecta pueritia, wieder wird man an Lessing erinnert). Die aufklärerische Gefahr der allegorischen Deutungen bestand nun, wie die Vertreter der Kirche bald erkannten, darin, daß exoterisch gepredigt wurde, Glaube und Wissen müßten einerlei sein, daß dann aber der Glaube dem bildlichen Ausdrucke gleichgestellt wurde, das Wissen der Idee, daß also esoterisch der Glaube ein bloßer Schein wurde gegenüber der Wirklichkeit des Wissens.

Wir erfahren eigentlich nicht, ob das groteske Ende des Johannes durch irgendeinen hochfahrenden Eigensinn herbeigeführt wurde oder ob die jungen Mönche von rechtgläubiger Seite gegen den Ketzer aufgehetzt worden waren; wir wissen also nicht, ob er den ersten Märtyrertod eines christlichen Aufklärers starb. Die Kirche gab sich früh und spät Mühe, seine Schriften zu vernichten; wir werden aber lernen, daß die Ideen des Johannes all in ihrer Unklarheit im 13. Jahrhundert wieder auflebten, in der unchristlichsten Zeit der mittelalterlichen Aufklärung.

 

Italien

Das 10. Jahrhundert wird allgemein und mit Recht für das barbarischste des Mittelalters gehalten. In Frankreich und in Deutschland mochte das Volk sich mit einer äußeren Unterwerfung unter die Kirche abfinden, übrigens zwischen diesseitiger Sinnlichkeit und jenseitigem Aberglauben schwanken, mochten weltliche und geistliche Fürsten gelegentlich zu den Wundern des Klerus und des Pöbels den Kopf schütteln, eine selbstbewußte Wissenschaft schien unterdrückt, die theologische Kritik schien erloschen. In Italien stand es um die Kultur nicht besser, eigentlich noch schlimmer, weil alle die unglücklichen Versuche der deutschen Kaiser, absolute Herren von Italien zu werden und Rom wieder zum Mittelpunkte eines Weltreichs zu machen, kläglich an dem Widerstande der Päpste und des Adels, der Franzosen, der Longobarden und der herandrängenden Araber scheiterten. In dem politischen Chaos konnte die Wissenschaft keine Stätte finden, und in Rom selbst wurde von dem 9. Jahrhundert und seinen geringen Resten wissenschaftlichen Geistes als wie von der guten alten Zeit geredet. Das gemütliche Heidentum, das Goethe beinahe tausend Jahre später im Katholizismus Italiens wahrnahm, hatte in Rom zur Zeit der Ottonen (wir besitzen leider keine deutsche Mehrzahl für den deutschen Namen) seine gröbste Form angenommen. Aber Italien besaß einen geistigen Schatz, der es doch nicht völlig in die Armut der Barbarenländer Frankreich und Deutschland hinabsinken ließ; die Italiener hatten nicht aufgehört, eigentlich niemals aufgehört, ihre germanischen Besieger als Barbaren zu betrachten, sich als Lateiner zu fühlen, auf ihre klassische römische Sprache stolz zu sein, die freilich damals im gemeinen Volke nicht mehr lebte. Burdach hat in seinen Studien zur Geschichte Rienzos gezeigt, daß die Anfänge des rinascimento viel weiter zurückreichen und eine viel tiefere Bedeutung haben, als die Kulturgeschichte anzunehmen pflegt; genau genommen sollte man von einem rinascimento, von einer Wiedergeburt des antiken Geistes nur da reden, wo den Italienern, etwa im 13. Jahrhundert, der Wert des Zusammenhanges mit der antiken Kultur bewußt wurde; unbewußt hatte das Altertum fortgelebt, auch nach dem Niedergang des römischen Weltreichs, ohne Kraft zu neuer Leistung, in dem romantischen Schimmer eines ewigen Glanzes. Der Kurialstil Roms war schlechtes Latein geworden; aber es gab in Rom Kreise, die immer noch in Rhetorenschulen gebildet waren, die nichts lieber lasen als die klassischen Schriftsteller des alten Rom, die es im feinen Gespräche für vornehm hielten, mit mythologischen Anspielungen ebenso umherzuwerfen, wie es dann im 16. Jahrhundert wieder Mode wurde. Dem Heidentum in der Kirche entsprach ein anderes Heidentum der guten Gesellschaft. So war der Boden geschaffen für eine Weltanschauung, in welcher, eben wegen der allgemeinen Unwissenheit, für einen philosophischen Skeptizismus, für Freigeisterei oder für Aufklärung kein Platz war, in welcher jedoch die äußerste Frivolität und praktische Gleichgültigkeit den theoretischen Unglauben des Abendlandes langsam vorbereitete. Es ist ja keine Erfindung der feindlichen protestantischen Geschichtschreibung, daß diese Frivolität nirgends frecher auftrat als am päpstlichen Hofe; spricht man doch wie mit einem technischen Ausdruck von einem Hurenregiment, dem erst nach der Mitte des 10. Jahrhunderts Kaiser Otto der Große zunächst ein Ende bereitete, den zügellosesten dieser Päpste nannte ein Zeitgenosse geradezu einen Heiden; was im 17. Jahrhundert praktischer Atheismus hieß, schamlose und unbedenkliche Genußsucht, das verkörperte sich damals in einer Reihe von Päpsten, von denen Johann XII. noch nicht einmal der schlimmste war. Daß um diese Zeit die weltliche und geistliche Macht der Päpste ihrem Gipfel zustrebte, daß die nachweislich gefälschten Unterlagen dieser Macht gerade damals allmählich ihre Geltung durchsetzten, um bald darauf amtlich und formell anerkannt zu werden, das wäre kaum zu verstehen ohne die Vernichtung des wissenschaftlichen Geistes. Mit der gleichen Frivolität, mit der man zugleich der Kirche und seinen Lüsten gehorchte, unterwarf man sich der weltlichen oder der geistlichen Gewalt; man nannte den Papst einen Usurpator und zugleich ganz blasphemisch einen Gott, sich selbst wohl gar einen Floh im Verhältnisse zu der päpstlichen Gottheit. Es wäre falsch, die Lebensführung dieser lustigen Menschen aus Epikureismus, ihre Unterwerfung unter das Schicksal auf Stoizismus zurückführen zu wollen; diese weltlichen Leute kannten Lebensfreuden, aber keine Weltanschauung.

 

Papst Gerbert

Unmittelbar vor dem Ende des 10. Jahrhunderts schien das anders werden zu wollen, als der gelehrteste Mann seiner Zeit Papst wurde, Silvester II., heute noch berühmter unter seinem weltlichen Namen Gerbert; erst kurz vorher hatten die Päpste die Sitte angenommen, nach der Erwählung ihren Namen zu ändern. Der Eindruck, den die Erscheinung dieses Mannes nach so vielen Unwürdigen auf die Zeitgenossen machte, ist merkwürdig genug: er galt für einen Schüler der Araber, wie im 13. Jahrhundert alle Aufklärer wirklich Schüler der Araber waren; der Nachwelt galt er für einen Zauberer, um seiner naturwissenschaftlichen Kenntnisse willen. Er war aber nicht einmal ein Aufklärer in dem Sinne, in dem die Bezeichnung nach ihrer Erfindung verstanden wurde. Er stand fest in seinem eklektischen Wissen und zugleich in der Macht; er fand kein Arg darin, daß er es vereinigen zu können glaubte, die päpstliche Gewalt realpolitisch auszuüben und von derselben Stelle aus die unsicheren Bemühungen zu unterstützen, die allmählich in Philologie und Philosophie zu einer ersten Renaissance führen sollten. Sein Ideal war die eine und ungeteilte Wissenschaft, die Grammatik, Logik, Mathematik, Astronomie und endlich auch Theologie umfassen sollte; Wissen und Philosophie fallen zusammen. Wenn man's so hört, möcht's leidlich scheinen. Aber dieser Gelehrte war daneben Papst; er stellte neben die Philosophie das Dogma. Wo die Sprache versagt, hat der Glaube – das Wort. Was den Papst Gerbert vor den Scholastikern auszeichnet, die alle die Philosophie zur Magd der Theologie machten, das ist höchstens (und nicht ausdrücklich) ein gewisses Auseinanderhalten von Wissen und Glauben; er berief sich nicht auf übernatürliche Eingebungen, er war kein Mystiker, er war, wie gesagt, ein Realpolitiker; er nahm die übernatürlichen Geheimnisse des Glaubens als ein Gegebenes hin, auf Autorität und Tradition, ohne für diese Dinge viel Nachdenken zu verlangen; um so mehr hatte das Denken Zeit, sich mit natürlichen Wissenschaften zu beschäftigen. War so ein geistlicher Lehrer von der Kirchenlehre nicht völlig befriedigt und wagte er trotzdem in allen Wissenschaften eine Einheit zu erblicken, dann konnte es geschehen, daß er die strengen Regeln oder auch die Spielereien der Logik wie auf die Natur so auf die theologische Metaphysik anwandte, daß er damit die von Gerbert festgehaltene Trennung zwischen irdischen und göttlichen Gegenständen aufhob und Bahnen einschlug, die zur Auflösung des Gottesbegriffs führen konnten, die unmittelbar zur Auflösung kirchlicher Dogmen wirklich führten. Wenn die Theologie nur eine besondere Wissenschaft im ganzen Wissensgebäude war und wenn in diesem Ganzen der Logik die leitende Stelle gebührte, dann war dem religiösen Nominalismus nicht länger auszuweichen; wir werden uns bald mit dieser gründlichsten und gefährlichsten aller Ketzereien zu beschäftigen haben, die ja bei ihrer ersten Regung sogleich mit einer logischen Kritik der Dreieinigkeitslehre einsetzte.

 

11. Jahrhundert

Ob die Persönlichkeit Gerberts so stark nachwirkte, ob das neubegründete Heilige Römische Reich Deutscher Nation unter den mächtigen sächsischen und fränkischen Kaisern die Gesamtkultur so gefördert hatte, ob das Abendland schon damals durch vielfache Berührung mit den Arabern aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt wurde, ob andere unbekannte oder bis jetzt unbeachtete Faktoren die Geister entwickelten, wir wissen es nicht; es ist nur eine Tatsache, daß auf das wüste 10. Jahrhundert ein besseres folgte, das zunächst in Italien und dann in Frankreich wieder die Wissenschaften pflegte, mit solchem Eifer und mit solchem Erfolge, daß von nun an zwar nicht immer die Aufklärung, aber immer der Kampf um die Aufklärung fortschreitet.

Um die Mitte des 11. Jahrhunderts brach der Streit um die Abendmahlslehre aus, zunächst als ein Streit um Begriffe; noch wird der Grundgedanke des Nominalismus nicht ausgesprochen, aber wir tun gut daran, uns die logikalische Kampfweise der Gegner zu merken, weil bald nachher der erste Ansturm des Nominalismus gegen das Dreieinigkeitsdogma wahrscheinlich in ähnlichen Formen begann.

 

Berengarius

Der Ketzer in der Abendmahlsfrage war jener Berengarius von Tours (geb. um 1000, gest. 1088), dem Lessing, als er ein unbekanntes Werk des Mannes in der Bibliothek von Wolfenbüttel entdeckt hatte, 1770 eine seiner gelehrtesten Abhandlungen widmete. Berengarius war bereits ein angesehener Schulvorstand, auch von den Bischöfen geschätzt, weltlichen Wissens nicht unverdächtig, als er in einer scheinbar rein dogmatischen Frage als Logiker das Wort ergriff. Die Geschichte des Dogmas von der Transsubstantiation ist nur ein Beispiel für die Dogmengeschichte überhaupt. Durch Jahrhunderte glaubte man ohne genaue Definition, ohne klares Bewußtsein an das Wunder, das sich jedesmal durch die Gegenwart des Leibes und des Blutes Christi in der Hostie vollzog; erst im 9. Jahrhundert kam es dazu, daß Paschasius Ratbertus, ein Abt von Französisch-Corvey, diesem Glauben eine strenge Fassung gab durch die Erklärung, der Gottmensch sei wesentlich gegenwärtig, Brot und Wein werde in Leib und Blut verwandelt. Solange man naiv glaubte, wurde das Wunder nicht bestritten; jetzt wollte man das Wunder durch Aufstellung einiger Begriffe erklärt haben, und der Streit über die Begriffe begann. Der scholastischen Begriffsspalterei genügte es nicht, die Verwandlung oder Wandlung zu lehren, nach der Fleischwerdung ( incarnatio) bei der Geburt eine Brotwerdung ( impanatio) beim Abendmahle anzunehmen; hatte Paschasius versichert, der Gottmensch sei wesentlich gegenwärtig, so kam es eben aus die Wesenheit, auf die Substanz an. Der Vorgang war, von jetzt ab haben wir auch das Wort, Transsubstantiation; das Brot verwandelte sich seiner Substanz nach und blieb Brot (echt scholastisch) nur nach seinen Akzidenzien. Es wäre interessant zu wissen, wie der Wortrealismus sich mit dieser unlösbaren Aufgabe abgefunden hätte. Berengarius war noch kein Nominalist, aber er erkannte die logische Unlösbarkeit der Vorstellung einer Substanz ohne Akzidenzien und widersprach der neuen Formulierung des alten Dogmas. Für die Dogmengeschichte und ihre treibenden Mächte ist es nun wichtig, daß die neue Formulierung gerade von den Leuchten der Kirche, wie von Hildebrand, dem späteren großen Papste Gregor VII., nicht gebilligt wurde, daß aber in den zweihundert Jahren seit Paschasius dem wundersüchtigen Volke die mystische Deutung lieb und vertraut geworden war; das Wunder schien durch eine Wandlung der Substanz nur noch wunderbarer.

Die für seine Zeit erstaunliche Leistung des Berengarius bestand nun darin, daß er die neue Dogmenfassung, die sich für alte Tradition ausgab, als Tradition nicht anerkannte, daß er in diesem besonderen Falle ein bißchen Dogmengeschichte trieb und nachwies: was Paschasius unrichtig und sich selbst widersprechend auf die Bahn gebracht hatte, das sei zunächst vom Kaiser und von der Kirche abgelehnt und erst später von einem sogenannten Konzil gutgeheißen worden; es handle sich um eine neue, von einem abgeschmackten Mönche zuerst vorgetragene Lehre. Seine Ketzerei bestand einfach darin, daß er die geltend gewordene Neuerung für eine Ketzerei erklärte.

Berengarius hat seine Überzeugung nicht mit seinem Tode besiegelt, aber Martern aller Arten haben ihm das Leben schwer gemacht; von 1050 bis 1079 wurde er etwa achtmal vor Kirchenversammlungen angeklagt, gab zunächst zweideutige, dann eindeutige Widerrufe ab, kehrte zu seiner Überzeugung zurück und gelobte endlich Stillschweigen, auf Wunsch von Gregor VII. Man begreift, daß Gottfried Arnold in seiner Ketzergeschichte über die Verfolger des Berengarius überaus hart urteilt: man hätte ihn passieren lassen, wenn er nicht einen Glaubenspunkt angegriffen hätte, der viel Geld einbrachte; Berengarius sei in seinem Bekenntnisse gestorben und hätte nichts danach gefragt, die Herren Geistlichen mochten ihn auf dem Schindanger begraben oder auf dem Gottesacker.

Wie Berengarius sonst über die Kirche und ihren Glauben dachte, das wissen wir nicht. Aber die Vermutung Reuters ist sehr ansprechend, daß er zu der Verwerfung der wörtlich genommenen Transsubstantiation nicht erst aus Gründen der Dogmengeschichte gekommen sei; er war wohl in seinem Kinderglauben erschüttert, war aufgeklärt in den Grenzen der Zeit, zweifelte aus Vernunftgründen an anderen Kirchenlehren und warf sich erst nachher auf die Dogmengeschichte, um so unter dem Scheine der Rechtgläubigkeit die neueste Lehre bekämpfen zu können. Ist dem so, so mußte das Gregor VII. wissen, und dann wäre dessen Eintreten für Berengarius sehr beachtenswert. Aber für das Verhältnis zwischen diesem Ketzer und der Kurie sind zwei Tatsachen hervorzuheben, die nur darum meist übersehen werden, weil sie zu nahe vor Augen liegen. Die eine banale Wahrheit ist die Selbstverständlichkeit, daß im 11. Jahrhundert die Kirche fast nur mit einem schmückenden Beiwort katholisch hieß oder allgemein, daß man unter der katholischen Kirche noch nicht wie heute eine bestimmte Konfession neben anderen verstand; da nun diese einzige christliche Kirche des Abendlandes, die sich die katholische nannte, offenbar auch in den Augen ihrer Lehrer und Leiter noch nicht so unwandelbar war, wie sie jetzt dargestellt wird, da die Kirchenversammlungen widersprechende Beschlüsse faßten und die Minderheit gelegentlich zur Mehrheit werden konnte, war es niemals ganz ausgemacht, auf welcher Seite schließlich die Rechtgläubigkeit, auf welcher die Ketzerei sein werde. Die andere noch banalere Wahrheit ist, daß es bei diesen vermeintlich ganz geistigen Kämpfen um Überirdisches da und dort sehr irdisch und weltlich zuging; bei der römischen Kurie, die eine äußere Macht zu verteidigen und zu steigern hatte, ist das von ernsthaften Historikern niemals geleugnet worden; aber auch Berengarius gehörte nicht zu den Träumern, er stand mitten in den politischen Umtrieben, vielleicht wider seinen Willen hineingezogen. Er hatte eine ansehnliche Partei hinter sich in Frankreich, Deutschland und Italien und war für seine Sache auch als Agitator tätig; Boten und Briefe waren noch die Mittel, die nachher durch die Flugschriften der Reformationszeit ersetzt wurden. Die Forschung kann nicht behaupten, daß Berengarius allein oder in Verbindung mit dem französischen Könige so etwas wie ein Los-von-Rom, eine selbständige gallikanische Kirche angestrebt habe; daß aber die orthodoxen Gegner des Berengarius ihn öffentlich als einen Feind von Rom, als einen Verächter der Kindertaufe, ja vielleicht als einen Ungläubigen hinstellen konnten, scheint doch zu beweisen, daß er in vertrauten Kreisen bei der bloßen Abendmahlsketzerei nicht stehen geblieben war. Wenn ich alle Nachrichten vergleiche, so wird es mir wahrscheinlich, daß Berengarius innerlich zwar nicht bis zur Freigeisterei, aber doch bis zu einem starken Zweifel an der Richtigkeit der kirchlichen Satzungen gekommen war, daß er äußerlich sich der Kirche immer wieder dann unterwarf, wenn er an seinem Könige nicht genug Rückhalt zu haben glaubte.

Aus diesen beiden Tatsachen, daß nämlich die Form der katholischen Kirche noch im Flusse war und daß überall Politik in die Glaubenskämpfe hineinzuspielen begann, wird die Ungleichheit des Tones genügend erklärt, den Berengarius gegen Rom einschlug: so oft er mit der Kurie persönlich unzufrieden ist, bedenkt er den Papst mit Schimpfworten, die der Heftigkeit der damaligen Polemik entsprechen. Rom wird ihm zum Sitze der Fallibilität, des Wahnwitzes und der Dummheit. Auch Gregor VII., der ihn am Ende 1079 zum Schweigen gezwungen hatte, wurde nicht geschont. Aber die beiden Tatsachen verraten auch den Grund, warum die Kurie bald milde, bald hart gegen den Ketzer verfuhr. Wir brauchen da gar nicht mit Gottfried Arnold anzunehmen, die Härte sei darauf zurückzuführen, daß man durch den Abendmahlstreit die Messegelder zu verlieren fürchtete. Die Erwägung genügt, daß damals, wie fast immer in der Kurie, zwei Richtungen einander mehr ergänzten als bekämpften: die religiöse, der jeder Ketzer (auch ein Verfechter des alten Glaubens, wie Berengarius) ein Dorn im Auge sein mußte, und eine politische, die um der Machtvorteile willen mit jeder Ketzerei Frieden zu schließen bereit war.

 

Gregor VII.

 

Anselm von Canterbury

»Der Pfaffe Hildebrand«, ein Italiener trotz seines Namens, allmächtig in Rom, lange bevor er als Gregor VII. den päpstlichen Stuhl bestieg, war nur Staatsmann; ganz abgesehen davon, ob er seine staatsmännische Lebensaufgabe, die Weltherrschaft der katholischen Kirche, als vom Himmel oder von der Erde sich aufgegeben ansah. Bevor er sich für die Geschicke der Kirche verantwortlich fühlte und sich darum den Beschlüssen der Synoden unterwarf (um sie nachher nach seinem Willen zu lenken), muß er wirklich manche Anschauung des Berengarius geteilt haben; oder sie doch für die verständlichere und für die der Kirche nützlichere gehalten haben. Aber schon 1054, als er in der Eigenschaft eines Kardinallegaten nach Frankreich kam, waren die aufklärerischen Genossen und Beschützer des Berengarius entsetzt über die Lauigkeit des Kirchenfürsten. Diesem muß gegenüber den Wahrheitsfanatikern zumute gewesen sein wie dem Bismarck der Konfliktzeit gegenüber den liberalen Doktrinären; auch Berengarius sprach von der Wahrheit als von einem wohlbekannten Gebilde der Vernunft; mit frömmelndem Cant gab er der Wahrheit eine Wurzel in Gott, aber Gott wurde eigentlich überflüssig, weil die Wahrheit ebenso notwendig genannt wurde, wie er. Der Realpolitiker Hildebrand wußte mit einem so dogmatischen, trotzdem aber schielenden Rationalismus nichts anzufangen. Er schonte des Zweiflers Berengarius solange als möglich, auch noch als Papst, vielleicht schonte er in ihm nur den französischen König, den er natürlich nicht zum Feinde haben wollte, während er mit dem deutschen Kaiser den Kampf auf Leben und Tod führte. Nach dem Tage von Canossa hatte er vielleicht keine solchen Rücksichten mehr zu nehmen, hatte er vielleicht Anlaß, einer römischen Gegenpartei nachzugeben. Genug, auch auf der Synode von 1079 verurteilte er den Ketzer nicht gleich und nicht aus einer theologischen Überzeugung, sondern gab vor, einem Orakel der heiligen Jungfrau sich gefügt zu haben. Bekanntlich entging auch dieser gewaltigste Papst nicht dem Verdachte, der Ketzerei einer Kirchenreformation zuzuneigen, nur daß seine Gegner nicht wußten, ob man von ihm eine spirituale oder eine aufklärerische Reformation zu erwarten hätte. Es stimmt traurig, Wirklichkeit und Ideal in diesen beiden Männern gegeneinander stehen zu sehen; der persönlich freigesinnte Papst steigerte realistisch die Macht des unfehlbaren und weltbeherrschenden Papsttums zu einer unerhörten Höhe; der freigesinnte Berengarius, der Idealist, wäre nicht abgeneigt gewesen, wenigstens in Frankreich eine große Rolle zu spielen, aber er hatte nicht einmal die Kraft, sein Leben für sein Ideal einzusetzen. Er verstummte auf Befehl, um sein Greisenalter in Frieden hinbringen zu dürfen; man wußte aber, daß der Einsiedler von St. Côme ein Ketzer geblieben war. Die Anklageschriften gegen ihn hörten sobald nicht auf; und Reuter wird wohl recht haben mit der Vermutung, daß der Zweifler Berengarius trotz der Schwächen seines Charakters Schule gemacht habe; das junge Geschlecht der nächsten Jahrzehnte mag die rechtgläubigen Bekämpfer des Berengarius fleißig gelesen, aber zumeist die Stellen beachtet haben, an denen der Ketzer selbst zu Worte kam; wie das auch später antiketzerischen Büchern ging, ganz zu schweigen von den Fällen, wo ausführliche Werke gegen den Atheismus angekündigt wurden, um die Gedanken des Atheismus straflos verbreiten zu können; wo Atheismus triumphatus auf dem Titel stand, der schlaue Leser aber las: Atheismus triumphans. Noch Anselm von Canterbury, der berühmte Erfinder des dauerhaftesten Gottesbeweises (außer dem teleologischen), scheint Anhänger des Berengarius im Sinne zu haben, wenn er von einer wachsenden Verachtung gegen den christlichen Glauben redet. Zum ersten Male, seitdem es Christen auf der Welt gibt, erfahren wir, daß es unter den getauften Christen Ungläubige gebe; zum ersten Male erscheint es darum einem Theologen nötig, eben dem Anselm (1033 bis 1109), das Dasein des christlichen Gottes scheinbar philosophisch zu beweisen.

Die ganze Frage nach der Möglichkeit eines Gottesbeweises und nach dem besten Beweise ist nämlich – darüber sollte nach Kant nicht erst noch gestritten werden müssen – rein theologischer und durchaus nicht philosophischer Art; nur weil die Scholastik meistenteils Theologie mit Philosophie verwechselte und die allgemeinsten theologischen Fragen heute noch in den Handbüchern der Professoren ernsthaft zur Geschichte der Philosophie gerechnet werden, nur darum nimmt die Scholastik in dieser Geschichte einen so breiten Raum ein. Anselm von Canterbury, auch dieser englische Erzbischof war von Geburt Italiener, heißt mit Recht der Vater der Scholastik, weil er seinen theologisch berühmten, philosophisch berüchtigten Gottesbeweis zum ersten Male gegen die Zweifel des christlichen Denkens aufstellte. Es ist an dieser Stelle meine Absicht, zu zeigen, daß Anselms Gottesbeweis einen Wendepunkt in der Geschichte des Atheismus darstellt: daß Anselm den neuen Gottesbegriff mit allen Eigenschaften des christlichen Katechismus aus den Haarspaltereien der Scholastik zu beweisen suchte, daß er also dabei bereits Leugner oder Anzweifler dieses christlichen Gottes im Auge hatte. Im 11. Jahrhundert noch. Ich brauche nicht ausdrücklich zu sagen, daß weder ihm noch einem Zeitgenossen der Unterschied zwischen dem antiken und dem christlichen Gottesbegriffe klar bewußt wurde.

Wir haben gesehen, daß die antiken Philosophen, soweit sie sich auf einen Beweis für das Dasein Gottes einließen, eigentlich Kinder waren, die sich nicht vorstellen konnten, daß hinter einem so schönen Worte nicht auch eine schöne Sache stäke; dazu kam im Altertum eine Menge Gedankenarbeit, die erforderlich war, um den einheitlichen Gottesbegriff aus den vielen Göttern des Volksglaubens herauszuschälen. Eine ähnliche, doch nicht die gleiche Nebenarbeit hatten seit dem 2. Jahrhundert die sogenannten Kirchenväter, wenn sie aus der Nichtexistenz der Vielgötter das Dasein ihres einzigen Gottes beweisen wollten. Noch Augustinus, in welchem sich alle Theologie seiner Vorgänger wie in einem See sammelte, um von da aus als mächtiger Strom weiterzufließen und sich (vor der Mündung in das Meer der Vergessenheit vielleicht) in mehrere Teile zu teilen –, noch Augustinus konnte sich dieser Nebenaufgabe nicht entziehen; aber er ist als ein Anhänger des bereits siegreichen Christentums auch schon tätig, mit ungeheurem Erfolge, dem einzigen Gotte, dessen Dasein er eifrig beweist, die Züge zu geben, die die Christengemeinde seit dem Apostel Paulus für die wahren hielt. Aus der Tiefe seines Gemütes – das ist ohne Spott gemeint – stellt er den von ihm bewiesenen Gott als den allmächtigen, allweisen und allgütigen (dies nicht ganz folgerichtig) Schöpfer der Welt dar, dazu als den Erlöser der sündigen Menschheit. Wie immer bei solchen Beweisen oder bei allen logischen Beweisen findet sich im Schlusse vor, was man vorher in die Prämissen offen oder heimlich, bewußt oder unbewußt eingewickelt hat; man wickelt es nachher in der Konklusion wieder heraus. Logisch, erkenntnistheoretisch ist in diesen Beweisen des Augustinus und seiner ersten Nachfolger noch ein anderer, eigentlich schon mittelalterlich wortrealistischer Schulschnitzer verborgen. Dieser Schnitzer, auf die kürzeste Form gebracht, besagt: weil es in der griechischen und lateinischen Sprache die Sprachkategorie des Superlativs gibt, darum muß es auch in der Wirklichkeit jedesmal etwas geben, was dem Superlativ entspricht. Die frommen Leute dachten nicht daran, daß in dem, was wir ideal nennen, immer ein Superlativ vorgestellt wird oder ein Inbegriff von Superlativen, und daß dieses Ideal just darum einen Gegensatz zu der Wirklichkeit bezeichnet; sonst müßte ja dem schönsten Weibe, das die Phantasie eines Malers geschaffen hat, irgendwo ein lebendes Modell entsprechen. Die frommen Leute dachten auch kaum daran, daß der Beweis aus dem Superlativ auch ein Beweis für das Dasein des Teufels ist: wenn es eine Stufenleiter der Schlechtigkeit in der realen Welt gibt, so müssen wir auch an ein allschlechtes, an das allerschlechteste Wesen glauben, und das ist der Teufel.

Man halte gegen diese elende Schlußfolgerung den sogenannten kosmologischen Beweis der alten Philosophen, der trotz der kindlichen Unbeholfenheit des letzten Schlußkettengliedes doch einen guten Sinn hatte: die Welt muß wie jede Erscheinung oder jedes Ding eine Ursache haben, diese Ursache wieder ihre Ursache, und so weiter zurück ins Unendliche (was uns unerträglich ist) oder bis zu der ersten Ursache; diese eigentlich völlig unbekannte erste Ursache wird dann naiv gleichgesetzt mit dem Gotte der Volksreligion oder der Gemeinsprache, der doch vor aller Philosophie (und vor aller Naturerklärung aus Ursachen) als unmittelbarer Schöpfer der Welt betrachtet worden war. Höchstens in dem Festhalten an einer handgreiflichen ersten Ursache, in dem willkürlichen, nur in Worten vollzogenen Stehenbleiben bei der ersten in einer unendlichen Reihe von Ursachen regt sich schon im Altertum der Schnitzer des Beweises aus dem Superlativ; nur daß der Begriff des Ersten abstrakter ist und darum philosophischer klingt als die Begriffe des Mächtigsten, Weisesten, Gütigsten.

 

Ontologischer Beweis

Anselm von Canterbury nun hat die Schnitzer des Altertums und des Augustinus kunstreich vereinigt und hat so erst den scholastischen Beweis für das Dasein des christlichen Gottes geliefert. Die erste Ursache des Aristoteles, auf den sich deshalb auch manche Atheisten beriefen, wurde nur mit einem logischen Sprunge Gott genannt; sie konnte ebensogut die unerklärte erste Bewegung in der unerschaffenen oder ewigen Welt sein. Die gemütlichen Beweise des Augustinus wiederum wandten sich zwar noch gegen die Zweifel an einen Weltschöpfer und feierten mit rhetorischem Zauber die verborgenen Superlative Ewigkeit, Schönheit und Wahrheit in Gott, aber sie arbeiteten diesen Gott des neuen Glaubens erst heraus, sie hatten ihn noch nicht zur Voraussetzung. Sie schufen den für bewiesen gehaltenen Gott eigentlich erst durch die schwärmerische Sprache ihrer Beweise zu dem neuen christlichen Gotte um, zu dem allervollkommensten Wesen. Und jetzt, bei Anselm, wird dieses allervollkommenste Wesen zum ersten Male die Voraussetzung des Beweises, des gottverlassenen, des allerelendesten, des ontologischen Beweises. »Gott ist das vollkommenste Wesen, zu den Bedingungen der Vollkommenheit gehört aber auch die Existenz; also muß das vollkommenste Wesen oder Gott existieren.« Dieser Beweis gilt nicht für die Götter der Griechen und Römer, denn diese waren wahrlich weit davon entfernt, vollkommene Wesen zu sein; er gilt nicht für die erste Ursache der antiken Welt, denn diese erste Ursache, auch wenn man sie sich persönlich dachte, brauchte keine moralisch guten Eigenschaften zu haben; er galt nur für den neuen Gott, der das allervollkommenste Wesen hieß, weil er die Allmacht, die Allweisheit, die Allgüte usw., weil er alle moralischen, geistigen und dinglichen Superlative in sich vereinigte. Und dieser allgemeine Beweis aus dem abstraktesten Superlativ wurde zum ersten Male geführt, als sich zum ersten Male der Zweifel an dem neuen Gotte regte. Anselm von Canterbury folgte auf Berengarius von Tours.

Nun sind aber alle frommen Versuche, diesen Anselm zu einem widerspruchslosen Denker zu machen, kläglich gescheitert; der Vater der Scholastik scheint nicht zu wissen, was er will: bald setzt er die Vernunft an die Stelle der Autorität, bald unterwirft er die Vernunft dem ererbten Glauben. Sein Grundsatz lautet: credo, ut intelligam; dahinter verbirgt sich der noch bescheidenere Grundsatz: intelligo, ut credam. Er redet wie ein Rationalist, aber er zweifelt zugleich an der zureichenden Kraft der Vernunft; und wiederum ist dieser Zweifel nicht der des ungläubigen Skeptikers, sondern der des vernunftfeindlichen Theologen. Ich meine, alle diese Widersprüche Anselms können nicht ausgeglichen, wohl aber psychologisch erklärt werden durch die Wahrnehmung, daß er gar nicht wußte, wie wenig Philosoph und wie sehr Theologe er war. Er bildete sich ein, den Gott einer Vernunftreligion bewiesen zu haben; seine Vorstellung kannte aber bereits nur den Gott des christlichen Katechismus. Die Gefahr des ontologischen Beweises, daß nämlich durch seine Widerlegung mit dem Christengotte auch der deistische Gott in Zweifel gestellt wurde, war nur für jene Zeit noch nicht vorhanden; mehr als ein halbes Jahrtausend später wurde jeder Angriff gegen den ontologischen Beweis zu einer Drohung auch gegen die Vernunftreligion; die zeitgenössischen Gegner Anselms aber waren, wenn sie uns auch als Aufklärer erscheinen, nicht viel klarere Köpfe als er; man gewinnt oft den Eindruck, daß sie ihn nur aus Stolz auf ihren besseren Scharfsinn, auf ihre »Modernität«, widerlegten, wenigstens standen sie ebenso fest wie er in dem ererbten Kirchenglauben; freilich ist nicht immer mit Sicherheit zu sagen, ob sie diesen Glauben nicht heuchelten.

 

Gaunilo

Wir dürfen ganz allgemein Anselms Gegner als Fortsetzer der Berengariusschen Ketzereien betrachten; aber ein geschichtlicher Zusammenhang zwischen ihnen und Berengarius wird kaum nachzuweisen sein. Es handelt sich zumeist um den Nominalisten Roscelinus, von dem wir sehr wenig wissen, und um den Mönch Gaunilo, den ersten Kritiker des ontologischen Beweises. Zwischen diesen beiden Gegnern des Anselmus besteht ein Unterschied nur in der Höhe des Standpunktes, von welchem aus sie kämpfen; Gaunilo verläßt nicht den Boden der gewöhnlichen Logik, da er im ontologischen Beweise grobe Schnitzer nachweist und nur unbewußt mit der Notwendigkeit des Schlusses (aus dem Gedachtwerden auf das Sein) auch überhaupt die notwendige Realität von Ideen anzweifelt; Roscelinus ist der erste radikale Geist, der in der Logik nur eine Formalwissenschaft erblickt, den abstrakten Begriffen der Logik ein ontologisches Dasein abspricht und so als entschiedener Nominalist nebenbei auch den ontologischen Beweis aus Begriffen widerlegt.

Der Mönch Gaunilo, vor seinem Eintritte ins Kloster Marmoutier vielleicht ein Graf Montigny, beschränkte sich also darauf, die Schlußfolgerung des Anselmus umzustoßen. Anselmus hatte, wie später Hegel, aus der Vernünftigkeit auf die Wirklichkeit geschlossen: wenn wir den Gottesbegriff verstehen, so existiere Gott in unserer Vernunft, müsse demnach auch real existieren. (Diese Form des ontologischen Beweises widerspricht der früher gegebenen nicht, nach welcher die Existenz zum Wesen der Vollkommenheit gehört; da und dort gehört zum Verstehen des Gottesbegriffs das Begreifen eines Superlativs, und der Superlativ wird eben nicht als bloße Sprachkategorie aufgefaßt, sondern als eine Wirklichkeit.) Gaunilo zeigt, daß man mit der gleichen Formel (wie ich es drastischer für den Teufel getan habe) das Dasein jeder vollkommenen Sache, z. B. einer vollkommenen Insel, beweisen könnte. Anselmus wehrte sich gegen diese Kritik mit scholastischen Fechterkünsten, die einer Widerlegung nicht wert sind; er blieb starrsinnig bei der eigentlich sinnlosen Vorstellung, die aber durch Jahrhunderte für sinnvoll gehalten wurde: habe ich in meinem Kopfe die Idee von einem vollkommenen Wesen, das außerhalb meines Kopfes nicht existiert, habe ich daneben die Idee von einem vollkommenen Wesen, das auch außerhalb meines Kopfes existiert, so hat dieses zweite Wesen ein Plus gegenüber dem ersten, ist also erst das wahrhaft vollkommene Wesen und existiert auch außerhalb meines Kopfes, in der Wirklichkeit. Es ist nicht meine Schuld, wenn da Anselm von Canterbury einen kindisch dummen Beweis zu führen scheint. Man hat aus dem Auftreten des Mönches Gaunilo und noch entschiedener aus einer Ablehnung des ontologischen Beweises durch den heiligen Thomas zu beweisen gesucht, daß nicht die gesamte Scholastik für eine so schlechte Logik verantwortlich gemacht werden könne; aber die rein logischen Gegengründe des heiligen Thomas sind schwach, weil sie am Wortrealismus festhalten.

 

Roscelinus

Ob Roscelinus mit Recht oder mit Unrecht für den Begründer des umstürzenden Nominalismus gehalten wird, er darf in diesem Zusammenhange nicht fehlen, weil Anselmus in ihm einen gefährlichen Gegner gesehen hat, einen Ungläubigen inmitten der christlichen Gemeinde. Bekannt ist die Äußerung des Anselmus, die zum Schlagworte für den Nominalismus geworden ist: dieser halte die Universalien (Anselmus sagt universales substantias, was wir nicht durch »Universalbegriffe« übersetzen dürfen, wenn wir dem Vorwurfe der orthodoxen Logiker nicht seine komische Kraft nehmen wollen) bloß für flatus vocis; in dem gleichen Satze werden diese modernen Logiker »Ketzer der Logik« genannt, was um so beachtenswerter ist, als der Denunziant völlig in seinem Rechte war: nicht erst in ihrem Glauben waren diese Nominalisten Ketzer, sie waren Ketzer in ihrer Logik, in ihrem Denken. Weniger bekannt ist der Vorwurf, den Anselmus dem Roscelinus im nächsten Kapitel der gleichen Schrift macht ( de fide Trinitatis): er spreche von einer und derselben Pflicht der Heiden, der Juden und der Christen, ihr Gesetz oder ihren Glauben zu verteidigen. Man braucht da nicht gleich anzunehmen, Roscelinus habe durch solche Worte die vergleichende Religionsgeschichte angebahnt, er habe gar der Vernunft das Amt zugewiesen, unter den gleichberechtigten Religionen die wahre zu erkennen; wenn aber die weitere Beschuldigung, der Nominalist glaube nicht an die Autorität der Bibel, er lehre (im Grunde wieder nominalistisch) auch die Menschwerdung des Vaters und des Heiligen Geistes, wenn an diesen Ketzereien im Glauben etwas Wahres ist, dann stand er in der Tat so gut wie außerhalb der Kirche, mag er auch in dem einzig vorhandenen Schriftstücke (wie die meisten Ketzer) seine Rechtgläubigkeit beteuert haben. Richtete sich der ontologische Beweis nun zum ersten Male gegen eine Leugnung des Gottes überhaupt, des Gottes der Vernunftreligion, galt Roscelinus – um das spätere Wort vorwegzunehmen – für einen Deisten, so haben wir die seltsame Erscheinung vor uns: daß Anselmus durch den hinterlistigsten Gottesbeweis den deistischen Gott zu beweisen vorgab, aber den christlichen Gott in den Begriff hineinschob; daß Roscelinus den christlichen Gott bekannte, des Gottes der Vernunftreligion verdächtig war, aber durch den Grundgedanken des Nominalismus die Ideen in Bewegung setzte, die schließlich auch den Gott der Vernunftreligion, dazu die Unsterblichkeit der Seele und andere universales substantias zu flatus vocis machten.

Wir besitzen kein Buch von Roscelinus, wir kennen nicht einmal seinen genauen Namen mit Sicherheit; wir wissen eben nur, daß er auf dem Konzile von Soissons seine Trinitätslehre widerrufen mußte (1092) und daß der berühmte Abälard sein Schüler war.

 

Kreuzzüge

Wenige Jahre nach den kleinen Kämpfen, die zu dem Widerrufe des Roscelinus führten, kam es zu dem welthistorischen Ereignisse, das unter dem Namen des ersten Kreuzzugs bekannt ist. Es ist oft gesagt worden, daß die Kreuzfahrer in frommer Begeisterung aufbrachen, daß sie aber aus dem Morgenland einen ganz unchristlichen Sinn für feinere Lebensgenüsse und eine gewisse Neigung zu duldsamer, also wieder unchristlicher Religionsvergleichung heimführten. Mit dem Nachsatze hat es gewiß seine Richtigkeit; aber auch unter den Motiven, die die Kreuzfahrer und ihre Feldherren hinaustrieben, mögen gar manche der weltlichsten Art gewesen sein: Beutelust, Abenteuerdrang, Flucht aus der Enge der Heimat. Wir stehen im Beginn des 12. Jahrhunderts, nicht mehr in dem ganz rohen, ganz asketischen Mittelalter des 10.; noch wagt sich nicht leicht ein Zweifel an den Dogmen der Kirche hervor, doch schon gibt es im Zeitalter der Kreuzzüge eine neue Art von Literatur, von unanständiger Gassenliteratur, die über die Gebräuche der Kirche und über ihre Diener zu lachen beginnt. Die Lieder der Vaganten ertönen auf den Wegen der Kreuzfahrer. Die viel gerühmte Nachsicht der mittelalterlichen Kirche gegen die Possen, die auf Kosten der Kirche getrieben wurden, war nicht Toleranz, sie war nur ein Zeichen dafür, daß die Überspannung der Weltflucht allgemein – auch bei den Klerikern – Lachlust und Weltlust überhaupt ausgelöst hatte, daß die Autorität von Rom, immer noch mächtig gegen die vereinzelten gelehrten Zweifler in den Klosterzellen, ohnmächtig zu werden anfing gegen die ungelehrten Lacher, die weder Wissen noch Charakter genug hatten, ihr Gelächter zu Sätzen des Zweifels zu formulieren. Hinter den ungelehrten Lachern standen eben damals schon (außer den Vaganten, die natürlich ebenfalls entlaufene Kleriker waren, Journalisten, Leuten, die ihren Beruf verfehlt hatten) zahlreiche Geistliche, die aus praktischen oder theoretischen Gründen mit der Überspannung der römischen Ansprüche unzufrieden zu sein anfingen. Insbesondere konnte der gesunde Menschenverstand des Abendlandes den Glauben an die massenhaften Wunder nicht mehr aufbringen, der ihm jetzt zugemutet wurde. Die Reliquien, die im Orient und – nachdem der Handel mit ihnen sich als ein gutes Geschäft erwiesen hatte – auch in der Heimat entdeckt wurden, waren zahllos und zahllos die Wunder, die man von den Reliquien erzählte. Auch von Leuten, die an eine Religionskritik nicht zu denken wagten, wurde diesem Übermaß gegenüber Wunderkritik geübt; war aber erst an einer Stelle der schüchterne Versuch gemacht worden, geschichtliche Wahrheit von legendenhaftem Beiwerk zu säubern, so lag es für die Spötter wie für die ernsten Ketzer nahe, den Grundsatz der Kritik auch auf die biblischen Geschichten anzuwenden. Nicht mit so klaren Worten wie später, aber doch schon in ähnlicher Absicht wurde die Religion Christi der christlichen Religion gegenübergestellt. Wir finden da schon im ersten Drittel des 12. Jahrhunderts einen Märtyrer, dessen Ketzereien weit über die des Hus hinausgingen. Petrus de Bruys oder Brusius verwarf die Taufe und das Abendmahl, überbot die Bilderstürmer durch sein Verlangen, auch die Kreuze als Zeichen der grausamsten Pein zu zerstören, und wollte überhaupt von einem geordneten Gottesdienste in besonderen Gotteshäusern nichts wissen. Nach einer Gegenschrift von Petrus dem Ehrwürdigen, der übrigens blutige Verfolgung der Verirrten nicht gut hieß, stützten sich die Anhänger des Brusius, die Petrobrusianer oder auch nur Brusianer hießen, bei ihrer Forderung eines gereinigten Christentums schon auf Bibelkritik, wie sich ja von selbst versteht, auf eine sehr rohe Bibelkritik, wie sich wieder von selbst versteht. Nach ihrer Lehre beruhte die ganze Kirche immer nur auf Glauben, nicht auf Wissen – genau wie der Reliquiendienst. Arnold meint wieder einmal, die herrschende Kirche habe den Brusius verfolgt, weil er ihren Handel gestört, weil er den Pfaffen an die Mützen und Bäuche gegriffen habe; in Wahrheit stand solcher Freigeisterei gegenüber das ganze Kirchengebäude auf dem Spiele. Der Abt von Cluny kämpfte gegen ihn mit Gründen und mit Lügen. Petrus de Bruys wurde lebendig verbrannt, ging durch das irdische Feuer in das höllische Feuer über, man weiß nicht wann, man weiß nicht, ob als ein Opfer des Pöbels oder unmittelbar ein Opfer der Geistlichkeit. Seine Anhänger, die von Döllinger (vielleicht irrtümlich) neben die Schüler des noch rätselhafteren Heinrich (von Lausanne?) gestellt wurden, die Henricianer, wurden schwerlich ausgerottet.

Hätte es schon zur Zeit der ersten Kreuzzüge eine gebildete Oberschicht gegeben, zahlreich und tapfer genug, solche Gedanken zu Ende zu denken, so hätte schon hundert Jahre vor Kaiser Friedrich II. die antichristliche Aufklärung einsetzen müssen, die dann – wie wir bald sehen werden – in der Buchlegende oder in dem Symbole von den drei Betrügern ihren Gipfel erreicht. Schon wurde die gefährliche Frage erörtert, warum unter den prüfenden Augen der Gegenwart keine durch Zeugen beglaubigte Wunder mehr geschehen; schon wurde (von Abälard) der entscheidende Gedanke hingeworfen, der Gedanke des Märchens von den drei Ringen, daß jede Religion einen aus ähnliche Tradition gegründeten Glauben habe, daß also jede betrügen oder betrogen werden könne ( Petr. Vener. Abael. I. 1. Respondes unamquamque sectam sibi faveri et de talibus vel similibus falli vel fallere posse). Aber die Zeit war für eine breite Wirkung solcher Zweifel, die mehr als Ketzereien waren, noch nicht reif; es kam weder zu einem Ansturm gegen das Christentum noch auch zu einer Kirchenspaltung, die der römischen Macht eine gleiche Macht gegenübergestellt hätte. Zu gewaltig wurde gerade damals durch Hildebrand das Ansehen des Papstes; der antichristliche, weltliche Sinn der Fürsten und Völker war vom Verstande aus geweckt worden, aber die Phantasie und die Beutelust der Fürsten und Völker lebte noch, von den Rückschlägen nicht belehrt, in den Kreuzzügen und hielt sich darum noch äußerlich an das Schlagwort: Gott will es. Wieder müssen wir scharf zwischen Freigeisterei und Ketzerei unterscheiden. Die fromme Ketzerei, die gläubige Sehnsucht nach der wahren Religion Christi, wuchs im Laufe des 12. Jahrhunderts im südlichen Frankreich zu einer beträchtlichen Stärke an, beinahe zu einer Gegenkirche, bevor sie dann zu Anfang des 13. Jahrhunderts mit Feuer und Schwert ausgerottet wurde. Die Freigeisterei jedoch regte sich nur in vereinzelten Köpfen, wurde übrigens mit solcher Hinterhältigkeit, mit solcher Kriecherei vor den Machthabern, mit so ängstlicher Stimme ausgesprochen, daß eine einflußreiche Gruppe oder Schule von Freigeistern gar nicht aufkommen konnte.

 

Araber

Der Zufall der Kulturgeschichte, die von den Zufällen der Weltgeschichte abhängt, hat die Juden zweimal das abendländische Denken sehr stark beeinflussen lassen. Das eine Mal in ungeheurem Maße durch das Christentum, welches aus einer jüdischen Sekte zur herrschenden und herrschsüchtigen Religion des Abendlandes wurde und den Begriff der Christenheit ausbildete, trotzdem auf einem anderen Wege die Lehren Jesu Christi sicherer als die eines anderen Menschen zum Ideale der Menschheit führen konnten; das andere Mal durch die jüdischen Genossen und Schüler der Araber, die dem Abendlande einen bis dahin unbekannten Aristoteles neu schenkten und so die bereits alternde Scholastik verjüngten. Was sonst von den Juden häufig gerühmt worden ist, trifft nicht ganz zu; was die große Nachwirkung Spinozas für die Geistesbefreiung geleistet hat, darf wahrlich nicht dem Judentum zugute geschrieben werden; und der Anteil jüdischer Schriftsteller an der Aufklärungsliteratur ist sehr überschätzt worden. Erst im 19. Jahrhundert setzt die Mitarbeit der Juden inmitten der christlichen Völker neu ein; da bildeten und bilden aber bereits die »assimilierten«, die entjudeten Juden einen Bestandteil der vom Dogma losgelösten Christenheit.

Unleugbar und in geschichtlicher Beziehung kaum zu überschätzen war das Verdienst der Juden um die Bewahrung des damals überaus nützlichen Rationalismus, den die Juden, frei von dem christlichen Kirchendogma, von den Arabern, und die Araber, noch frei von ihrer Kirchenreaktion, von ihrem Aristoteles gelernt hatten. Es war eine jüdisch-arabische Renaissance des Aristoteles vor der ungleich bedeutsameren Renaissance des Platon, die nur etwa hundert Jahre später einsetzte. Die eigentlich sogenannte Renaissancebewegung führte erst auf Umwegen zu der antichristlichen Aufklärung des 18. Jahrhunderts; die aristotelische Renaissance war sowohl bei dem Araber Averroës als bei dem Juden Maimonides aufklärerisch. Das lag nicht etwa an Vorzügen der jüdischen oder der islamitischen Theologie; sowohl das Judentum als der Islam boten dort, wo sie einige Macht besaßen, ihrer Geistlichkeit die Handhaben zu harter Verfolgung der Ketzer; und wo es machtlos war, wurde sogar das Christentum duldsam. Aber das Judentum nach der Babylonischen Zeit und der Islam von Anfang an durften sich mit einigem Rechte rühmen, den Grundgedanken, der diesen drei Religionen gemeinsam war, den Monotheismus, reiner darzustellen, als das Christentum es seit dem Konzil von Nizäa getan hatte, konnten sich also rühmen, besser als das Christentum mit der Theologie des Aristoteles übereinzustimmen. Das muß zugegeben werden, auch wenn Sprengers Vermutung, Mohammed habe seine Lehre von einer der Sekten übernommen, die dem Dogma von der Dreieinigkeit sich nicht gefügt hatten –, wenn diese sehr ansprechende Vermutung nicht richtig sein sollte. Die Ahnung, der Islam wäre vielleicht eine sittlichere Religion als das Christentum, sprach sich in einer rätselhaften Legende aus. Eine Sarazenin trat dem Kreuzheer entgegen, in der einen Hand ein Gefäß mit Wasser, in der andern eine Pfanne mit Glut. Das Paradies wollte sie verbrennen, das Feuer der Hölle löschen, damit die Christen fortan ohne Rücksicht auf künftige Belohnung und Strafe das Gute um seiner selbst willen üben könnten. Die Forderung also einer Vernunftmoral im tiefsten Mittelalter. (Harden, »Zukunft«, 27. Jahrgang, S. 249.)

Als der Islam die Nachbarländer von Arabien gewonnen hatte, Syrien und Ägypten, berührte er sich ebenso mit der Tradition der spätgriechischen Philosophie wie das Christentum, das in Konstantinopel wie in Rom das Erbe der Griechen antrat. Nun brauchte just die rechtgläubige christliche Kirche den Neuplatonismus gar nicht erst mühsam aufzunehmen, er steckte ja schon in ihrer Glaubenslehre. Der Islam dagegen widerstrebte dem Neuplatonismus aufs äußerste; mit Aristoteles jedoch konnten sich sowohl die frommen als die freidenkenden Araber auseinandersetzen. Es gehört nicht hieher, ist aber vielleicht ein gelungener Witz der Kulturgeschichte, daß die späteren christlichen Scholastiker nicht nur die erweiterte Kenntnis von Aristoteles, sondern auch ihre blinde Unterwerfung unter Aristoteles den Arabern verdankt; durch diese Ungläubigen war der griechische Heide zum entscheidenden christlichen Philosophen geworden. Was man vor der Wiederentdeckung der griechischen Originale im 12. Jahrhundert und noch darüber hinaus unter Aristoteles verstand, das war der Aristoteles des Averroës; und Averroës hatte seine Erläuterungen zu Aristoteles geschrieben, einen monistischen Pantheismus beinahe – wie man jetzt sagen würde – hineingelegt und Aufklärung verbreitet ohne griechisch oder auch nur syrisch, die Sprache der Übersetzungsbrücken, zu verstehen. Averroës hat, darin ein Schüler von Avicenna, den Nominalismus, also die stärkste Freigeisterei des Mittelalters, wesentlich beeinflußt, ohne die Fragen auch nur zu kennen, um welche sich der Streit zwischen den christlichen Nominalisten und Wortrealisten vor ihm und nach ihm drehte.

 

Averroës

Averroës (1126 bis 1198), der letzte unter den großen arabischen Ärzten und Philosophen, sah in Aristoteles den Gipfel menschlicher Vollendung, in seiner Lehre die Richtschnur menschlicher Vollkommenheit. Er nahm mit dem Griechen ein höchstes Wesen an, dessen Dasein aber nur durch den physiko-theologischen Beweis begriffen werden könne. Die Vorschrift der Religion binde nur die ungelehrte Masse; der Philosoph habe sich aber der ererbten Religion anzupassen, könne alles allegorisch deuten und so zu reiner Erkenntnis fortschreiten. Eine so vorsichtige Lehre von einer doppelten Wahrheit genügte, um Averroës bei dem Kalifen, dessen Arzt er war, in Ungnade fallen zu lassen. Es war die Zeit, in welcher die Denkfreiheit der Araber und bald auch ihre Herrschaft in Spanien ein Ende nahm. Averroës, in Cordova geboren, starb in Marokko. Sein Ansehen im Abendlande war so groß, daß verschiedene seiner Lehrsätze noch im 13. Jahrhundert zu Paris verdammt wurden, die aufklärerischen Sätze: die Welt sei ewig (also nicht geschaffen), die Seele gehe mit dem Körper zugrunde, der Wille des Menschen werde durch Notwendigkeit bestimmt.

 

Maimonides

Auch bei Maimonides (1135 bis 1204) ist wohl zu unterscheiden zwischen seiner rein geschichtlichen Bedeutung für die Geistesentwicklung des Abendlandes oder für die Europäisierung der Juden und zwischen seiner zeitlosen Bedeutung oder dem Werte, die wir noch heute seinem Hauptwerke zubilligen müssen. Er steht mit seiner Gelehrsamkeit und einer gewissen Entschiedenheit viel mächtiger da als fünfhundert Jahre später der liebenswürdige Schöngeist Moses Mendelssohn; aber auch Maimonides spielt eine größere Rolle in der Geschichte der Judenheit als in der der Menschheit. Immerhin wirkte er so früh schon (durch lateinische Übersetzungen seiner arabischen Schriften) auf die Gelehrtenrepublik des Mittelalters, daß er unter dem latinisierten Namen Moses Maimonides bekannt geworden ist; die Juden nennen ihn hebräisch Moses den Maimon oder Moses Maimuni oder gar nach der sprachsündigen Sitte, die jetzt wieder mehr und mehr in Europa einzureißen beginnt und die Anfangsbuchstaben eines längeren Namens barbarisch zu einem Unworte zusammenzieht: Rambam (Rabbi Moses ben Maimon).

Fast bedenklicher als der Name seiner Person schwankt der Titel seines berühmtesten, mir übrigens allein zugänglichen Buches, der aus dem arabischen Originale sehr früh ins Hebräische, aus dem Hebräischen ins Lateinische und von daher erst in moderne Sprachen übersetzt worden ist, zugleich mit dem Buche selbst; man zitierte es sonst gern unter dem Titel »Führer der Verirrten«; wenn man anstatt dessen genauer sagen will »Leitung der Zweifelnden«, so wird niemand etwas dagegen haben.

Die Wertlosigkeit seines Denkens für unsere Erkenntnistheorie verrät sich schon in der Art, wie Maimonides Theologie und Wissenschaft miteinander versöhnen zu können glaubt, wie er vielmehr sogar Wissen und Glauben für identisch hält. Zum Wesen des Glaubens gehöre die Überzeugung von der Richtigkeit dieses Glaubens; und ein Glaube, der durch den Verstand nicht widerlegt werden könne, verdiene Wahrheit genannt zu werden. Es will mir scheinen, als ob aus solcher Grundlage eine klare Unterscheidung zwischen Glaube und Aberglaube nicht möglich sei; dennoch hat Maimonides zur Beseitigung abergläubischer Vorstellungen viel beigetragen, es also redlich verdient, daß er nach seinem Tode auf den jüdischen Index gesetzt und beschuldigt wurde, die Bibel an die Griechen (an Aristoteles) verkauft zu haben. Ich ordne einige seiner aufklärerischen Gedanken nach einer Dissertation von Finkelscherer (»Mose Maimunis Stellung zum Aberglauben und zur Mystik,« 1894).

Die drei Quellen der Erkenntnis, die Maimonides zugibt, sprechen nicht eben für Freiheit von jedem Aberglauben; wir sollen glauben: was die Sinne uns vermitteln, was Verstandesbeweise lehren und was die religiöse Überlieferung erzählt. Man braucht diese letzte Erkenntnisquelle nur zu erwähnen, um einzusehen, daß der Bibelkritiker Spinoza, geschweige denn der Philosoph unmöglich ein Schüler des Maimonides genannt werden darf. Immerhin hört Maimonides mit gesundem Menschenverstande jedesmal dann auf, sich aus Moses und die Propheten zu berufen, wenn er einen verbreiteten Aberglauben bekämpfen will. Als ob in der Bibel von Zauberei und Wundern gar nicht die Rede wäre, wird die Verantwortung für diese Dinge den Chaldäern zugeschoben; als ob über den Stillstand der Sonne und solche widernatürliche Ereignisse mehr gar nichts berichtet wäre, wird behauptet, nach der Lehre der Bibel habe Gott zwar die Welt geschaffen und der Natur ihre Gesetze gegeben, aber innerhalb der geschaffenen Welt seien die Naturgesetze unabänderlich. Kühner schon ist der Satz, der Mensch sei nicht der letzte Zweck der Schöpfung. Es wäre eine für sein Jahrhundert außerordentliche Leistung gewesen, wenn Maimonides von da aus die naive anthropozentrische Weltanschauung vernichtet hätte; aber nicht einmal in der Bekämpfung anthropomorpher Vorstellungen von Gott geriet er weiter, als daß er die wildesten Phantasien der Rabbiner ablehnte.

Man darf sich von modern klingenden Sätzen dieser alten jüdischen Theologen nicht täuschen lassen, wie z. B. von dem, die Bibel müsse sich dem menschlichen Ohre anpassen und bediene sich darum der Menschensprache; das soll nicht etwa in unserem Sinne besagen: die Verfasser der Bibel, mochten sie nun ein höheres Wissen besitzen oder nicht, mußten sich für Wissen und Mitteilung auf die Möglichkeiten der Menschensprache einschränken; das sollte vielmehr besagen: Gott besitzt für sich ein übersprachliches Wissen, bindet sich aber für die Mitteilung an die Menschenworte, stellt sich selber in Menschengestalt dar und will in allen diesen Dingen allegorisch verstanden werden.

Nun hatte sich bei den asiatischen Juden, unter dem sogenannten Gaonat, der talmudischen Behörde der spät-babylonischen Juden, eine Literatur entwickelt, die über die Größenverhältnisse Gottes, über seine Gestalt, über seinen Hofstaat abenteuerliche Angaben machte, die zwar nicht von den Gaonim, wohl aber von dem theologischen Pöbel geglaubt wurden. Die bescheidene Leistung des Maimonides bestand nun darin, daß er die tollsten Anthropomorphismen dieser nichtkanonischen Bücher entschieden ablehnte, jedoch die landläufigen Anthropomorphismen der kanonischen Bücher, an deren Echtheit er niemals einen Zweifel aussprach, symbolisch deutete. Gott besitzt keine menschlichen Sinne und Organe, wirkt aber, als ob er solche Sinne und Organe hätte; die Attribute Gottes sind seine Wirkungen; Gott ist unkörperlich und gehört – wie ich mich ausdrücken möchte – weder der adjektivischen noch der substantivischen, sondern nur der verbalen Welt an. Mit solchen Gedanken, die sich in seinem philosophischen Werke wie in seinen theologischen Schriften finden, erhebt sich Maimonides freilich über das theosophische Geschwätz der zeitgenössischen Rabbiner; aber er verläßt durchaus nicht den eigentlich jüdischen Gedankenkreis und beruft sich bei seiner Lehre, die man darum nicht eine Religion der Vernunft nennen darf, auf die Bibel und auch auf den Talmud. Vernunftgemäßer, beinahe schon rationalistisch denkt Maimonides nur über solche Fragen, die in dem überlieferten Religionssystem der Juden keine bestimmte Ausbildung erfahren haben. So entnimmt er zwar aus der Bibel den Begriff der Engel, der Mittelwesen zwischen Gott und Menschen, entkleidet sie aber zuerst ihrer Körperlichkeit, dann ihrer Persönlichkeit überhaupt und scheint geneigt, sie für Personifikationen von Naturkräften zu halten; noch weiter geht sein strammer Monotheismus darin, daß er das Dasein der schädlichen Dämonen geradezu leugnet, also auch das Dasein des bösen Geistes oder des Teufels. Für uns wird der Wert solcher Aufklärerei dadurch beeinträchtigt, daß Maimonides sowohl die Vergeistigung der Engel als die Leugnung der Dämonen beharrlich auf die Bibel zu stützen sucht, die doch voll ist von solchen Geschichten und aus der er jederzeit von den Rabbinern widerlegt werden konnte. Doch mochte just diese Abhängigkeit oder Anhänglichkeit seinen Kampf gegen den praktischen Aberglauben der Juden nützlicher machen, auch den Kampf gegen manchen anderen Aberglauben seiner Zeit.

Zu dem jüdischen Aberglauben, der dann durch die Kabbala Gemeingut wurde, gehörte die Theurgie oder das Vertrauen auf die wunderwirkende Kraft des Gottesnamens. Man glaubte an eine geheimnisvolle Wirkung jedes Begriffs, wie der Mensch vor der Sprachkritik auch ohne Kabbala an so etwas glaubt; man glaubte an alle drei Erscheinungsformen der Begriffe: den Gedanken, das Wort und das Schriftzeichen. Da nun Gott das Wunder der Weltschöpfung durch das Aussprechen hebräischer Worte bewirkt hat, so müssen hebräische Worte eine besondere Kraft besitzen; die höchste Kraft der hebräische Name Gottes, namentlich wenn die vier Buchstaben dieses Namens richtig ausgesprochen werden; aber es gab noch gewaltigere Gottesnamen, einen von zweiundvierzig und gar einen von zweiundsiebzig Buchstaben. Maimonides, der kein anderes Wunder als das der Weltschöpfung zugab und – wie wir erfahren haben – keine Eigenschaften Gottes kannte (also eigentlich auch keine Namen), verbreitete sich sehr gelehrt über die Gründe der Geheimhaltung der kurzen und der langen Gottesnamen, behandelte aber schließlich doch alle diese Zaubereien als baren Unsinn, den man kaum anhören, geschweige denn glauben dürfe.

Über die jüdischen Schranken hinaus gelangt Maimonides in seiner Absage an die Astrologie, die damals noch nicht so allgemein für eine Wissenschaft gehalten wurde, wie zwei- bis dreihundert Jahre später, die aber namentlich in arabischen Gelehrtenkreisen schon ernst genommen wurde. In diesem Punkte hat Maimonides seine Halbheit beinahe überwunden. Der Mensch stehe nach Größe und Wesen in gar keinem Verhältnisse zu den Sternen, die er mit seiner Zeit als Intelligenzen auffaßte; die Himmelskörper seien nicht um der Menschen willen da. (Nur daß diese Wahrheit durch Redensarten von der Emanation sphärischer Vollkommenheit und dergleichen wieder abgeschwächt wird und einmal sogar zugestanden wird, die Pflanzen wenigstens seien um der Menschen willen da.) Auch vertrage sich die Astrologie weder mit der Willensfreiheit des Menschen, noch mit der Gerechtigkeit Gottes. Übrigens habe kein griechischer Weiser an die Astrologie geglaubt. Also sei in allen diesen Nativitäten keine Spur von Verstand anzutreffen. Freilich findet Maimonides einen Hauptgrund für seine Ablehnung der Astrologie darin, daß die Befolgung der Gebote des jüdischen Gottes nichts helfe, wenn die Geschicke der Völker und Individuen durch die Sterne vorherbestimmt seien. Die Abneigung des Maimonides gegen die Astrologie war so stark, daß er in diesem einen Falle selbst die Autorität des Talmud nicht gelten ließ. Es ist bekannt, daß sein heftiger, im ganzen sehr verständiger Widerstand gegen diese Scheinwissenschaft vergeblich war; gerade in der gottlosen Zeit der Renaissance gelangte die Astrologie zu ihrem vollen Glanze.

Nicht ganz so rücksichtslos war Maimonides in seinem Kampfe gegen Zauberei und Wunderkuren. Als Leibarzt Saladins, als einer der gesuchtesten Ärzte in Alt-Kairo, steht er ganz auf dem Standpunkte der Naturwissenschaft; Talismane und Amulette verwirft er; fragt aber doch bei diesen und jenen Arzneimitteln, ob sie von der Bibel gebilligt seien oder nicht.

In späteren Jahrhunderten wurde Maimonides für den bedeutendsten jüdischen Philosophen ausgegeben; die Meinung Mendelssohns und der sogenannten Reformjuden, daß nämlich das Wesentliche an der jüdischen Religion ein reiner Gottesglaube und daß der jüdische Monotheismus die wahre Vernunftreligion sei, geht vielleicht wirklich auf Maimonides zurück; auf ihn auch die nüchterne und rationalistische Verachtung gegen die Formen des Gottesdienstes und gegen jede Art von religiösem Aberglauben. Nationale Beschränktheit und fortgeerbte Bibelverehrung ließen es aber nicht dazu kommen, daß schon damals der Weg zu dem Deismus gefunden worden wäre, der zwar theoretisch den Gottesglauben stützte, praktisch jedoch, durch Untergrabung der Kirchenmacht, den Boden für Duldung des Atheismus vorbereitete; und so durch Toleranz für Ausbreitung des Atheismus selbst.

 

Juden

Ich folge wieder getreuer der Darstellung Reuters, wenn ich jetzt zu der Bedeutung abschweife, die die Juden schon im 12. Jahrhundert durch ihr bloßes Dasein auf die Geistesentwicklung des Abendlandes gewannen. Wir werden immer genauer sehen, daß eine Vergleichung mit den Lehren des Judentums und später des Islam, was man jetzt vergleichende Religionsgeschichte nennt, bei der Aufklärung und dem Abfalle vom Christentum eine immer wichtigere Rolle spielte. Schon in der ersten Hälfte des Jahrhunderts gab der geistreiche, berühmte, freilich sehr vorsichtige Nominalist Abälard seine nachwirksamste Schrift als das Gespräch zwischen einem Philosophen, einem Juden und einem Christen heraus. Die Juden, von den Kirchenvätern immer nur als verstockte Ungläubige bekämpft, kamen zu Worte, durch ihre Advokaten, aber auch durch ihre eigenen Schriften.

Während die Kreuzfahrerbanden unterwegs unmenschliche Grausamkeiten gegen die vogelfreien Juden verübten, erfreuten sich die Juden in Spanien, Frankreich und Italien einer bis dahin unerhörten Freiheit. Zwischen katholischen Geistlichen, den Papst nicht ausgenommen, und jüdischen Theologen entwickelte sich ein persönlicher und geistiger Verkehr; noch war die Inquisition nicht erfunden. Die christliche Geistlichkeit verteidigte ihre Sache gegen das Alte Testament, aber auch den Juden war es noch unbenommen, ihren verhältnismäßig oder scheinbar vernunftgemäßen Monotheismus gegen die christliche Kirche zu verteidigen, mündlich oder schriftlich. Die freiwillige Bekehrung eines Juden war selten, eine zwangsweise gab es noch nicht. Die katholischen Geistlichen besaßen für solche Disputationen nur ihre brüchige Dialektik und oft genug einen schwankenden Glauben; die Juden besaßen die immerhin modernere Logik der Araber, einige naturwissenschaftliche Kenntnisse, eine größere Auswahl von Büchern und vielleicht wirklich ein festeres Zutrauen zu ihrer Sache; da war es kein Wunder, wenn bei den vielen Disputationen, die denn auch am Ende von der Kirche untersagt wurden, just die Christen nicht das letzte Wort behielten. Einmal freilich erfahren wir, daß ein deutscher Jude Namens Hermann die Taufe annahm und es bis zu der Würde eines Abtes brachte; aber diese schnurrige Bekehrungsgeschichte, aus der man leicht eine tolle Humoreske machen könnte, konnte weder andere Juden fortreißen, noch fromme Christen andächtig stimmen.

Im freundschaftlichen Verkehr mit Juden scheinen aufgeklärte Christen sich frei darüber geäußert zu haben, daß sie zwar die Kirche besuchten und die hergebrachten Religionsübungen mitmachten, aber eigentlich an die Dogmen und Geheimnisse nicht mehr glaubten; die Juden spotteten über solche Feigheit, sie dünkten sich in ihrem »reinen« Monotheismus über einen solchen Zwiespalt des Gewissens erhaben; immerhin mag da in Spanien, Frankreich und Italien in mancher Stadt eine Gruppe von Christen sich gebildet haben, zu ängstlich für eine Lossagung vom Christentum, aber philisterhaft froh, im Kreise von Andersgläubigen, von angeblichen Vernunftgläubigen, ihren Unglauben nicht verhehlen zu müssen. Die Nachrichten über so tolle Christen sind häufiger, als man in einer Zeit erwarten sollte, welche einen unkirchlich gebildeten Mittelstand noch nicht kannte. Namentlich wird ein Graf Jean von Soissons als ein solcher vorzeitiger Freigeist angeführt, der aber mit seinen blasphemischen Rücksichtslosigkeiten das Alte Testament ebensowenig verschonte wie das Neue, der also wahrscheinlich noch nicht als ein verfrühter Deist angesprochen werden kann.

Was die jüdischen Gelehrten, die schon damals Schüler der Araber waren, zu ihrem Vorteile von den Klerikern unterschied, dürfte freilich nicht eine modernere Erkenntnistheorie gewesen sein. Sie begannen von Aristoteles mehr zu wissen als die Christen, hielten sich nicht so sklavisch an seine Logik, aber in der Überschätzung der Logik überhaupt gaben sie den Scholastikern nichts nach; der Wortrealismus, d. h. der Aberglaube an die Substantialität der abstrakten Begriffe, war auch bei ihnen verbreitet; ein Jude hätte ebensogut wie ein Erzscholastiker sich vorstellen können: die Hauptsache bei der Anfertigung einer Bank sei, daß der Schreiner die Begriffe Bank und Holz habe. Doch die Juden hatten von den Arabern schon gelernt, daß Theologie und Logik nicht die einzigen Wissenschaften seien, daß man seine geistigen Fähigkeiten auch der Naturwissenschaft oder der Medizin zuwenden könne. Unter arabischem und jüdischem Einflusse entstanden in Salerno und in Montpellier richtige medizinische Fakultäten, auf denen Erfahrungswissenschaft getrieben wurde, selbstverständlich nicht ohne den scholastischen Apparat eines dialektischen Vortrages, selbstverständlich nicht ohne den toten Ballast öder Wortstreitigkeiten, aber die Aufgabe, die Natur kennen und beherrschen zu lernen, führte immer wieder über die Haarspaltereien des Wortrealismus hinweg zur Wirklichkeitswelt. Der Form nach waren diese unmittelbaren und mittelbaren Araberschüler noch lange reine Scholastiker, schon entstand aber damals, wenn nicht eine materialistische Weltanschauung, so doch eine materialistische Stimmung. Diese metaphysischen Physiker (ich spreche jetzt von den Christen) dachten kaum daran, sich der Weltmacht der Kirche zu entziehen, etwa gar aus der Kirche auszutreten – das schien wirklich undenkbar –, aber sie konnten schon Bücher schreiben, zum ersten Male seit Jahrhunderten, in denen von Theologie nicht die Rede war. Gab es nun schon Schriften, in denen die Dogmen der Kirche ignoriert wurden, so wird wohl Reuter mit seiner Vermutung im Rechte sein, daß in der mündlichen Unterhaltung die Kirche und nicht nur die Orthodoxie offen angegriffen wurde. Erhalten sind aus jenen Kampftagen fast ausschließlich nur die Schriften der Kirchenfrommen und solcher Ketzer, die – wie Abälard – künstlich eine Verbindung mit der Kirche aufrechterhielten; die Feinde der Kirche werden bald ironisch Philosophen oder Vernünftler genannt, bald mit ehrlichem Schrecken die Verneinenden. Wir erfahren nicht, wer diese Freigeister waren. Soviel ist sicher, daß im 12. Jahrhundert just die Pariser Universität, bald nachher der Sitz der beschränktesten und giftigsten Unduldsamkeit, zum Mittelpunkte der verneinenden Vernünftelei gegen die Religion wurde.

 

Abälard

Mehr als einmal ist uns bereits der Name Abälard (die Schreibart schwankt) begegnet. Bei der Nachwelt ist er in weiteren Kreisen durch sein Schicksal berühmt geblieben, durch sein Liebesverhältnis zu Heloise und durch die Entmannung, mit der die Familie der Geliebten ihn strafte; bei seinen Zeitgenossen (er lebte von 1079 bis 1142) galt er für den geistreichsten Philosophen. Er wurde um nebensächlicher Ketzereien willen 1121 zu einer Art von Widerruf gezwungen, 1141 vom Konzil zu Sens verurteilt; aber trotzdem wurde er und blieb er bis zum Ende seines Jahrhunderts der erste Schulmeister der katholischen Kirche durch seine Schüler, den logischen Pedanten Petrus Lombardus und den mächtigen Papst Alexander III. Sein leidenschaftliches, freilich dann aus wilder Sinnlichkeit in Askese umgeschlagenes Verhältnis zu Heloise braucht uns nicht zu bekümmern; es wäre ganz falsch, ihn um seiner Liebesgeschichte willen einen Freigeist zu nennen; es wimmelte im Mittelalter von Klerikern, die in heimlichen Ehen oder sonst mit Weibern lebten; und seine Entmannung ist doch wohl eher für die Roheit der Zeit charakteristisch, als für seine Weltanschauung. Noch weniger darf uns der Bericht über sein gottseliges Ende irre machen, der von Peter dem Ehrwürdigen herstammt; der durch erbitterte Kämpfe und durch furchtbare Krankheit, zuletzt durch einen starken Hautausschlag, an Leib und Seele gebrochene Mann war etwa ein Jahr vor seinem Tode in dem Kloster bei Châlons-sur-Saône untergebracht worden und mußte sich dort wohl allen Anforderungen der Mönche fügen, wenn er nach einem bewegten Leben in Ruhe sterben wollte. Aber aus seinen Schriften können wir den Schluß ziehen, daß er in weit ausgedehnterer Weise ein Freigeist war, als die Lehren besagen, um derentwillen er in Sens verurteilt wurde. Dort hatte man ihm eigentlich nur Ketzerei in der noch offenen Frage der Dreieinigkeit vorgeworfen, den sogenannten Sabellianismus; dort hatte es sich um Haarspaltereien von immer noch flüssigen Begriffen gehandelt. Doch der Mann, der eine Sünde nur in der Gesinnung sah, noch dazu nur in der lieblosen Gesinnung, der eine Erlösung durch den Opfertod eines Gottes schaudernd ablehnte und die Erlösung allein aus dem Amor Dei (in der doppelten Bedeutung des Wortes) erklärte, war kein gläubiger Christ mehr in der Christenheit des Mittelalters. Es ist aber wiederum nicht richtig, wenn man diesen Abälard als den Vernunftapostel hinstellt gegenüber einer angeblichen Mystik seines Gegners Bernhard von Clairvaux; Bernhard war nur ein Fanatiker, der sich im aussichtslosen Kampfe gegen die neuen nominalistischen Zweifler bald hinter die Tradition, bald hinter das mystische Gefühl des Glaubens zurückzog; Abälard war allerdings ein starker Dialektiker, der beinahe wie ein antiker Sophist bei jedem Gegenstande des Streites das Ja und das Nein zugleich sah und darum in dogmatischen Fragen aus dem Zweifel kaum herausgelangte; doch die ewig wiederkehrenden, in den Konzilsverhandlungen wie in den Briefen an Schwester Heloise (»einst mir teuer in der Welt, nun erst ganz teuer in Christus«) geäußerten Beteuerungen seiner Rechtgläubigkeit wären häßliche Lügen gewesen, des stolzen Gelehrten in seiner Vollkraft ganz unwürdig, wenn nicht in seinem Herzen eine tiefe, beinahe schon »pietistische« Hingabe gelebt hätte an seinen Erlöser, wie er ihn verstand. Die Philosophiegeschichte hat durch Zurückführen auf weniger bekannte Vorgänger, durch Betonen seiner rechtgläubigen Sätze die Züge von Abälards Persönlichkeit verdunkelt; Bernhard von Clairvaux und die anderen Gegner Abälards täuschten sich nicht, da sie ihn als einen Aufklärer verfolgten.

In Abälard dämmert schon die Ahnung auf, die soviel später bei den Deisten des 17. und 18. Jahrhunderts zu einer allzu sicheren Gewißheit wurde, daß die Begründung der Trinitäts-Religion gegenüber dem Monotheismus des Alten Testaments und des Islam, gegenüber der Vernunftreligion der antiken Philosophie zu wünschen übrig ließ; der Wesensunterschied war nur der, daß Abälard durchaus noch ein Christ sein wollte, mit hundert Fäden noch am Christianismus hing, daß die Deisten dezidierte Nichtchristen waren, aus dem Christianismus hinaus wollten. Noch ein anderer Wesensunterschied ist wichtig, der die Geltung des klassischen Altertums damals bei Abälard und seinen Genossen, später bei den Männern der Renaissance betrifft; im 12. Jahrhundert berief man sich wie auch vorher auf griechische und besonders römische Philosophen, gebrauchte schon Redewendungen, ähnlich wie dann die Anhänger der Vernunftreligion, aber im Grunde machte man doch die griechischen und römischen Schriftsteller zu Christen vor Christus, verchristelte also die antike Philosophie; die Renaissance dagegen berief sich auf die gleichen Zeugen, um das Christentum zu paganisieren. Doch auch da ist wiederum zwischen Augustinus etwa und dem 12. Jahrhundert scharf zu unterscheiden. Augustinus hatte die heidnische Philosophie, aus deren Schule er ja hervorgegangen war, bereits arg verchristelt, aber er hatte die einzig richtige Moral, die christliche, bei den Heiden nicht gefunden; rührte doch von ihm der unduldsame und mehr als überhebliche Satz her, die Tugenden der Heiden seien glänzende Laster; Abälard jedoch lehrte, wie lange nach ihm erst wieder der uns so viel nähere La Mothe le Vayer, daß Sokrates und Platon moralisch ebenso hoch ständen, wie die besten Christen.

Darin lag natürlich noch keine unparteiische Religionsvergleichung, aber doch schon eine den Orthodoxen sehr bedenkliche Vergleichung der Wirkungen. Wenn Abälard den vollen Mut und die volle Klarheit seiner Überzeugungen hätte haben können, so hätte er schon selbst den Schluß ziehen müssen, den erst sechshundert Jahre später Tindal zog: das »Christentum sei so alt wie die Schöpfung«. Abälard faßt seine Freigeisterei niemals zu so antichristlichen Behauptungen zusammen; aber er läßt doch seine Meinung durchblicken, daß nach dem Grundsatze »an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen« die moralische Welt durch die »Offenbarung« der uralten Vernunftlehren nichts gewonnen habe. Wenn die alten Philosophen, wie Abälard ausdrücklich sagt, ja sogar den Verteidiger des Christentums sagen läßt, durch ihre Vernunft allein zur Weisheit Gottes gelangen konnten, dann wurde für Abälard wie für Tindal eine Offenbarung überflüssig. Dann war Abälard schon durch seine Bewertung der geschichtlichen Folgen des Christentums ein Rationalist.

 

Vergleichende Religionsgeschichte

Unter den Schriften Abälards findet sich aber eine, in welcher ausdrücklich das Thema der vergleichenden Religionsgeschichte durchgeführt wird, wenn auch mit den bescheidenen Mitteln seiner Zeit. Es ist das verwogene Gespräch zwischen einem Philosophen, einem Juden und einem Christen, das erst 1831 gedruckt wurde, aber vorher schon lange die Literatur beeinflußt hatte. Die Kunstform des Gesprächs ist darin elend; die Unterredner sprechen Abhandlungen, und höchstens der Philosoph, dessen Urteil angerufen worden ist und der selbst christlicher redet, als für ihn schicklich ist, wirft ab und zu ein Wort dazwischen. Eine dramatische Entwicklung des Gesprächs, eine Charakterisierung der Gegner (wie etwa in dem Religionsdialog Schopenhauers) ist nicht vorhanden; an eine Verurteilung der christlichen Ansicht wagt sich der Verfasser nicht. Aber in der guten Einleitung des Gesprächs bekennen sich alle drei Unterredner zu der Pflicht, die Wahrheit ihres Bekenntnisses aus dem ewigen Sittengesetze zu beweisen, also aus der Vernunft. Auf diesen Boden stellt sich zuerst der Jude, deutet die krausen Satzungen des Alten Testaments als nützlich, als von den Bedingungen der Zeit vorgeschrieben; wir werden an Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts« erinnert. Auch der Christ behauptet von Jesus nur, daß er das uralte Sittengesetz wiedererweckt, übrigens veraltete Vorschriften abgetan habe. Der Logos, der einst die ewig gleiche Sittlichkeit gelehrt hatte, die Vernunft also, war – wie Abälard anderswo noch entschiedener sagt – Mensch geworden; er machte uns zugleich zu Christen und zu wahren Philosophen.

Schüchtern wendet in diesem Gespräche der angerufene Richter gegen die immerhin christliche Formulierung dieses Rationalismus ein, auch die antike Philosophie habe Tugend und Seligkeit in dem bekannten Begriffe des höchsten Gutes gleichgesetzt, also das beste des Christentums vorweggenommen; gegen diese entscheidende Ketzerei lehnt sich der Advokat des Christentums auf und trägt Predigten vor, die die gewohnte dialektische Schärfe Abälards so sehr vermissen lassen, daß man wirklich an eine böse Absicht glauben könnte, den Leser gegen den Advokaten einzunehmen. Wieder wird man an Lessing erinnert, wenn die Schwächen der urchristlichen Theologie aus den pädagogischen Zielen eines Volksbuches erklärt werden. Wir vernehmen aus dem Munde des christlichen Advokaten sogar Zweifel an einer möglichen Lokalisation des Himmels und der Hölle, die beide figürlich gedeutet werden. Der Christ geht so weit, zuzugestehen, daß er nicht seine eigene Überzeugung vortrage, sondern den allgemeinen Volksglauben. Die Zeit des dritten Reichs, in welchem man das Evangelium als eine vergängliche Äußerung einer unentwickelten Vernunft betrachten werde, wird wenigstens von dem Philosophen für die Zukunft vorausgesagt, von dem Christen freilich zunächst heftig bestritten; doch auch der Jude und der Christ haben sich darauf geeinigt, die heidnische, die jüdische und die christliche Religion als drei gleichberechtigte Sekten einem Werturteile zu unterwerfen. Immer noch in der Einleitung des Dialogs stellt sich der Philosoph, eben der Urteilsfinder, die Aufgabe, frei von allen Vorurteilen der Gewohnheit und der Tradition die Wahrheit zu entdecken und über die gebildete Welt zu verbreiten. Jude und Christ stehen begreiflicherweise nicht so frei da wie in Lessings »Nathan«; aber sie führen sich schon in den ersten Zeilen als »Menschen« ein, die einig sind in der Verehrung eines Gottes und nur in den Glaubenssätzen verschieden.

Zu einem bewußt abschließenden Urteil des Philosophen kommt es nicht, konnte es nach der ganzen Anlage des Gesprächs kaum kommen, auch wenn es ursprünglich nicht dort abgebrochen worden wäre, wo die Handschrift abbricht; weder der Philosoph noch der Jude konnten nach ihren Einwürfen zum Christentum übertreten, und ein Sieg des Judentums oder des Heidentums war für den Autor erst recht ausgeschlossen. Der Christ erwähnt nur einmal und nur beiläufig, daß man sich zu der neuen Lehre bekennen müsse, wenn sie die bessere sei. Der Christ behält zwar in dem Gespräche oder in dem Gesprächsfragmente das letzte Wort, aber nicht so eigentlich als Christ, sondern weil er mit den beiden anderen in der Forderung übereinstimmt, den Glauben der Vernunft zu unterwerfen. Ich habe jedoch schon gesagt, daß Abälard dennoch nicht der starre Rationalist war, für den er so oft ausgegeben worden ist; in unserem Gespräche wird (S. 101) geradezu der Wunsch ausgesprochen, geheimnisvolle Bibelstellen allegorisch zu erklären, » mystice«.

Es ist auch nicht richtig, was gesagt worden ist, daß Abälard in diesem Gespräche kühner und verneinender gewesen sei, als sonst irgendwo. Allerdings liegt es im Wesen des Dialogs oder des Dramas, auch wenn der Verfasser kein Künstler ist, daß dieser den einen oder den anderen Unterredner, weil die andere Partei nachher widersprechen darf, einseitigere Behauptungen aufstellen läßt, als er in einer systematischen Darstellung wagen dürfte; just darum haben bedeutende Denker die religiöse Frage von jeher gern in Dialogform behandelt, haben Masken vorgenommen. Doch Abälard zeigt sich als ein Aufklärer, der über das Christentum hinausblickt, der es kritisch mit anderen Religionen und historisch mit dem Urchristentum, auch in weiteren Schriften, vergleicht.

 

Geschichte seiner Leiden

Da ist vor allem die von ihm selbst verfaßte Geschichte seiner Leiden, die er bald nach 1136, auf der Flucht vor seinen eigenen Mönchen, im Hause eines Freundes abfaßte. Diese Selbstbiographie mit ihrer ungehemmten Eitelkeit und ihrer an Verfolgungswahn grenzenden Heftigkeit ist natürlich zunächst ein unschätzbares Dokument für die Sittengeschichte der Zeit und für den Charakter des Schreibers; sein Briefwechsel mit Heloise, zu dem die Geschichte seiner Leiden die Einleitung bildet, wäre unverständlich, wenn wir nicht eben aus seiner Selbstbiographie begreifen würden, wie ihn schon sein maßloser Ehrgeiz, nicht erst seine Entmannung gegen die Geliebte unmenschlich gemacht hatte. Doch auch für seine Freigeisterei ist aus dem Berichte über sein Leben mancher Zug herauszuholen. Daß der leidenschaftliche Mönch seine Widersacher, die ohne Ausnahme Geistliche waren, niemals als von einer frommen Überzeugung getrieben darstellt, sondern immer nur als neidische, weltlich eifersüchtige, boshafte Gesellen, daß er von seinem eigenen wissenschaftlichen Ruhme mit großer Wärme spricht, von seinem Glauben nur in hergebrachten Ausdrücken, das würde freilich nur beweisen, wie irdisch damals wie immer die Motive auch der Frommen meistens waren; daß er bei der Schilderung seiner Liebesgenüsse nach so vielen Jahren noch mit naiver Freude verweilt, daß er sich seiner Liebeslieder (die leider verloren gegangen sind) ohne Spur einer christlichen Reue erinnert, das sollte nur ein Eiferer für ein Zeichen von Freigeisterei halten. Aber sein Bericht über das Konzil von Soissons, wo er zu einem rechtgläubigen Bekenntnisse und zum eigenhändigen Verbrennen seiner theologischen Schrift gezwungen wurde, verrät seine wahre Gesinnung. In der Hauptfrage, der über die Dreieinigkeit, kam es darauf an, ob die Lehre orthodox wäre, daß Gottes Allmacht Gott gezeugt hätte; und da wagte Abälard in der Diskussion den blasphemischen Witz, nach dieser Lehre – gegen die er sich auf Augustinus berief – wäre Gott-Vater sein eigener Sohn. Und er gesteht weiter ganz unbefangen ein, er habe das Athanasische Glaubensbekenntnis, das er von einem Blatte ablesen mußte, unter Seufzern und mit tränenerstickter Stimme gesprochen. Man denkt an den Widerruf Uriel Acostas bei Gutzkow; ein Orthodoxer hätte zu Tränen keine Veranlassung gehabt.

Eine andere Stelle ist noch verräterischer. Abälard fühlt sich kurz vor der Niederschrift der Lebensbeschreibung so unglücklich, sieht so sehr rings umher nur Verfolger, daß er ernstlich daran denkt – man überlege: im Zeitalter der ersten Kreuzzüge –, zu den Heiden zu laufen und bei den Feinden Christi christlich zu leben, »unter welcher Bedingung immer. Ich sagte mir, sie werden um so eher geneigt sein, mich aufzunehmen, als mein Christentum ihnen wegen der Verfolgungen, die ich von Christen erlitten, verdächtig erscheinen mußte; vielleicht würden sie darum auch meinen, sie könnten mich zu ihrer Religion bekehren«. Unter den Heiden können nur die Mohammedaner gemeint sein; und der Plan, der dem Mönche Abälard oft – »Gott weiß es« – durch den Kopf ging, konnte kein anderer sein, als der: zu den Mohammedanern zu fliehen und sich dort (»unter welcher Bedingung immer«) äußerlich zum Islam zu bekennen. Hundert Jahre vor Kaiser Friedrich II.

 

» Sic et Non«

Die andere Schrift, die wenn nicht Abälards Unglauben, so doch seine Skepsis zu beweisen scheint, ist das merkwürdige Buch » Sic et Non« (»Ja und Nein«). Man hatte ihm mit zünftlerischen Gründen seine gesamte wissenschaftliche Tätigkeit verbieten wollen; als Mönch dürfe er nicht über untheologisches Wissen lesen oder schreiben, aber auch über Theologie dürfe er nicht lesen und nicht schreiben, weil er in der Theologie nicht schulgerecht ausgebildet sei. Da mag es den Autodidakten, den anerkannten Dialektiker erst recht gereizt haben, den Theologen auch auf ihrem eigensten Gebiete seine Überlegenheit zu zeigen. Er schrieb zum ersten Male ein theologisches Buch, eben » Sic et Non«, führte da die Lehrsätze und die knifflichen Fragen der rechtgläubigen Dogmatik recht unordentlich aus und ließ jedesmal mit der Unparteilichkeit eines Skeptikers die Gründe dafür und dagegen folgen. Es ist nicht wahr, daß diese Sammlung auf die gleiche Stufe zu stellen sei wie die späteren » Summae«, die ganz ehrlich Handbücher für rechtgläubige Geistliche werden sollten. » Sic et Non« steckt voll heimlicher Kritik von Verfälschungen der Bibel und der Kirchenväter, einer Kritik, die nur darum nicht in die Tiefe ging, weil Abälard eben noch nicht die Kenntnisse etwa eines Erasmus besaß; scheint er doch weder Griechisch noch Hebräisch verstanden zu haben, hatte er doch das Quadrivium, den Unterricht in den Realwissenschaften, den zweiten Kurs nach dem Trivium, nicht durchgemacht.

Schon der Titel des Werkes, der nach einer ausdrücklichen Bemerkung des den Handschriften vorausgehenden Vorwortes von Abälard selbst herrührt, unterstreicht die Tatsache, daß die heiligen Kirchenväter selbst über die schwierigsten Sätze und Fragen verschiedener Meinung waren; Abälard stellt diese Widersprüche einfach fest und hat sich die Aufgabe einer Vereinigung oder Lösung gar nicht gestellt. Ohne jedes System werden in mehr als hundertfünfzig Paragraphen die zeitgemäßen Streitpunkte der Erkenntnislehre, der Dogmatik und der Kirchendisziplin durcheinander behandelt: ob der Glaube durch die menschliche Vernunft zu stützen sei oder nicht, ob es von dem »Nichtwahrnehmbaren« ein Wissen gebe oder nur einen Glauben, ob Gott eine Substanz sei oder nicht, ob durch den Zufall nichts geschehe, ob Gott alles könne, ob Gott einen freien Willen habe, ob Gott durch körperliche Bilder dargestellt werden könne, ob alle Ordnungen der himmlischen Geister Engel seien, ob Adam erlöst worden sei oder nicht, ob Kain nicht verdammt sei, ob man die nächtliche Stunde der Auferstehung des Herrn kenne, ob ein verheirateter Priester zu verwerfen sei, ob man eine Konkubine haben dürfe, ob der jungfräuliche Stand vorzuschreiben sei, ob die Liebe allein eine Tugend zu nennen sei, ob man lügen dürfe oder nicht.

Es läßt sich nicht leugnen, daß die Zugehörigkeit Abälards zu den Aufklärern nicht aus allen seinen Aussprüchen bewiesen werden kann; er war keine Heldennatur und unterwarf sich immer wieder nach den Ausbrüchen seiner Streitlust der übermächtigen Kirche. Er ist darum früher und später oft für die Rechtgläubigkeit in Anspruch genommen worden. Mir scheint aber noch entscheidender als die Tendenz der angeführten Schriften für seine Freigeisterei die Stellung zu sprechen, die er in dem Kampfe zwischen Nominalismus und Wortrealismus einnahm, dem größten Geisteskampfe, der in seinen Anfängen zweihundert Jahre hinter Abälard zurückreicht und heute noch nicht geschlichtet ist, wenn man ihn nicht als durch die Sprachkritik beigelegt ansehen will. (Vgl. mein »Wörterbuch der Philosophie« unter dem Schlagworte »Nominalismus«, II, S. 156 ff.) Freilich war Abälard auch in diesen Kämpfen kein Held und machte der Kirche so viele Zugeständnisse, daß Ritter ihn in seiner Philosophiegeschichte (VII, S. 401) beinahe für einen Wortrealisten ausgeben konnte; erst neuerdings hat ihn Windelband (Lehrbuch S. 248 f.), mit Berufung auf Reuter, mit Entschiedenheit den Nominalisten und damit den Freien zugezählt. Abälard gehörte freilich nicht zu der kleinen Gruppe der Rebellen, die den Widersinn des Wortrealismus erkannt hatten, diese ganze Weltanschauung gründlich umstürzten und darum Nominalisten genannt wurden; er stand aber recht nahe zu ihrer Seite und mag gerade durch seine vorsichtige Mäßigung viel dazu beigetragen haben, daß der verdammte Nominalismus unter falschem Namen für die Kirche diskussionsfähig blieb. Was er unter der Bezeichnung Sermonismus verstanden haben wollte – wenn es nicht etwa auf den richtigen Schulsatz hinauslief, daß eine Sache von einer Sache nicht ausgesagt werden könne –, gestehe ich, nicht gefaßt zu haben, womit ich begreiflicherweise die Schuld nicht meiner Fassungskraft zuschieben will. Was er aber unter dem Konzeptualismus verstand, das scheint mir völlig klar; es war eine scharfsinnige Zusammenfassung aller Gesichtspunkte, mit der erwünschten Verbeugung vor der Kirche, mit einer tiefen Einsicht in das Wesentliche. Wir dürfen die Lehre Abälards in der Sprache unserer Zeit etwa so ausdrücken: die Universalien oder Gattungen oder Oberbegriffe sind für die Theologie oder bei Gott vor den Dingen, vor der Vielheit; sie sind für die Naturwissenschaft als Naturgesetze in den Dingen, in der Vielheit; sie sind für die Psychologie oder für alle mögliche menschliche Erkenntnis nach den Dingen, nach der Vielheit. Ich brauche nicht erst zu sagen, daß eine so klare Unterscheidung in einem Zeitalter nicht möglich war, das unsere Naturwissenschaft und unsere Psychologie noch nicht kannte; ich brauche auch nicht erst zu sagen, daß auch meine Formulierung der Abälardschen Gedanken nur darum so klar scheint, weil sie die Sprache unserer Zeit redet; eine künftige Darstellung des nominalistischen Streites wird den theologischen Standpunkt ausschalten und die Bildlichkeit der Präpositionen »in« und »nach« aufzeigen müssen. Genug daran: Abälard hatte den starren Wortrealismus der Theologie überlassen, die Immanenz der naturwissenschaftlichen Gattungsbegriffe (den Standpunkt des Aristoteles etwa) geahnt und (nicht als der erste, doch als der berühmteste Wortführer eines vorsichtigen Nominalismus) die psychologische Entstehung der Gattungsbegriffe im Denken behauptet. Damit ist sein Verdienst entschieden, den stärksten Gedanken des Mittelalters mit seinem Ansehen unterstützt und in eine freiere Zeit hinübergetragen zu haben.

Es ist darum recht glaublich, wessen sich Abälard in seiner Selbstbiographie so aufdringlich rühmt, daß die jungen Leute ihm begeistert zuliefen, so oft er – in Paris oder in einer Einöde – eine neue Schule eröffnete. Prüfung des Glaubens durch die Vernunft war das Schlagwort; rationalistische Kritik, gemildert durch Unterwerfung unter die Kirche. Die Wissenschaft voraussehungslos, soweit die Kirche es zuläßt. Wir können uns recht gut vorstellen, wie die Schüler Abälards etwa seine Predigt, daß Gott die volle Wahrheit sei, verständnisvoll als ein Zugeständnis an die Kirche hinnahmen, daß sie den anderen Satz, eine unvernünftige oder übervernünftige Wahrheit sei ein Unding, für des Lehrers wahre Meinung hielten. Der Primat der Vernunft vor dem Glauben wird oft nur zweideutig behauptet, wird oft verklausuliert oder gar zurückgenommen, bleibt aber für die Schüler die große Tendenz des Meisters. Der durch das Denken geprüfte Glaube ist mindestens der bessere Glaube; der Prüfung aber muß der Zweifel vorausgehen. Ein Zweifel an den Inhalten des Glaubens und an seinen Autoritäten.

Die Schüler waren schwerlich im Unrecht, wenn sie den Aufklärer Abälard für den wahren Abälard hielten; wir tun dasselbe, nur daß wir die Rückfälle in die Kirchenfrömmigkeit mitunter für Heuchelei, mitunter aber auch für Unklarheit halten. Wir gehen aber an mancher Stelle noch weiter als seine aufgeklärten Schüler; wir glauben aus der Unwandelbarkeit seines Gottes, der nicht eigentlich allmächtig ist, sondern nur nach seiner eigensten Natur wirken kann, schon eine Ablehnung aller Wunder herauszuhören, ja vielleicht gar schon eine Vorahnung von Spinozas unzerreißbarer Kette der Notwendigkeit. Und daß Abälard über die Erlösungslehre ganz modern dachte, fast wie einer vom Protestantenverein, das ist schon kurz erwähnt worden. Es ist begreiflich, daß ein Gegner von ihm sagen konnte, in ihm maße sich die menschliche Vernunft alles an und überlasse nichts dem Glauben. Mit vollem Bewußtsein und mit einer gewissen Tapferkeit behauptete Abälard freilich nur ein bescheidenes Verdienst der Vernunft: daß man ohne Verständnis eines Glaubenssatzes seinen Inhalt nicht wirklich glauben könne. Doch auch diese schüchterne Form des Rationalismus war neu nach den Jahrhunderten eines blinden Glaubens. Neu. Die römische Kirche war noch nicht so erstarrt, daß sie neue Gedanken bloß um ihrer Neuheit willen, um ihrer »Modernität« willen – das Wort wurde häufig gebraucht – verfolgt hätte; in den Jahren, als Arnold von Brescia um seiner demokratischen und praktischen Reformen willen, die sich gegen den Reichtum der Kirche richteten, verdammt wurde, fand Abälard noch Unterstützung bei einzelnen Kardinälen. Erst als Arnold bei Abälard eine Zuflucht suchte und fand, als wahrscheinlich eine Verbindung zwischen dem praktischen Reformator und dem theoretischen Aufklärer in Rom denunziert wurde, ließ man dort auch Abälard fallen und verhalf ihm durch Bestätigung des Spruches von Sens zu seinem kleinen Martyrium.

Daß Abälard kein bahnbrechender Denker war, ist oft dargelegt worden; überflüssigerweise, denn er hatte sich selbst unaufhörlich bei seinen Ketzereien auf die Kirchenväter berufen; sogar seine Religionsvergleichung, die auf die Neuzeit fortgewirkt hat, konnte bis auf Augustinus zurückgeführt werden. Aber er war bei allen seinen Schwächen, vielleicht gar durch einige seiner Schwächen, wie seine heftige Rechthaberei, doch eine Persönlichkeit, die ihrer Zeit den Stempel aufdrückte. Mochte er in maßlosem Selbstbewußtsein nur die anderen Autoritäten neben der seinigen nicht gelten lassen, was er dadurch stürzen half, war dennoch die Autorität an sich. Es war sein Glück, daß die anbrechende neue Zeit keinen besseren Mann als ihn zum Führer hatte; man brauchte ihn, und so schlugen alle seine kleinen Menschlichkeiten zu seinen Gunsten aus, wenigstens in der Meinung seiner Zeitgenossen. Er hatte sich dem Gerichte der Kirche jedesmal weinerlich unterworfen, seine Jünger verehrten ihn dennoch als einen Märtyrer; er hatte dem Nominalismus die Spitze gegen den Gottesbegriff abzubrechen gesucht und galt dennoch – und nicht ohne Grund – für einen nominalistischen Meister; er hatte in dem Liebeshandel, in welchem wieder Heloise weit heldischer war als er, die Schmach der Entmannung erfahren, aber nur bösartige Gegner, unter ihnen Roscelin, lachten über sein Schicksal, seine Anhänger empfanden das tiefste Mitleid mit dem geschändeten Manne, und es ist schwer zu verkennen, daß dieses unerhörte Unglück, weil die Spatzen es von den Dächern sangen, seinen berühmten Namen erst recht allgemein bekannt machte und daß dieser Ruhm wieder zur Verbreitung des von ihm vertretenen Modernismus beitrug. Man mag es nur ruhig hinnehmen: nicht nur in der Novelle, auch in der Geschichte der Philosophie spielt der gebratene Falke seine Rolle; ein Umstand, der sich dem Gedächtnisse unvergeßlich einprägt, kann Ideen fördern helfen, wenn ihre Zeit erst gekommen ist.

 

Abälards Schule

Selbst wenn der Ruhm Abälards größer war als seine philosophische Selbständigkeit, die Tatsache dieses Ruhms wirkte weiter in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Bernhard Sylvester (dessen Autorschaft freilich nicht sicher steht), der für einen Wortrealisten galt und trotzdem für einen Schüler Abälards, war noch heidnischer, noch platonischer als dieser, als ob er der christlichen Kirche gar nicht angehört hätte; nicht kirchenfeindlich, aber kirchenfremd. Der gleichen Richtung gehörte an Wilhelm von Conches, der sich selbst einen Christen und einen Platoniker nannte, jedoch in Wahrheit ein Akademiker, d. h. ein Skeptiker war; er mühte sich vielleicht redlich, sein bißchen Naturwissenschaft oder Naturphilosophie mit der biblischen Schöpfungsgeschichte in Einklang zu bringen; vielleicht aber deutete er die Bibel schon bewußt bildlich, um die Naturlehre der Alten zu retten. Selbstverständlich wurde auch Wilhelm von Conches, als er alt und müde genug war, gezwungen, die Ketzereien seiner Jugend zu widerrufen. Er forderte die Besitzer seines Buches »Philosophie der Welt« auf, es zu verdammen und zu vernichten; nicht ein Satz mache den Ketzer, sondern die Verteidigung des Satzes. Einst hatte dieser Mann von der bäuerischen Gesinnung der Vernunftgegner geredet und noch leidenschaftlicher als Abälard ausgerufen: im Feuer des Glaubens habe man erst zu brennen, wenn man nicht wissen könne. Für einen Schüler von Bernhard Sylvester galt, weil er aus ähnlichen Gründen wie Abälard verurteilt wurde, Gilbert de la Porée, der nach seiner Sprache und nach seiner Stellung (er war Bischof von Poitiers) eher für einen Ketzer gehalten werden müßte als für einen Aufklärer. Er war scholastisch und dogmatisch bis zur Unerträglichkeit für uns. Was da über die Begriffsschwierigkeiten der Inkarnation Christi vorgebracht wird, geht über unsere Denk- und Vorstellungsmöglichkeit hinaus; aber gerade von den radikalsten Aufklärern wurde so verstiegene Scholastik für den Gipfel dialektischer Feinheit erklärt und Gilbert zu einem der ihren gemacht. Von der Scholastik dieser Theologie machen wir uns einen Begriff, wenn wir erfahren, daß es damals eine Schule gab (die der Nihilianer, nach heutiger Sprachform etwa der Nihilisten), nach deren Lehre Gott bei seiner Menschwerdung in Christus, insofern er Mensch geworden, Nichts geworden wäre.

Die von der Dialektik nicht angekränkelten Kirchenfürsten von Frankreich, Italien und Deutschland hielten es an der Zeit, gegen den Gebrauch einer so bedenklichen Dialektik aufzutreten, den sie einen Mißbrauch nannten; erst hundert Jahre später hielt es die Kirche für richtiger und für moderner, einen der stärksten Dialektiker, Thomas von Aquino, in ihren Dienst zu stellen; im 12. Jahrhundert glaubte man noch, den Vernunftgebrauch ohne weiteres einfach verbieten zu müssen. Einer der redlichsten, aber beschränktesten kirchlichen Schriftsteller, Walther von St. Victor, glaubte die ganze Schule Abälards, also auch den von Rom anerkannten Petrus Lombardus, grundsätzlich bekämpfen und verdammen zu dürfen, nicht um der Ergebnisse ihrer Forschung willen, sondern weil sie überhaupt Vernunft in der Theologie anwandte. Die Dialektik wird geradezu mit der Kunst der Gaukler verglichen, das Anführen heidnischer Schriftsteller wird verpönt; die Bibel sei ein Orakel und habe alle Schlußfiguren der Logik zu ersetzen. Walther erfand für die Anhänger Abälards ein seltsames neues Schimpfwort: er nannte sie die Labyrinthe Frankreichs. Aristoteles und die Dialektik, wenige Jahrzehnte später zu einer neuen Grundlage des Christentums gemacht, galten gegen Ende des 12. Jahrhunderts oft für antichristlich.

 

Simon von Tournay

Der Streit betraf nicht mehr und nicht weniger als den Wert der Vernunft; hatte Abälard mit gewohnter Vorsicht die Vernunft über den Glauben gestellt, so wurde jetzt von den Extremen der Vernunft oder der Logik der Mund verboten. Da war es kein Wunder, wenn charakterlose Dialektiker zu Sophisten wurden. Ein solcher war offenbar Simon von Tournay, von dem berichtet wird, daß er (also noch vor Kaiser Friedrich II.) das Wort von den drei Betrügern gesprochen habe, daß er, als er einmal mit einem scharfsinnigen Beweise der katholischen Wahrheit im Kolleg lärmenden Erfolg hatte, ausgerufen habe: »Oh, mein Jesulein, wieviel habe ich zur Befestigung deiner Lehre beigetragen! Wollte ich als ihr Gegner auftreten, würde ich sie mit noch stärkeren Gründen zu widerlegen wissen.« Und der wundergläubige Berichterstatter Matthäus Parisiensis fügt hinzu, Simon habe zur Strafe für diese Frechheit die Sprache verloren, habe erst nach Jahren wieder das Vaterunser und das Credo stammeln gelernt. Die Legende sollte die Freigeister unter den Theologen abschrecken, ihre wahre Meinung frei zu äußern. Für uns beweist die Geschichte nur, wie weit skeptischer Unglaube damals schon um sich gegriffen hatte; Simon von Tournay war weder ein Ketzer noch ein Aufklärer, er heuchelte Frömmigkeit, war aber in seinem Herzen ungläubig, wie damals schon viele gebildete Laien.

 

Kreuzzüge

Reuter erklärt diese Erscheinung – vielleicht zu einfach – aus den neuen Forderungen der katholischen Kirche und aus der Wirkung der Kreuzzüge. Die Kirche habe allzusehr sich selbst als den Naturgesetzen überlegen dargestellt, habe das Sittliche verzerrt, indem sie sich selbst die Entscheidung über Erlösung oder Verdammung anmaßte; dagegen habe sich die natürliche Sittlichkeit wie bei Abälard empört. Noch mehr habe der Ausgang der Kreuzzüge das Abendland antikirchlich gemacht.

Wirklich hatte sich in der Stimmung betreffs der Kreuzzugsziele seit hundert Jahren ein Umschwung vollzogen vom Idealismus zum Materialismus, aber nicht nur unter dem Mißerfolge der Kreuzfahrten. Ein gemeinsamer Enthusiasmus hatte die Eroberung des heiligen Landes begonnen; hundert Jahre später war Jerusalem endgültig verloren, die irdischen, politischen Absichten der Führer waren aller Welt offenbar geworden, und nach dem erbitterten Kampfe zwischen Rom und dem Kaisertum gönnten alle Anhänger der Staufer den Päpsten die wiederholten Niederlagen. Aber noch viel wichtiger als dieser Stimmungswechsel – richtiger vielleicht: für diesen Stimmungswechsel – mag es gewesen sein, daß das dritte Geschlecht der Kreuzfahrer für einen so liebenswerten Heiden, wie der Sultan Saladin war (1137-1193), aus dem Morgenlande eine ganz unchristliche Verehrung heimbrachte. Er besaß ritterlichere, christlichere Tugenden als viele abendländische Feldherren. Hatten bis dahin nur wenige verwegene Gelehrte daran gedacht, in ihren Bibliotheken die Religionsbücher des Christentums und des Islam miteinander zu vergleichen, nicht ohne eine heimliche Neigung für den Islam, so schien jetzt das Gottesgericht der Weltgeschichte für den Islam entschieden zu haben. Oder doch die Entscheidung den stärkeren Bataillonen oder der besseren Strategie überlassen zu haben. Nicht gar viel später prägte ein Troubadour das blasphemische Wort: »Gott wacht nicht mehr, er schläft jetzt.« Nicht in Gelehrtenstuben, auf offenem Markte konnte einmal den Mönchen, die immer noch das Kreuz predigten, höhnisch zugerufen werden: Mohammed sei mächtiger als Christus. Der Ruf »Gott will es« war längst nicht mehr zu hören. Der Krieg, hinten weit in der Türkei, wurde ohne Erbitterung geführt, zu Hause ohne Leidenschaftlichkeit, oft mit Schadenfreude beobachtet; die Heimkehrenden hatten erfahren, daß die Mohammedaner Menschen waren wie die Christen, daß die weltlichen wie die kirchlichen Fürsten den Krieg nur aus Ländergier oder aus Geiz weiterführten. In den Schriften über die letzten Kreuzzüge waren die religiösen Interessen nahe daran, von ökonomischen, ja sogar von geographischen verdrängt zu werden. Zwischen den christlichen und den mohammedanischen Führern kam es vielleicht schon damals, etwa in den Tagen eines Waffenstillstandes, zu förmlichen oder formlosen Religionsgesprächen, in denen die Vorurteile der Christen gegen die »Barbarei« der Ungläubigen mindestens manchen Stoß erlitten; es mochte sich zeigen, daß die arabische Kultur der christlichen ebenbürtig war, daß die Wissenschaft auch auf den Hochschulen von Bagdad, Kairo und Cordova blühte. Man bedenke: Saladins Hochherzigkeit, die Tugend eines Heiden also, wird im Abendlande gefeiert.

Die abendländische Volksmeinung, welche so mit ihrer Sympathie auf seiten der Ungläubigen zu stehen begann, verdichtete seit dem 13. Jahrhundert viele Erzählungen und Gerüchte, die aus einen berühmten Orden als den Mittelpunkt des wahren Unglaubens hinwiesen; die Tempelherren, mit deren Prozesse wir uns noch kurz zu beschäftigen haben werden, galten für tolle Antichristen; man betrachtete sie, von deren Tapferkeit vorher die abenteuerlichsten Stücke geglaubt worden waren, etwa seit der Zeit Kaiser Friedrich II. mit einem Gemisch von Bewunderung und Grauen, wie man sonst etwa Zauberer betrachtete, die mit dem Teufel im Bunde standen. Nach der Meinung Reuters hätten die Tempelherren just abergläubisch das Kreuz verleugnet und endlich sogar angespien, das ihnen kein Glück mehr brachte. Wie dem auch sei, im Volke setzte sich die Meinung fest – und darin lag das Neue –: die reichen, vornehmen, ritterlichen Tempelherren wären eine Gesellschaft von Gottesleugnern, Christusverächtern, sittenlosen Lüstlingen. In tieferen Schichten des Volkes mag man zu gleicher Zeit geglaubt haben, die Tempelherren wären Anhänger irgendeines neuen Götzendienstes, die Oberschicht aber sah Aufklärer in ihnen.

 

Albigenser

Für diese vornehmen Aufklärer nahm das Volk nicht Partei, weder damals noch zur Zeit des gesetzlosen Prozesses; desto entschiedener nahm das Volk Partei – und diese öffentliche, allgemeine Parteinahme ist wieder neu – für die Armen, die es seine Freunde nannte, für die Ketzer, die in Südfrankreich gegen das Ende des 12. Jahrhunderts durch ihre Zahl und durch das Ansehen ihrer Beschützer eine Macht zu werden begannen. Die Neigung des Volkes ist in einer merkwürdigen Wortgeschichte erhalten geblieben; das Wort »Pfaffe« ( papa), vielleicht aus der Kindersprache hergenommen, hatte bis dahin ohne üblen Nebensinn jeden Geistlichen bezeichnet; jetzt wurde es langsam zu einem Schimpfworte. In den oberen Kreisen hatte die gesteigerte Herrschsucht der Kirche bis zur Abkehr vom Kirchenglauben gelockt; das ungebildete Volk beschränkte sich noch darauf, auf die sittenlose Tyrannei der Kirche mit einer Verehrung der sittenreinen Ketzer zu antworten. Zum ersten Male schien eine Ketzerei wieder eine Gefahr geworden zu sein, nicht wie einst für das Dogma, nein, schlimmer, für die Macht und für den Besitz der Kirchenfürsten. Wer in der Erhaltung der äußeren Kirchenmacht einen lobenswerten Zweck sah, der mußte auch das Mittel wollen: die unmenschliche, alle früheren Ketzerverfolgungen an bestialischem Blutdurst überbietende Ausrottung der Albigenser, der die dauernde Einrichtung der Inquisition auf dem Fuße folgte. Niemals wird sich die katholische Kirche von den Blutflecken dieser Metzeleien reinigen können, niemals von den höhnischen Worten des Bluthundes im geistlichen Kleide, der seinen zögernden Soldaten zurief: »Schlagt sie nur alle tot; Gott wird die Seinigen schon herauszufinden wissen.«

Selbstverständlich hat die Ketzerei der Albigenser unmittelbar nichts mit Aufklärung zu schaffen; auch diese Reformatoren waren, wie ihre Anhänger aus dem einfachen Volke, tiefgläubige Seelen, die in ihrer Herzensnot das Evangelium richtiger zu verstehen vermeinten, als es von den Pfaffen verkündet wurde; auch sie beriefen sich gegen die verderbte christliche Religion auf die reine Religion Christi. Aber ebenso selbstverständlich vollzog sich auch dieser Reformationsversuch nicht ohne Auflehnung gegen die Autorität, nicht ohne eigene Deutung der Bibel, also nicht ohne eine naive Bibelkritik; und der gesunde Humor des Volkes verteidigte die neue Lehre auch schon durch Verspottung der kirchlichen Einrichtungen. Es konnte nicht ausbleiben, daß die mächtigen oder gebildeten Führer der Albigenser in der Negation weiter gingen als das Volk, daß der Zorn über die neue Einrichtung der Inquisition die Ahnung aufdämmern ließ, die sinnliche Welt wäre sittlicher als die vom Übersinnlichen schwatzende Kirche, der Gewissenszwang der Kirche wäre ungerecht und unerträglich.

 

Islam

Während aber die römische Kirche gegen die bedrohlich anwachsende Ketzerei mit Feuer und Schwert wütete, hatte sie auch schon Aufklärung abzuwehren, die neuerdings aus dem arabischen Spanien in die Philosophie, d. h. Theologie des Abendlandes einzudringen begann; wenn die späteren Geschlechter der Kreuzfahrer durch friedliche Berührung mit den Mohammedanern zu einer Art Religionsvergleichung und dadurch zum Abfall von der alleinseligmachenden Kirche gekommen wären, dann hätten wir sogar Ketzerei und Aufklärung aus der gleichen Quelle abzuleiten. Jedenfalls war die Theologie der wissenschaftlich gebildeten Araber der christlichen Theologie überlegen, schon seit der Zeit der freidenkerischen Mutaziliten, die freilich mit ihrem Freidenken Streitlust und Unduldsamkeit verbanden. Auch die Mutaziliten waren, noch bevor die Bezeichnung im Abendlande aufkam, Scholastiker gewesen, aber immerhin rationalistische Scholastiker, die vor den christlichen Theologen immer eine einfachere Dogmatik, einen reineren Monotheismus und ununterbrochene Beziehung zu einer freilich bettelarmen Naturwissenschaft voraus hatten. Daß auch sie ihre Kenntnis des Aristoteles aus sehr fehlerhaften Übersetzungen schöpften, schadete nicht viel; folgten sie bei ihren armseligen Lehren vom Übersinnlichen dem Neuplatonismus, so hatten sie sich doch aus ihrem Aristoteles den entscheidenden Satz gemerkt, daß die Materie ewig wäre, eine Schöpfung aus dem Nichts nicht möglich. Seit der Zeit Karls des Großen hatte dieser Rationalismus der Mutaziliten, von ihren Fürsten bald gefördert bald gehemmt, Fortschritte gemacht; als er in Asien dennoch zum Schweigen gebracht wurde, war diese ganze islamitische Aufklärung nach Spanien geflüchtet und hatte sich dort, unbekümmert um neue Verfolgungen, zu einer fast untheologischen Philosophie entwickelt, die mit der Hervorhebung einer selbständigen irdischen Welt das abendländische Denken entscheidend beeinflußte. Der Stolz der Europäer mag sich dagegen empören, es bleibt dennoch wahr: die Unkultur des abendländischen Mittelalters beruht auf dem Ansehen der jüdischen Bücher, die Rettung aus dieser Unkultur begann mit der (wieder durch Juden vermittelten) Verbreitung arabischer Schriften; die Zufallsgeschichte des abendländischen Geisteslebens scheint beinahe für den mystischen Glauben an einen auswählenden Judengott und an ein auserwähltes Judenvolk zu sprechen. Nur daß dieser Gott es bequemer gehabt hätte, wenn er das Abendland nicht erst krank gemacht hätte durch jüdische Vorstellungen; er hätte sie dann nicht homöopathisch zu heilen brauchen.


 << zurück weiter >>