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VIII

 

Kirchenrecht

Wie die Griechen keinen kodifizierten Glauben besaßen und darum auch keine Theologie, so hatten sie auch, eben weil sie keine Kirche hatten, kein kodifiziertes Kirchenrecht. Man wende nicht ein, daß selbst unter den christlichen Kirchen nur die römische ein System des Kirchenrechts besitzt und daß dieses eigentlich erst zu Pfingsten 1918 kodifiziert worden ist. Auch ein römisches Recht gab es lange vor den Pandekten. Beinahe könnte man diesen jüngsten Versuch, das Recht der katholischen Kirche in Paragraphen zu bringen, für ein Zeichen dafür ansehen, daß man sich der Neuheit und Schwäche dieses Rechts bewußt geworden ist.

Wie dem auch sei: das katholische Kirchenrecht hatte durch Jahrhunderte mit Erfolg behauptet, der Staat stehe unter der Kirche und habe die Pflicht, im Auftrage der Kirche Ketzer und Gottesleugner auszutilgen. Davon war im Altertum keine Rede, weder von einer Unterordnung des Staates noch von einem Verbrechen der Ketzerei. Jeder Dichter, der für seine Zwecke die herkömmliche Mythologie irgendwie änderte, wäre nach christlicher Vorstellung ein Ketzer gewesen und hätte den Tod verdient. Wo sich in Athen Ankläger und Richter fanden, um Gotteslästerung oder Gottesleugnung zu bestrafen, da konnte man sich gar nicht auf ein Kirchenrecht berufen, da ging die Stadt, die Polis, aus gemeinem Recht gegen einen Störenfried vor, immer aus politischen Gründen. Dabei sind die Atheismusprozesse im Altertum, so viele ihrer auch aufgezählt werden, doch immer Ausnahmsfälle; zu grundsätzlicher Verfolgung von Ketzern und Gottesleugnern – von Hexenprozessen und Religionskriegen gar nicht zu reden – fehlte den Griechen jede Neigung und jede gesetzliche Handhabe. Das Leben des Griechen war nicht ganz frei, weil man von ihm Teilnahme an den religiösen Bräuchen der Stadt erwartete; es gab aber kein Kirchenrecht, und so besaß er volle Gedankenfreiheit und Redefreiheit, als Dichter und auch als Philosoph. War er nur ein guter Bürger, vergötterte er nur seine Stadt – und er vergötterte sie buchstäblich –, so hatte er auch seine religiösen Pflichten erfüllt; er hatte der Obrigkeit zu gehorchen und die menschlichen Schwächen der Machthaber hinzunehmen, genau so aber auch die menschlichen Schwächen seiner Götter. Und auch darin waren sein Stadtstaat und seine Stadtreligion in Übereinstimmung, daß beide sich um Sittlichkeit und Bildung der Bürger herzlich wenig bekümmerten. Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten, politische Regsamkeit war das oberste Gebot, Gleichgültigkeit gegen die Stadt war die schwerste Sünde. Darum ist es nicht so paradox, wie es einem christlichen Zeitalter scheinen könnte, daß der Vorwurf des Atheismus ein politischer Vorwurf war; nicht so, daß religiöse Verfolgungen von der politischen Macht der Kirche ausgingen wie im Mittelalter, sondern so, daß der Atheist verdächtig wurde, ein schlechter Bürger zu sein. Bei der Bedeutung, welche der Eid damals im geschäftlichen Verkehr zwischen Völkern und einzelnen hatte, hätte es nahegelegen, den Atheismus als Begünstigung von Meineid und Untreue zu verabscheuen; doch in dieser Beziehung waren die Griechen überaus weitherzig; Gläubige wie Ungläubige logen und betrogen und rühmten sich ihrer Pfiffigkeit; griechische Unehrlichkeit war bei den Römern sprichwörtlich. »Kinder betrügt man mit Würfeln, Männer mit Eiden.«

Und weil die Alten – wie alle Menschen – Sklaven ihrer Muttersprache waren, nicht aber Knechte eines besonderen theologischen Jargons, darum war der Atheismus bei ihnen Privatsache – wie die Religion in Zukunft Privatsache werden soll –, darum kann man bei ihnen nicht eigentlich von einer Geschichte, einer Entwicklung des Atheismus reden. In der christlichen Zeit verläuft der Befreiungskampf der Aufklärung auch nicht eben geradlinig; aber wie auf den Gebieten anderer Gedankengruppen geht doch selten die Errungenschaft einer Kampfbewegung ganz verloren und die Nachfolger stellen sich gern auf den von Vorgängern eroberten Posten. Den besten Atheisten der Griechen und Römer war die Behauptung ihrer gottlosen Überzeugung kein so ernster Befreiungskampf, keine Selbstaufopferung im Dienste der Menschheit, höchstens vielleicht (Epikureer gegen Stoiker) ein Streit zwischen gegnerischen Schulen. Der Atheismus des Altertums hat keine »Geschichte« im Sinne einer Entwicklung, und schon darum fällt er aus dem Rahmen unserer Aufgabe hinaus; nur als Beispiele für diese Sätze sollen die wenigen griechischen und römischen Atheisten vorgestellt werden, flüchtig oder nachdrücklich, je nach der Nachwirkung, die sie durch das Dogma vom klassischen Altertum auf die Humanisten und dann auf die Aufklärungszeit übten.

 

Xenophanes

Ein griechischer Schriftsteller, an welchem, wenn wir nur mehr von ihm wüßten, die Unterschiede zwischen antiker und christlicher Freidenkerei deutlich zu machen wären, war der angebliche Stifter der eleatischen Schule, der Dichterphilosoph Xenophanes. Wir besitzen aber von ihm nur einzelne Fragmente, die just hinreichen, in ihm den Urheber derjenigen Sätze zu sehen, um deren Aufstellung willen zweieinhalb Jahrtausende später Feuerbach berühmt geworden ist. Wir wissen nicht einmal, wann und wo er gelebt hat; wahrscheinlich starb er in sehr hohem Alter ungefähr zu der Zeit, da Sokrates geboren wurde; wahrscheinlich verbrachte er die letzten Jahre seines Lebens in Elea, in Unteritalien; er stammte aus Kleinasien. Wir erfahren nichts darüber, daß er jemals um seiner Freigeisterei willen verfolgt worden sei; vielleicht erfreute er sich als Dichter oder Rhapsode einer Freiheit, die man einem zunftmäßigen Naturphilosophen nicht gewährt hätte.

Die entscheidenden Bruchstücke, die man oft und wohl mit Recht zu einem einzigen Gedanken zusammengestellt hat, lauten in zuverlässiger Übersetzung:

»Sterbliche Menschen vermeinen, die Götter würden geboren,
Wären wie wir von Gestalt, Gewandung und Sprache.
Doch wenn Rinder und Löwen wie Menschen Hände besäßen,
Malen könnten und Statuen bilden, so würden die Tiere
Götter nach ihrem Bilde schaffen, die Götter der Pferde
Wären wie Pferde, die Götter der Ochsen wie Ochsen.«

Es sei ja bekannt, daß die Neger sich ihre Götter schwarz und stumpfnasig vorstellen, die nordischen Völker rot und blauäugig. Xenophanes galt im Altertum auch darum für einen Spötter, weil er mit den Göttergeschichten bei Homeros und Hesiodos unzufrieden war, um ihrer Unsittlichkeiten willen. Wir wären geneigt, da von so etwas wie einer ethischen Bibelkritik zu reden, doch der antike Dichter hatte ja das Recht, die überlieferten Legenden umzugestalten.

Stand Xenophanes also der Volksreligion ganz gewiß feindlich gegenüber, so leugnete er doch keineswegs das Dasein von etwas Göttlichem in der Welt; man hat ihn sogar um einiger überlieferter Verse willen zum ältesten griechischen Monotheisten machen wollen, zum Verkünder eines einzigen, den Menschen zwar durchaus unähnlichen, aber doch in Menschenworten als den Größten zu preisenden Gottes. Es hätte nicht viel gefehlt und man hätte den alten Götterfeind zu einem christlichen Theologen gemacht, weil er bei dem Göttergesindel seiner Heimat keine Befriedigung fand. Es erinnert auch wirklich an die Geste liberaler Sonntagsprediger oder bestenfalls an das berühmte Wort von Kant, wenn Xenophanes – nach einem Berichte von Aristoteles – seine Augen fromm auf den unendlichen Himmel richtete und ausrief: »der Eine ist Gott.« Wenn wir aber, was uns von Äußerungen des Xenophanes über die Eigenschaften dieses Gottes erhalten ist, zu übersetzen und zu ordnen versuchen, so geraten wir von einem Widerspruch in den andern und gelangen nicht zu der Überzeugung, daß Xenophanes an einen persönlichen, außerhalb der Welt stehenden Gott geglaubt habe. Warum sollte er auch? War er erst von dem Polytheismus abgefallen, dem der Gottesdienst der Volksreligion galt, so gab es im ganzen großen Griechenland keine kirchliche Behörde mehr, keine geistlichen Richter mehr, die seinem Nachdenken ein Ziel oder eine Grenze setzen konnten. Was immer er damit gemeint haben mag, daß er den Gott einmal eine Kugel nannte, kein Theologe war da, um ihm das zu verbieten.

Man hat den freien Xenophanes auch einen Pantheisten genannt, auf Grund eines Verses, den ihm hundert Jahre nachher ein satirischer Skeptiker in den Mund legte; in diesem Verse ist wirklich das Schlagwort des Pantheismus schon enthalten. Wir müssen uns aber hüten, da wieder die Vorstellungen etwa gleichzusetzen, die ein antiker und ein christlicher Pantheist ablehnt; der moderne Pantheist, der zwischen Gott und Natur keinen Unterschied mehr macht, verwirft die Glaubenslehre von einem außerweltlichen Gottschöpfer; in der antiken Welt gab es kein Dogma, welches die Trennung zwischen Gott und Natur behauptet hätte: die Volksreligion personifizierte einzelne Naturkräfte, aber dem Dichterphilosophen blieb es unbenommen, entweder die gesamte Natur als das All-Eine zu personifizieren oder gar ohne jede Personifikation mit dem All-Einen auszukommen. Es scheint, daß Xenophanes, als ein Todfeind jedes Anthropomorphismus, das All-Eine geschaut aber nicht weiter erklärt habe.

Denn Xenophanes war, wenn wir das letzte Wort für ihn finden wollen, ein Agnostiker in unserem Sinne, damit ein würdiger Vorgänger des Agnostikers Sokrates, der der Weiseste der Griechen nur heißen wollte, weil er um sein Nichtwissen wußte. Lewes hat den Xenophanes zum Ersten in der Reihe der Denker machen wollen, die im antiken Skeptizismus gipfelten; das ist aber nicht ganz richtig, weil Xenophanes ganz frei gewesen zu sein scheint von dem wahrhaft talmudischen Wortaberglauben, mit welchem die berüchtigten Skeptiker des Altertums ihre Wortspiele trieben. Xenophanes hatte nicht die geringste Neigung, aus dem Zweifel an der Erkennbarkeit der Welt ein System zu machen; er war nur tief durchdrungen von der Unerkennbarkeit des Göttlichen oder des All-Einen, von dem Menschenschicksale, dem Wahne zu erliegen. Sokrates selbst übte sich bloß an einer beschränkten Kritik sittlicher Worte, ohne bis zur Sprachkritik vorzudringen; Xenophanes gelangte nicht einmal zur Wortkritik, fragte gar nicht, ob Worten wie »das Göttliche« usw. irgend etwas in der Wirklichkeit entspräche; aber er war so ehrlich, daß er die Unvereinbarkeit gewisser Abstraktionen (Unendlichkeit, Bewegungslosigkeit) mit dem hergebrachten Gottesbegriffe erkannte und sich mit einer logikalischen Lösung der Schwierigkeiten nicht zufrieden gab. Die Welt war ihm unbegreiflich, und er war noch so unverschult, daß er sich dieser Unbegreiflichkeit nicht schämen zu müssen glaubte. Wir dürfen nicht vergessen, daß Xenophanes in einer Zeit lebte, in welcher es noch keine philosophische Fakultät, noch keine grammatische und keine logische Disziplin gab, daß er also gezwungen war, über Gott und die Welt in der griechischen Gemeinsprache zu denken und zu dichten. Da scheint es mir immer eine besondere Auszeichnung für den unverschulten Xenophanes zu sein, daß der philosophisch und logisch (eigentlich nur grammatisch) so viel geschultere Aristoteles, ihm einige Grobheit der Sprache zum Vorwurfe macht.

Sehr fein beruft sich Rohde (in einem akademischen Vortrage »Die Religion der Griechen«) auf Xenophanes und aus Pindaros, da er auf den Unterschied hinweist, der zwischen den religiösen Vorstellungen der Griechen und der Fülle ihrer Göttergestalten besteht. Die Zahl der eigentlich religiösen Göttersagen sei gering; mit den Gestalten der Götter habe die Dichtung ein geniales Spiel getrieben; habe die religiöse Bedeutung dieser Gestalten so völlig vergessen können, daß eben bei Xenophanes »das Nichtreligiöse ins Irreligiöse umzuschlagen schien«. Von irgendeiner Verfolgung dieses Patriarchen aller Atheisterei erfahren wir nichts.

 

Anaxagoras

Wäre die Auswahl dessen, was vom antiken Schrifttum auf uns gekommen ist, nicht vom Zufall vollzogen worden, insbesondere nicht von den zufälligen Bedürfnissen der spätgriechischen und römischen Schulen, so hätte sich ohne Zweifel eine richtigere Vorstellung von dem klassischen Zeitalter der Griechen bilden lassen. Wir besitzen aus jener Blütezeit kein einziges Gemälde, nur wenige sicher bestimmbare Bildwerke; wir müssen es auf Treu und Glauben hinnehmen, daß die erhaltenen Theaterstücke die besten Theaterstücke, daß Platon und Aristoteles die bedeutendsten Philosophen des Zeitalters waren. Einige Zeugnisse aus dem Altertum und Fragmente seiner Schriften lassen vielleicht darauf schließen, daß Anaxagoras uns mehr zu sagen hätte als Platon und Aristoteles, an denen die Menschen durch mehr als zwei Jahrtausende das Denken übten und wohl auch mit den Denkübungen Mißbrauch trieben. Nichts liegt mir ferner, als den Versuch wagen zu wollen, ein »System« des Anaxagoras aus zerstreuten Ruinenstücken wieder aufbauen zu wollen. Ich habe mich mit ihm hier nur zu beschäftigen, weil er – wie das die Tradition ausdrückt, die wir nicht wörtlich zu nehmen brauchen – der Lehrer von Perikles, von Euripides und von Sokrates gewesen ist, also der Lehrer des gottlosen Staatsmannes, des gottlosen Dichters und des gottlosen Philosophen; und weil er selbst wegen Gottlosigkeit angeklagt und verurteilt wurde. Er starb fern von Athen, über siebzig Jahre alt, nur wenige Jahre vor der ersten Aufführung der Posse »Die Wolken«, in der Aristophanes die erste Denunziation gegen den gottlosen Sokrates vorbrachte.

Wir wissen nicht, ob die Abwendung von der Volksreligion, also die Götterleugnung, die sich bei Perikles als Rationalismus äußerte, bei Euripides bis beinahe zu einer Parodie der Mythen steigerte und bei Sokrates zu einer mythenfreien Ethik führte, – wir wissen nicht, ob diese griechische Aufklärung wirklich von der Persönlichkeit des Anaxagoras ausging oder ob sie während des Peloponnesischen Krieges in der Luft lag, im neuen Zeitgeiste. Die Anekdote, nach der Anaxagoras eine Wahrsagung lächerlich machte (die Alleinherrschaft des Perikles sollte durch die Erscheinung eines einhörnigen Hammels vorher verkündet werden, und Anaxagoras erklärte die Einhörnigkeit aus einer ebenso abergläubigen Anatomie, doch immerhin natürlich), beweist nur, daß die Naturwissenschaft, so tief sie auch stand, gern das Erbe der Priesterweisheit angetreten hätte. Anaxagoras versuchte dasselbe, was die Naturphilosophen, die man die Vorsokratiker zu nennen pflegt, versucht hatten: die Entstehung der Welt mit Hilfe einer armseligen Naturerkenntnis zu erklären. Es ist begreiflich, daß eine so kindische Naturerklärung, wenigstens für die griechischen Kinder, befriedigender ausfallen konnte als die heute gewagten Lösungen der Welträtsel. Beachtenswert aber ist es, daß alle diese primitiven Versuche einer unklar mechanistischen Welterklärung sich mit dem Götterglauben der Griechen ganz gut zu vertragen schienen; gehörten doch die Götter mit zu der Welt, gab es doch keine Genesis, welche irgendeinen Gott zum Schöpfer der Welt machte; es stand gar nichts im Wege, das Feuer, das Wasser oder sonst ein Element zum Urgrunde der Götter und der übrigen Welt zu machen. Nun hatte Anaxagoras, der übrigens eine besondere Art von Atomistik lehrte, zur Erklärung der Weltordnung ein neues Element eingeführt, von dem wir nur allgemein sagen können, daß es ein geistiges Element war: den Nus. Wenn man das Wort mit »Vernunft« übersetzt oder gar mit »Weltvernunft«, so wird man leicht geneigt, eine abstrakte Gottheit dahinter zu suchen; aber schon Hegel hat erkannt und es in seiner krausen Sprache fast unzweideutig ausgesprochen, daß dieser Nus kein denkendes Wesen außer der Welt war, keine Persönlichkeit, sondern so etwas wie ein objektives Denken. Wahrscheinlich verstand Anaxagoras unter seinem Nus ein Element des Lebens, was man etwa später Vitalismus nannte, ein ordnendes Prinzip, das dem Zufallsbegriff des antiken Materialismus entgegenstand. Nicht einmal von einem Dualismus, von einer gegenseitigen Ergänzung von Geist und Materie, sollte man da reden; der Nus mochte ein viel dünnerer Stoff sein als etwa die Himmelskörper, aber irgendwie stofflich hatte man ihn sich doch zu denken. Wegen einer solchen Naturphilosophie aber war in Griechenland niemals eine Anklage auf Atheismus erfolgt.

Bayle hat seine Verwunderung darüber ausgesprochen, daß wir über den Prozeß des Anaxagoras, obgleich der Staatskanzler von Athen, Perikles, als Zeuge oder als Verteidiger auftrat, so schlecht unterrichtet sind; Bayle übersieht, daß wir auch von dem tragischer ausgehenden Prozesse des Sokrates nicht viel wüßten, wenn nicht die beiden Berichterstatter zufällig berühmte griechische Schriftsteller wären, deren Schriften erhalten worden sind und wenn nicht die folgenden Schulen sich nicht gern auf den vorbildlichen Sokrates als auf ein Ideal berufen hätten. Und daß wir uns auch da vielfach auf Vermutungen beschränken müssen. Wahrscheinlich wurde die Anklage gegen Anaxagoras von Leuten erhoben, die nicht den Philosophen selbst treffen wollten, sondern seinen Schüler Perikles; was über die theatralische Weise erzählt wird, in welcher Perikles die Freisprechung seines Lehrers zu erreichen suchte – wie bei anderer Gelegenheit die Freisprechung seiner Aspasia –, das ist vielleicht alles nur athenischer Klatsch, würde aber zum Gerichtsverfahren im demokratischen Athen recht gut stimmen; wie denn solche Theatralik vor Gericht sich im demokratischen Paris wiederholt. Was aber die Anklage selbst betrifft, so ging sie bezeichnenderweise nicht auf die Theologie des Anaxagoras oder auf seine Philosophie, oder wohin sonst man seine Nuslehre rechnen mag, sondern einfach auf den groben Unfug seiner Behauptung, die Sonne sei ein Körper, ein Stein oder ein glühendes Eisen. Wir haben also bereits an dem Prozesse des Anaxagoras ein Beispiel dafür, daß die Griechen jeden theoretischen oder radikalen Atheismus und jede gottlose Philosophie duldeten und erst dann unduldsam wurden, wenn so ein Mann irgendeinen religiösen Brauch seiner Stadt im Gegensatze zu der öffentlichen Meinung zu stören schien. Die Entdeckung, Anaxagoras wäre ein Atheist gewesen, wurde erst in der Folgezeit gemacht, erst ein Menschenalter später; vielleicht kam der Beiname »Atheist« auch überhaupt erst in der kritischen Zeit des Peloponnesischen Krieges auf. Meines Wissens der erste, der diesen Beinamen führte, war der Philosoph Diagoras, von dem wir nur gar zu wenig wissen.

 

Diagoras

Bayle rühmt von ihm: » Ce fut l'un des plus francs et des plus déterminés Athées du monde; il n'usa point d'équivoques ni d'aucun patelinage; il nia tout court qu'il y en a des dieux.« Die Tradition, daß er zu den Sophisten gehört habe und daß er ein Schüler des Demokritos gewesen sei, hat die philologische Kritik zerstört, und hat aus einer Stelle des frommen Gassenjungen Aristophanes mit ziemlicher Sicherheit erschlossen, daß die Verurteilung des Diagoras um das Jahr 415, also gegen Ende des 5. Jahrhunderts erfolgte, in einer sehr aufgeregten Zeit der Stadt Athen. Doch sind alle diese Zeitbestimmungen noch viel unsicherer als bei größeren Namen der griechischen Philosophiegeschichte. Diagoras kann nicht gut ein Schüler des Demokritos oder ein Lehrer des Sokrates gewesen sein; was immer über diese Beziehungen vermutet wird, das stützt sich entweder auf Zufallsanekdoten bei Diogenes Laertios und Cicero, oder auf Zufallsworte der Possendichter, wenn nicht gar auf eine gewagte Ausdeutung solcher Zufallsworte. Immerhin gibt es zu denken, daß Aristophanes, der sicherlich gewissenlos war, aber seine Leute kannte, den Gottesleugner Sokrates, da er ihn der Volkswut denunzieren will, gelegentlich in böser Absicht den »Melier« nennt; Diagoras stammte von der Insel Melos; wahrscheinlich also war zu der Zeit, als Aristophanes gegen Sokrates zu hetzen begann, der Melier Diagoras als Gotteslästerer bekannter als Sokrates, und es war darum für Sokrates ein gefährlicher Schimpf, mit Diagoras verglichen zu werden. Was sonst erzählt wird, um den Ausgang des Diagoras mit dem Schicksal der Insel Melos in Verbindung zu bringen, ist offenbar ungeschichtliches Geschwätz der Griechen: daß Athen die Melier um ihres Atheismus willen überfallen und vernichtet habe. Alkibiades, der auch diesen Feldzug veranlaßt hat, war kein Beschützer der Götter und hatte sich bald darauf wie Diagoras selbst wegen Verspottung der Mysterien zu verantworten.

Cicero ist ein Zeuge dafür, daß schon bei den Alten ein Unterschied gemacht wurde zwischen den dogmatischen Skeptikern, die das Dasein der Götter dahingestellt sein ließen wie alles, und den eigentlichen Gottesleugnern. Diagoras wäre auch darum ein ganz echter Atheist, weil sein Unglaube nicht ein logischer Schluß, sondern ein Erlebnis war; er soll dadurch einen Prozeß verloren haben, daß sein Gegner einen Meineid schwur; als dieser Meineid von den Göttern nicht gerächt wurde, verlor Diagoras seinen Kinderglauben. Er wurde angeklagt und nach seiner Flucht ein Preis auf seinen Kopf, der doppelte Preis auf seine Gefangennahme gesetzt.

Gerade die Verfolgung des Diagoras läßt aber erkennen, daß er schwerlich um seines theoretischen Atheismus willen zu büßen hatte, sondern weil er den Volksglauben verletzte und verhöhnte. Ein Kirchenvater erzählt dem Scholiasten des Aristophanes die Geschichte nach, daß Diagoras einmal in einem Wirtshause, da es an Holz fehlte, ein hölzernes Götterbild kleingeschlagen habe, um irgendein Gemüse zu kochen. (Der französische Jesuit Garasse meint zweitausend Jahre später, zu seiner Zeit hätten sehr viele Karrenschieber und Schuhflicker beim Weine noch bessere Einfälle.) Ein anderes Histörchen wird am hübschesten von Diogenes Laertios berichtet: Man verlangte von ihm den Glauben an die Hilfe der Götter, weil in irgendeinem Tempel viele Votivtafeln ausgestellt wären von Leuten, die aus einem Schiffbruche gerettet worden waren; Diagoras antwortete, die Ertrunkenen hätten keine Tafeln gewidmet, sonst wäre der Tempel noch voller. In beiden Fällen handelte es sich also um Angriffe gegen die Volksreligion, also gegen das, was wir heute Aberglauben nennen. Und dahin gehört auch das Vergehen, um dessentwillen er eigentlich verfolgt wurde. Er soll die griechischen Mysterien verraten oder verspottet haben; aber auch die Mysterien waren nicht ein Teil des offiziellen Götterglaubens, waren nur Volksreligion der besseren Stände.

Diagoras wurde nicht gefangen und nicht hingerichtet; man weiß aber nicht, wann und wie er gestorben ist.

Es verdient einer Erwähnung, daß Gottsched, den eine kleine Gruppe zum größten Manne des deutschen 18. Jahrhunderts machen möchte, den tapferen Bayle wegen seines Artikels »Diagoras« hart angelassen hat. Bayle hatte in einer Anmerkung wieder einmal durchblicken lassen, daß er sich einen geordneten Staat von Gottesleugnern recht gut vorstellen könnte. Gottsched tadelt ihn dafür. Eine solche Unparteilichkeit sei gefährlich; man solle die Verdienste offenbarer Gottesleugner nicht rühmen. Ein Staat werde ja nicht so unglücklich sein, daß es nur geschickte Gottesleugner darinnen geben werde; auch eine Gesellschaft von Freigeistern werde nicht so einfältig sein, einen abergläubischen, obgleich verdienstvollen Menschen an das Ruder zu setzen. Als Gottsched diese Zeilen niederschrieb, war Friedrich der Große bereits König.

Es liegt nahe, den schlechten Ruf des alten Diagoras bei den Griechen nur zu begreiflich zu finden, wenn noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein deutscher Aufklärer so gehässig über ihn urteilen konnte. Die Verfolgung des Diagoras fällt aber in die Jahre zwischen der öffentlichen Beschimpfung des Sokrates durch Aristophanes und des Sokrates Hinrichtung, fällt just in die Zeit, da Athen durch das tolle Unternehmen gegen Sizilien seine Machtstellung einbüßte; wir wissen gar nichts darüber, welche Feindschaften Diagoras etwa erregt hatte, wir wissen nur, daß die Anklage gegen ihn in einer Periode äußerster politischer Spannung erhoben wurde; wir müssen uns also auf die Vermutung beschränken, daß irgendeine Partei den politischen Gegner in ihm treffen wollte. Nicht einmal die Nachricht, er sei aus der Flucht bei einem Schiffbruche umgekommen, darf darauf schließen lassen, die öffentliche Meinung der Zeitgenossen habe da an ein göttliches Strafgericht gedacht; das mag für ähnliche Legenden des Mittelalters gelten; bei den Griechen entstanden solche Legenden ohne Tendenz, ohne Bosheit, freilich auch ebenso wie bei den Mönchen ohne Überlegung; man ließ in Griechenland fast jeden berühmten Mann, dessen Todesursache nicht irgendwie bezeugt war, eines unnatürlichen Todes sterben; eine Anekdote war bald erfunden und niedergeschrieben, und im Falle des Diagoras gar wurde vielleicht nur die Anekdote vom Ausgange des Protagoras abgeschrieben. Die griechischen Historiker hatten es bequemer als die unseren.

 

Eid

Nur auf den Umstand möchte ich noch einmal hinweisen, daß Diagoras durch einen Meineid, der ihn einen Prozeß verlieren ließ, zu seinem Abfall vom Volksglauben geführt worden sein soll. Der Eid ist eine Art Wette: wer einen Eid bei den Göttern geschworen hat, einen falschen Eid nämlich, läßt es darauf ankommen, ob die Götter mächtig und sittlich genug sind, den Meineid zu bestrafen; der Gottesleugner ist im Vorteil wie beim mittelalterlichen Gottesurteil der stärkere und ungläubige Gegner. Nun spielte der Eid bei den Griechen im Zivilrecht die gleiche entscheidende Rolle wie heute, dazu aber eine sehr gefährliche Rolle im öffentlichen Recht; Friedensverträge wurden während des Peloponnesischen Krieges regelmäßig durch Eide gesichert. Alle Welt wußte, daß diese Eide ebensooft gebrochen wurden, wie heutzutage völkerrechtliche Verträge, und daß im Zivilprozeß falsche Eide in Menge abgelegt wurden. Diagoras konnte also aus seinem Erlebnisse zweierlei Schlüsse ziehen: daß die Götter entweder nicht existierten oder ohnmächtig oder unsittlich waren, sodann daß das Volk der Griechen an die Strafe der Götter nicht mehr glaubte. Es ist möglich, daß Diagoras nur diesen zweiten Schluß zog, nur eine Tatsache feststellte, daß er das Recht durch ein besseres Mittel als den Eid gesichert wissen wollte und daß man ihm diese Aufdeckung einer konventionellen Lüge übelnahm. Auch heute noch ist der Eid ein dunkler Punkt im Prozeßverfahren; der Vorsitzende des Gerichtshofes pflegt, wenn er dem Zeugen einen Eid abzunehmen hat, mit lauter Stimme die weltlichen Strafen des Meineides anzudrohen und dann, damit er nicht bei seinen Vorgesetzten anstoße, leise etwas von den göttlichen Strafen zu murmeln. Und wieder darf nicht vergessen werden: der heutige Gerichtspräsident, der die göttlichen Strafen nicht glauben wollte, würde einen Satz des Katechismus leugnen; der Grieche verletzte nur die Volksmeinung.

 

Sophisten

Eine solche Gegenüberstellung von geschriebenem und ungeschriebenem Recht erinnert freilich an die Kämpfe, die seit dem l6. Jahrhundert um die Anerkennung eines Naturrechts von den Freidenkern geführt wurden; doch wieder darf nicht außer acht gelassen werden, daß in der christlichen Zeit die religiöse Freidenkerei den Ausgangspunkt bildete, während im Altertum die Kritik, soweit sie ernsthaft war, bei den Rechtsbegriffen einzusetzen pflegte und der Individualismus oder Relativismus, den die sogenannten Sophisten etwa zu der Zeit des Diagoras einführten und verbreiteten, nur nebenbei auf religiöse Fragen ausgedehnt wurde. Was den Sophisten zunächst vorgeworfen wurde, das war ihre wirkliche oder angebliche Lehre: der Starke (wir würden sagen: der Übermensch) brauche sich um die Begriffe Recht und Unrecht nicht zu kümmern; nach den Gesetzen der Natur sei es eine Schande, Unrecht zu leiden, einen Schaden zu haben; Unrecht zu tun sei nur durch Menschensatzung verboten. Dieser Relativismus erstreckte sich bei den konsequentesten Sophisten bald auch auf den sittlichen Unterschied von Gut und Böse, auf die Unterwerfung unter die Bräuche der Heimat und nur so auch auf die Religion. Noch waren im letzten Viertel des 5. Jahrhunderts die Sophisten nicht durch Platon zu minderwertigen Philosophen gestempelt worden, noch konnten Diagoras und auch Sokrates – wie es wahrscheinlich geschah – ohne beschimpfende Absicht Sophisten genannt werden, Menschen, die, um ein späteres Wort zu benützen, die Philosophie vom Himmel auf die Erde brachten. Darin lag allerdings etwas Neues ausgesprochen, doch nicht das, was die christliche Gemeinsprache herauszuhören glaubt. Die Naturphilosophie hatte sich viel mit den Bewegungen der Himmelskörper beschäftigt und war schließlich zwar nicht zu unserer mechanischen, aber doch zu einer götterlosen Astronomie gelangt; die Sophisten gaben diese Art von Naturphilosophie auf und widmeten ihr Nachdenken nur noch den menschlichen Dingen, den Fragen von Recht und Sitte. Der Glaube an das Dasein der Götter bildete nicht den Mittelpunkt der Untersuchungen. Unabhängig konnte der eine die Religion rationalistisch erklären, der andere politisch, Protagoras skeptisch ausweichen, Diagoras die Ohnmacht der Götter aus der Nutzlosigkeit des Eides beweisen und Sokrates, im Besitze einer gemütlichen Privatreligion, alle sittlichen Schlagworte seiner lieben Zeitgenossen in Frage stellen.


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