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Fünfzehntes Kapitel

Sobald der Wirt eingesehen hatte, daß der Spaß zu weit getrieben und zu sehr in die Länge gezogen wurde, war er zu Renzo getreten und fing an, ihn an dem einen Arme zu schütteln, indem er die anderen, wiewohl mit guter Art ersuchte, ihn gehen zu lassen und ihm zu verstehen zu geben und ihn zu bereden strebte, daß er schlafen ginge. Aber er kam nur immer wieder auf seinen Satz von dem Namen und Zunamen und den Verordnungen und rechtschaffenen Kerlen zurück, wenngleich die vor seinem Ohre wiederholten Worte, Bett und Schlafen, auch nicht ermangelten, Eindruck auf sein Gemüt zu machen; ja, ihn etwas bestimmter an das Bedürfnis mahnten, das sie andeuteten und einen lichten Augenblick in ihm zustande brachten.

Das bißchen Verstand, das er wieder fand, verlieh ihm gewissermaßen die Einsicht, daß der übrige zumeist darauf gegangen sei; so wie etwa das letzte noch brennende Stümpfchen Licht einer Festbeleuchtung an die anderen ausgegangenen gemahnt.

Er faßte einen Entschluß; stemmte die flachen Hände auf den Tisch, versuchte ein oder zweimal aufzustehen; seufzte, wankte; das drittemal kam er, vom Wirte unterstützt, auf die Beine. Dieser, der ihn fortwährend aufrecht erhielt, brachte ihn zwischen dem Tische und der Bank vor, nahm in die eine Hand eine Lampe und führte ihn mit der anderen teilweise, so gut es anging, teilweise zog er ihn nach der Treppentür. Hier wandte sich Renzo, auf die lärmenden Grüße, die ihm von der Gesellschaft nachgerufen wurden, hastig um; und wenn sein Beistand ihn nicht recht gewandt an einem Arme festgepackt hätte, so würde aus dieser Wendung ein Sturz geworden sein; er wandte sich um und beschrieb mit dem anderen Arme, den er frei behalten, gewisse Begrüßungen nach Art eines salomonischen Siegels in die Luft.

»Kommt zu Bette, zu Bette,« sagte der Wirt und schleppte ihn fort; er brachte ihn zur Tür hinaus und zog ihn mit noch größerer Mühe die schmale hölzerne Treppe empor und sodann in die Stube hinein, die er für ihn bestimmt hatte.

Renzo freute sich über den Anblick des Bettes, das ihn erwartete; blinzelte den Wirt liebreich mit ein Paar kleinen Augen an, die bald noch mehr als vorher erglänzten, bald wie zwei Johanniswürmchen sich verfinsterten; strebte mit den Beinen ins Gleichgewicht zu kommen und streckte die Hand nach der Backe des Wirtes aus, um sie zwischen den Zeigefinger und Mittelfinger zum Zeichen der Freundschaft und Dankbarkeit einzukneipen; aber es gelang ihm nicht.

»Brav, Wirt,« war er jedoch imstande zu sagen; »jetzt sehe ich ein, daß du ein Biedermann bist; das ist ein gutes Werk, einem armen Jungen ein Bett zu geben; aber der Pfiff mit dem Namen und Zunamen der war nicht biedermännisch. Zum guten Glück bin ich auch meinerseits ein Pfiffikus ...«

Der Wirt, der nicht daran dachte, daß jener noch so bei Sinnen sein könnte, der Wirt, der aus einer langen Erfahrung wußte, wie die Menschen in diesem Zustande mehr als gewöhnlich einer plötzlichen Änderung ihrer Gesinnungen unterworfen sind, wollte den lichten Augenblick dazu benutzen, noch einen Versuch zu machen.

»Lieber Sohn,« sagte er mit der einschmeichelndsten Stimme und Miene, »ich habe es ja weder getan, um Euch zu belästigen, noch um Euch auszuhorchen. Was wollt Ihr denn? Es ist ja das Gesetz; auch wir müssen gehorchen, sonst sind wir die ersten, die in Strafe verfallen. Es ist besser, ihnen nachzugeben, und ... Um was handelt es sich denn eigentlich? Um eine große Sache! ein paar Worte zu sagen. Nicht etwa ihrethalb, sondern nur mir zu Gefallen; na, hier unter uns, unter vier Augen, laßt uns unsere Sache abmachen; sagt mir Euern Namen an und ... und hernach geht mit ruhigem Herzen zu Bette.«

»Ha, Schurke!« schrie Renzo; »Spitzbube! Du kommst mir mit deiner Niederträchtigkeit von Namen, Zunamen und Gewerbe noch einmal!«

»Schweig still, Possenreiter; geh zu Bett,« sagte der Wirt.

Aber jener fuhr noch stärker fort: »Ich habe es eingesehen; du bist auch in der Verschwörung, du. Warte, warte, ich will dich zustutzen.« Und indem er den Mund nach der Tür der kleinen Treppe hinhielt, hob er an, noch übermäßiger zu brüllen: »Freunde! Der Wirt ist in der ...«

»Ich habe es ja nur zum Spaße gesagt,« schrie dieser Renzo ins Gesicht, drängte ihn zurück und trieb ihn zum Bette. »Zum Spaße; hast du denn nicht begriffen, daß ich es zum Spaße gesagt habe?«

»Ah! zum Spaße; jetzt sprichst du, wie es sich schickt. Wenn du es zum Spaße gesagt hast ... Das sind auch recht spaßhafte Sachen.« Und er sank aufs Bett.

»Auf; zieht Euch aus; geschwind,« sagte der Wirt und sprang mit der Tat dem Rate bei, denn dies war vonnöten. Als Renzo damit zustande gekommen war, sich die Jacke auszuziehen, nahm jener sie weg und legte gleich Hand an die Taschen, um zuzusehen, ob die Barschaft darin sei. Er fand sie vor, und da er dachte, daß morgenden Tages sein Gast ganz andere Dinge zu tun haben würde, als ihn zu bezahlen und daß der Mammon dann wahrscheinlich in solche Hände fiele, woraus ein Wirt ihn nicht einlösen könnte; da er also daran dachte, wollte er es doch auf einen Versuch ankommen lassen.

»Ihr seid ein braver Bursche, ein Ehrenmann; ist es nicht wahr?« fragte er.

»Braver Bursche, Ehrenmann,« versetzte Renzo, derweil sich seine Finger frischweg mit den Knöpfen der Kleider zu schaffen machten, deren er sich noch nicht hatte entledigen können.

»Gut,« antwortete der Wirt; »darum eben bezahlt mir aber Eure kleine Zeche jetzt gleich, denn morgen bin ich gewisser Geschäfte wegen nicht zu Hause ...«

»Das ist billig,« sagte Renzo. »Ich bin ein Pfiffikus, aber ein Ehrenmann ... Aber das Geld! Ja, da muß ich nun wohl auch das Geld vorsuchen! ...«

»Hier ist es,« sagte der Wirt; und indem er alle seine Erfahrung, alle seine Geduld, alle seine Gewandtheit aufbot, gelang es ihm, die Rechnung mit ihm auszugleichen und das Geld für die Zeche in Sicherheit zu bringen.

»Reiche mir eine Hand, damit ich mit dem Ausziehen fertig werde, Wirt,« sagte Renzo. »Ich begreift nun selber, siehst du, daß ich schrecklich schläfrig bin.«

Der Wirt leistete ihm den geforderten Dienst; breitete außerdem noch die Decke über ihn und wünschte ihm verächtlich eine gute Nacht, als er schon schnarchte.

Infolge jener eigentümlichen Anziehungskraft, die uns zuweilen dazu bringt, einen Gegenstand des Unwillens wie einen Gegenstand der Neigung zu betrachten und die vielleicht nichts weiter als das Verlangen ist, dasjenige zu erkennen, was auf unser Gemüt so stark einwirkt, verweilte er darauf noch einen Augenblick im Anschauen des ihm so beschwerlichen Gastes, hielt ihm die Lampe ins Gesicht und streckte die flache Hand aus, um den Schein darauf zurückzuwerfen, ungefähr in der Stellung, wie man Psyche malt, wenn sie verstohlenerweise die Gestalt ihres unbekannten Gatten betrachtet. »Toller Gimpel!« sagte er innerlich zu dem armen Schläfer; »du hast es dir doch recht mutwillig selber eingebrockt. Und morgen wirst du mir wohl sagen können, wie es schmeckt. Ihr Tölpel, die ihr um die Welt reisen wollt, ohne daß ihr wißt, auf welcher Seite die Sonne aufgeht, und dabei euch und euern Nächsten in die Tinte bringt.«

Dies gesagt oder gedacht, zog er die Lampe zurück, brach auf, verließ die Stube und verschloß die Tür von außen. Auf dem Treppenabsatze rief er die Wirtin, der er gebot, die Kinder in der Obhut eines Dienstmädchens zu lassen und in die Küche hinabzugehen, um statt seiner vorzusitzen und zu wachen.

»Ich muß eines Gastes wegen ausgehen, der mir zu meinem Unglück über die Schwelle gekommen ist,« sagte er und erzählte ihr in der Kürze den ärgerlichen Vorfall. Dann fügte er hinzu: »Ein Auge auf alles, und vor allen Dingen Vorsicht an dem heillosen Tage. Wir haben da unten eine Handvoll Gesindel, das im Trunke und schon schwatzhaft, wie es von Natur ist, alles durcheinander spricht. Genug, wenn also so ein ... Brausekopf ...«

»Oh! ich bin ja doch kein kleines Kind und weiß selber, was zu tun ist. Ich dächte, daß man bis jetzt nicht sagen könnte ...«

»Gut, gut, und achte darauf, daß sie bezahlen und alle die Reden, die sie über den Proviantverwalter und den Statthalter, und Ferrer, und die Dekurionen, und die Edelleute, und Spanien, und Frankreich und anderes solch dummes Zeug führen, tue du, als hörtest du sie nicht; denn wenn man widerspricht, kann es einem auf der Stelle und wenn man recht gibt, hinterdrein schlecht bekommen; und wie du ja schon selber weißt, sind manchmal diejenigen, die am ärgsten loslegen ... Genug, sobald du gewisse Dinge zur Sprache bringen hörst, wende den Kopf herum und sage: gleich; als ob auf einer anderen Seite jemand riefe. Ich werde mich dazuhalten, daß ich bald wiederkomme.«

Nach diesen Worten ging er mit ihr in die Küche hinunter, warf noch einen Blick umher, um zu sehen, ob nichts weiter vorgefallen wäre; nahm von einem hölzernen Pflock Hut und Mantel ab, holte aus einer Ecke einen Knüttel, schärfte der Frau mit einem zweiten Blicke die Verhaltungsregeln ein, die er ihr gegeben hatte, und entfernte sich.

Doch schon während dieser Verrichtungen hatte er in seinem Herzen die am Bette des armen Renzo begonnene Anrede wieder angeknüpft, und setzte sie, indem er seines Weges wanderte, fort.

– »Starrkopf von einem Gebirgsmann!« – Denn wenn auch Renzo hätte verhehlen wollen, daß er ein solcher war, gab sich diese Eigenschaft doch schon von selber in den Worten, in der Aussprache, im Aussehen und in den Gebärden kund. – »Einen Tag, wie den da, helfe ich mir mit Politik und Rücksichtnahmen durch, und nun mußt du mir zu guter Letzt noch kommen und solchen Strich durch die Rechnung machen. Fehlt's etwa in Mailand an Wirtshäusern, daß du gerade in meines kommen mußt? Wenn du noch wenigstens allein gekommen wärst, so würde ich für den Abend ein Auge zugedrückt und dir morgen früh die Wahrheit gesagt haben. Aber, nein, Herr: in Gesellschaft kommst du an, und was das schönste ist, in Gesellschaft eines Häschers!«

Bei jedem Schritte auf seinem Wege begegnete der Wirt entweder vereinzelten Wanderern oder Leuten, je zu zweien und vieren, die sich flüsternd herumtrieben. Mit seiner stummen Anrede so weit gekommen, sah er eine Streifwache Soldaten nahen; er trat beiseite, schielte sie an, wie sie vorbeimarschierten und fuhr heimlich bei sich fort: – »Sieh da die Wamsklopfer! Und du Eselskerl du, weil du ein paar Leute hast herumlaufen und Lärm machen sehen, hast du dir gleich in den Kopf gesetzt, daß die ganze Welt sich umkehren müsse. Und aus einem so schönen Grunde hast du dich zugrunde gerichtet, und wolltest du auch mich zugrunde richten, was doch unbillig war. Ich tat, was ich konnte, um dich zu retten, und du, Dummkopf, hättest mir zur Vergeltung bei einem Haare das ganze Wirtshaus rebellisch gemacht. Jetzt ist es deine Sache, dich aus der Klemme zu ziehen; was mich anlangt, ich sorge für mich selbst. Als ob ich deinen Namen aus purer Neugier hätte wissen wollen! Was schert es mich, ob du Taddeo oder Bartolomeo, Hinz oder Kunz bist? Ich habe wohl eine rechte Freude daran, die Feder in die Hand zu nehmen! Aber nicht ihr allein wollt, daß alles nach eurem Sinne gehe. Ich weiß ebensogut, daß es Verordnungen gibt, die nichts gelten, eine große Neuigkeit, die uns nicht erst von einem Bergbewohner hinterbracht zu werden braucht! Aber weißt du denn nicht, du, daß die Verordnungen gegen die Wirte gültig sind. Und du vermissest dich, dich in der Welt umherzutreiben und das große Wort zu führen. Und weißt nicht, daß, wenn man nach seinem Sinne leben und sich aus den Verordnungen nichts machen will, es eine notwendige Sache ist, öffentlich nicht Übel davon zu sprechen. Und weißt du, Schafskopf, wohl, was es für einen armen Gastwirt auf sich hätte, wenn er deiner Meinung wäre und niemand nach dem Namen fragte, der es sich bei ihm gefallen ließe? ›Wonach jedweder der besagten Gastwirte, Schenkwirte und andere, wie vorgedacht, zu achten, bei Strafe von dreihundert Scudi;‹ da sitzen dreihundert Scudi, und wie gut angebracht! ›von denen Zweidritteile der königlichen Kammer und das andere dem Kläger oder Angeber anheimfallen;‹ ein schöner Spaß! ›Und im Falle der Zahlungsunfähigkeit bei fünf Jahren Galeeren- und noch härterer Geld- oder körperlicher Strafe, nach der Willkür Sr. Exzellenz.‹ Sehr verbunden für seine Gnade.« –

Bei diesen Worten setzte der Wirt den Fuß über die Schwelle im Palaste des Stadthauptmanns.

Hier, wie in allen anderen geheimen Kanzleien, herrschte eine große Geschäftigkeit; allenthalben ging man damit um, solcherlei Befehle auszufertigen, wie sie am geeignetsten für den nächstkommenden Tag schienen, den zu neuem Aufruhr willigen Gemütern allen Vorwand zu nehmen und ihren Übermut zu brechen, damit man die Gewalt in den Händen befestigte, die gewohnt waren, sie zu handhaben. Man verstärkte die Kriegsmannschaften beim Hause des Proviantverwalters, die Ausgänge der Straße wurden mit Balken versperrt, mit Wagen verschanzt. Man befahl allen Bäckern an, unablässig zu arbeiten und Brot zu backen, und es wurden Eilboten nach den benachbarten Ortschaften abgeschickt, mit Befehlen, von dort Getreide zur Stadt gelangen zu lassen; zu jedem Backofen wurden Edelleute abgeordnet, die sich mit dem frühen Morgen dorthin begeben mußten, um über die Austeilung zu wachen und die Unruhigen mit dem Ansehen ihrer Gegenwart und mit guten Worten im Zaum zu halten. Um aber eben sozusagen einem jeden sein Recht widerfahren zu lassen und vermöge eines kleinen Schreckens die Milde desto wirksamer zu machen, dachte man auch auf Mittel und Wege, irgendeinen der Meuterer beim Kragen zu nehmen, und dies war ganz besonders die Sache des Stadthauptmanns, von dem ein jeder sich denken mag, wie er, mit seinem Umschlage von Wundwasser auf einem der Organe des metaphysischen Tiefsinns, gegen den Aufruhr und die Aufrührer gesinnt war. Seine Spürhunde waren vom ersten Anfang der Empörung an auf dem Platze, und jener sich so nennende Ambrogio Fusella war, wie der Wirt gesagt hat, ein verkappter Häscher, eben dazu ausgeschickt, irgendeinen auf der Tat zu betreffen, den man nachspähen und auflauern und den man sich aufbewahren könnte, bis man ihn bei völlig stiller Nacht oder morgen packte. Sobald er von Renzos Predigt nur vier Worte gehört, hatte er gleich seine Rechnung auf ihn gemacht, da derselbe ihm ein rechtschaffener Sträfling und der Fall ein zweckmäßiger zu sein schien. Und da er sodann fand, daß er mit der Stadt durchaus unbekannt war, so hatte er den Meisterstreich versucht, ihn unmittelbar nach dem Gefängnisse, als nach der sichersten Herberge der Stadt, abzuführen; es schlug ihm dies zwar fehl, wie man vernommen hat. Er konnte jedoch bestimmte Nachricht von Namen, Zunamen und Heimat, nach hundert anderen schönen mutmaßlichen Dingen nach Hause bringen, so daß man, als der Wirt allda anlangte, um zu berichten, was er von Renzo in Erfahrung gebracht, bereits mehr als er von diesem wußte. Er trat in das gewöhnliche Zimmer ein und machte seine Aussage, wie ein Fremder bei ihm Herberge genommen habe, der durchaus nicht seinen Namen kundgeben wolle.

»Ihr habt Eure Pflicht getan, uns davon in Kenntnis zu setzen,« sagte ein Notar des peinlichen Gerichts, indem er die Feder weglegte; »aber wir wußten es schon.«

»Ein rechtes Geheimnis!« dachte der Wirt; »dazu gehört eine große Geschicklichkeit!«

»Und wir wissen auch,« fuhr der Notar fort, »den sauberen Namen.«

»Teufel! den Namen auch, wie haben sie das angestellt?« dachte der Wirt diesmal.

»Ihr aber,« hob der andere mit ernster Miene wieder an, »Ihr sagt nicht aufrichtig alles aus.«

»Was habe ich noch weiter zu sagen?«

»Ja, ja, wir wissen recht wohl, daß der Mensch eine Menge entwendetes, geplündertes, durch Dieberei und Aufruhr an sich gebrachtes Brot in Eurem Gasthause bei sich gehabt hat.«

»Wenn einer mit einem Brote in der Tasche kommt, so weiß ich viel, wo er es hergenommen hat, und wenn ich gleich meinen Geist aufgeben sollte, so kann ich doch nur sagen, daß ich nicht mehr als ein einziges Brot bei ihm gesehen habe.«

»So, so, immer entschuldigt, in Schutz genommen; wenn man Euch anhört, so sind alle die rechtschaffensten Leute. Wie könnt Ihr beweisen, daß das Brot auf einem ehrlichen Wege erworben worden ist?«

»Was habe ich da zu beweisen? Mich geht es nichts an, ich mache den Wirt.«

»Ihr vermögt dennoch nicht zu leugnen, daß dieser Euer Kunde die Frechheit gehabt hat, beschimpfende Worte gegen die Verordnungen im Munde zu führen, und sich übel und unbescheiden gegen das Wappen Sr. Exzellenz zu betragen.«

»Erlauben mir Euer Gnaden: wie kann er doch irgend mein Kunde sein, da ich ihn zum erstenmal sehe? Mit Respekt zu sagen, der Teufel hat ihn mit ins Haus geschickt, und wenn ich ihn gekannt hätte, begreifen Ew. Gnaden wohl, so würde ich nicht nötig gehabt haben, ihn um seinen Namen zu fragen.«

»Jedoch sind in Eurer Gaststube, in Eurer Gegenwart schlimme Dinge gesagt, vermessene Reden geführt, aufrührerische Vorschläge getan worden, man hat lästerliches Schreien und Toben gehört.«

»Wie wollen Ew. Gnaden, daß ich auf das alberne Zeug achte, das so viele Schreihälse, die alle auf einmal reden, von sich geben können? Ich bin ein armer Mann und muß auf meinen Vorteil bedacht sein. Und dann wissen Ew. Gnaden recht wohl, daß, wer das Maul auf dem rechten Fleck hat, doch oft auch die Hand auf dem rechten Flecke haben wird, zumal wenn ihrer so viele beieinander sind, und ...«

»Ja, ja, laßt sie nur immer tun und reden; morgen, morgen wollen wir sehen, ob ihnen der Kitzel vergangen sein wird. – Was glaubt Ihr davon?«

»Ich glaube gar nichts.«

»Daß der Pöbel über Mailand Herr geworden ist?«

»Oh, was das anlangt!«

»Es wird sich finden, es wird sich finden.«

»Ich verstehe schon; der König wird immer der König bleiben, wer aber was verschuldet hat, wird auch wieder was gutzumachen haben, und natürlicherweise hat ein armer Familienvater keine Lust, etwas wieder gutzumachen. Die Herren haben die Macht dazu, das ist der Herren ihre Sache.«

»Habt Ihr noch viele solche Leute im Hause?«

»Die schwere Menge.«

»Und Euer Kunde da, was hat der vor? Lärmt und schreit er noch immer fort, wiegelt die Leute auf und verführt zur Meuterei?«

»Der Fremde, wollen Euer Gnaden sagen, ist schlafen gegangen.«

»Also sind noch eine Menge Leute da ... Nun gut, habt acht, daß Ihr ihn nicht entkommen laßt.«

»Habe ich den Häscher zu machen?« dachte der Wirt, sagte aber weder Ja noch Nein.

»Ihr könnt nach Hause gehen, und führt Euch vernünftig auf,« fuhr der Notar fort.

»Ich habe mich immer vernünftig aufgeführt. Euer Gnaden kann nicht sagen, daß ich der Gerechtigkeit jemals ein Ärgernis gegeben habe.«

»Schon gut, schon gut, und bildet Euch nicht ein, daß die Gerechtigkeit ihr Ansehen eingebüßt habe.«

»Ich, um des Himmels willen! Ich bilde mir nichts ein; ich tue weiter nichts, als daß ich den Wirt mache.«

»Das alte Lied; habt Ihr gar nichts anderes zu sagen?«

»Was wollen Euer Gnaden, daß ich anderes sage? Es gibt nur eine Wahrheit.«

»Genug; vorderhand wollen wir uns an das halten, was Ihr ausgesagt habt; wenn der Fall wiederkommt, so werdet Ihr die Gerechtigkeit genauer von dem unterrichten, worüber sie Euch fragen kann.«

»Was könnte ich wohl auszusagen haben? Ich weiß von nichts; kaum daß ich mit meinen eigenen Angelegenheiten zustande kommen kann.«

»Nehmt Euch in acht, daß Ihr ihn nicht entkommen laßt.«

»Ich hoffe, daß der gnädige Herr Stadthauptmann erfahren wird, daß ich gleich gekommen bin, meine Schuldigkeit zu erfüllen. Ich küsse Euer Gnaden die Hände.«

Als der Tag anbrach, schnarchte Renzo schon seit etwa sieben Stunden und war der Ärmste noch mitten im besten Schlafe, als zwei derbe Rucke an seinen beiden Armen, und eine Stimme, die vom Bettende »Lorenzo Tramaglino!« rief, ihn erweckten. Er schrak zusammen, schüttelte die Arme, zog die Augen mühsam auf und sah aufrecht am unteren Bettende einen schwarzgekleideten Mann und zwei Bewaffnete, einen rechts, den anderen links vom Kopfkissen, vor sich stehen.

Teils vor Überraschung, teils weil er noch nicht recht munter war, teils weil ihm der Kopf noch von dem Weine eingenommen, von dem wir wissen, war er einen Augenblick wie verzaubert, und da er zu träumen meinte und dieser Traum ihm nicht gefiel, so bewegte er sich hin und her, wie um sich völlig zu ermuntern.

»Ah! habt Ihr endlich einmal gehört, Lorenzo Tramaglino?« sagte der Mann mit dem schwarzen Mäntelchen, der nämliche Notar vom vergangenen Abend. »Wohlan! auf denn; steht auf und kommt mit uns.«

»Lorenzo Tramaglino!« sagte Renzo Tramaglino. »Was soll das heißen? Was wollt Ihr von mir? Wer hat Euch meinen Namen gesagt?«

»Ohne Umstände, macht geschwind!« sagte einer der Schergen, die an seiner Seite standen, und faßte ihn von neuem beim Arme.

»O he! was ist das für eine Gewalttätigkeit?« rief Renzo, und zog den Arm zurück. »Wirt! heda, Wirt!«

»Sollen wir ihn im Hemde fortschleppen?« sprach der Häscher wieder, indem er sich zu dem Notar wendete.

»Habt Ihr gehört?« sagte dieser zu Renzo; »das geschieht, wenn Ihr Euch nicht flugs aufmacht und mit uns kommt.«

»Und wozu das?« fragte Renzo.

»Das Wozu werdet Ihr von dem Herrn Stadthauptmann hören.«

»Ich? Ich bin ein Ehrenmann, ich habe nichts verbrochen, und ich begreife nicht ...«

»Desto besser für Euch, desto besser für Euch, so werdet Ihr mit zwei Worten davonkommen und könnt Eures Weges gehen.«

»Laßt mich jetzt meines Weges gehen,« sprach Renzo, »ich habe mit der Gerechtigkeit nichts zu schaffen.«

»Wohlan denn, macht ein Ende!« sagte ein Häscher.

»Sollen wir Euch im Ernst forttragen?« sprach der andere.

»Lorenzo Tramaglino!« sagte der Notar.

»Woher weiß Euer Gnaden meinen Namen?«

»Tut eure Schuldigkeit,« sagte der Notar zu den Schergen, die sofort Hand anlegten, um Renzo aus dem Bette zu ziehen.

»Weg da! Bleibt einem Ehrenmanne vom Leibe, der ...! Ich kann mich selbst anziehen.«

»So zieht Euch denn an und steht gleich auf,« sagte der Notar.

»Ich stehe auf,« versetzte Renzo, und raffte in der Tat die hin und her auf dem Bette, wie die Trümmer eines Schiffbruchs am Gestade, verstreuten Kleidungsstücke zusammen. Und indem er anfing, sie anzulegen, fuhr er immer fort zu reden:

»Aber ich will nicht zum Stadthauptmann. Ich habe nichts mit ihm zu schaffen. Und da man mir ungerechterweise diesen Schimpf antut, so will ich zu Ferrer gebracht werden. Den kenne ich, ich weiß, daß er ein Ehrenmann ist, und er hat Verbindlichkeiten gegen mich.«

»Ja, ja, Sohn, Ihr sollt vor Ferrer gebracht werden,« antwortete der Notar. Unter anderen Umständen würde er über einen solchen Vorschlag von Herzen gelacht haben, aber jetzt war es nicht an der Zeit zu lachen. Schon wie er gekommen war, hatte er auf den Straßen eine solche Bewegung gesehen, daß er nicht recht gewußt, ob es die Überbleibsel einer noch nicht völlig unterdrückten oder die Anfänge einer neuen Empörung wären; es kamen Bürger heraus, begegneten sich, rotteten sich zusammen, blieben haufenweise stehen. Und ohne daß er es sich merken ließ, oder indem er sich wenigstens bestrebte, es nicht zu tun, horchte er jetzt und hielt dafür, daß das Gesumme im Zunehmen begriffen sei. Er wünschte also sehnlichst, sich aus der Schlinge zu ziehen, hätte aber doch auch Renzo gern im Guten und mit seiner Zustimmung fortgebracht, denn wenn er in offene Fehde mit ihm geraten wäre, so konnte er nicht gewiß sein, ob auch noch, auf der Straße angelangt, drei gegen einen sich befinden würden. Darum blickte er den Schergen mit den Augen verstohlen zu, daß sie Geduld hätten und den Jüngling nicht erbitterten, und suchte seinerseits ihn mit guten Worten zu beschwichtigen.

Der Jüngling dagegen, derweil er sich allgemach ankleidete und die verworrenen Erinnerungen des vergangenen Tages bestmöglichst durchging, erriet so ziemlich, daß die Verordnungen und der Name und Zuname die ganze Unannehmlichkeit veranlaßt haben mochten; aber wie zum Henker hatte man seinen Namen erfahren? Und was in aller Welt war über Nacht vorgefallen, daß die Gerechtigkeit so viel Zuversicht gewonnen hatte, sich so geradezu über einen der braven Burschen herzumachen, die tags zuvor so viel bei der Sache mitzusprechen hatten und doch wohl nicht alle schlafen mußten, da Renzo sich eines zunehmenden Gesummes auf der Straße auch versah? Und indem er dem Notar ins Gesicht blickte, nahm er darauf den Anflug von Unschlüssigkeit wahr, den derselbe sich vergebens bemühte verborgen zu halten. Deshalb sagte er, sowohl um sich über seine Vermutungen aufzuklären und sich Licht zu verschaffen, als um Zeit zu gewinnen und etwa einen Versuch zu wagen: »Ich begreife wohl, was die Schuld an dem allen ist: es geschieht um des Namens und Zunamens willen. Gestern abend war ich ganz gewiß ein wenig ausgelassen, die Wirte haben mitunter solche verfängliche Weine, und, wie ich sage, man weiß ja, daß der Wein manchmal ein Wort mitreden will, wenn er durch den Kanal der Worte geflossen ist. Indessen wenn es weiter nichts ist, so bin ich gleich bereit, Ihnen alle Auskunft zu geben. Aber wie wissen Sie doch meinen Namen schon? Wer zum Henker hat Ihnen den gesagt?«

»Brav, mein Sohn, brav!« erwiderte der Notar ganz gefällig; »ich sehe, daß Ihr vernünftig seid. Und glaubt es mir, der ich mich darauf verstehe, Ihr seid klüger als andere. Ihr zieht Euch auf diese Weise am besten und am schnellsten aus der Sache, und wenn Ihr Euch so gut anlaßt, kommt Ihr mit ein paar Worten wieder los und aus aller Verlegenheit. Aber seht, mein Sohn, mir sind die Hände gebunden, und ich kann Euch hier nicht so ledig lassen, wie ich gern wollte. Darum sputet Euch und kommt getrost immer mit; wenn sie erst sehen werden, wer Ihr seid ... und dann werde ich sagen ... Laßt Ihr mich machen ... Kurz und gut; haltet Ihr Euch nur dazu, mein Sohn.«

»Ah, Sie können nicht, ich verstehe,« sagte Renzo, und fuhr fort, sich anzukleiden, indem er mit Winken die Winke beseitigte, die ihm die Häscher steckten, daß sie mit Hand anlegen wollten, um ihn zur Eile anzutreiben.

»Gehen wir über den Domplatz?« fragte er hierauf den Notar.

»Wie Ihr wollt, den kürzesten Weg, damit Ihr desto früher wieder freigelassen werden könnt,« sagte jener, in seinem Herzen ergrimmt, diese geheimnisvolle Frage Renzos, die Stoff zu hundertfachen Nachforschungen abgeben konnte, fallen lassen zu müssen.

»Wenn einer einmal zum Unglück geboren ist!« dachte er. »Da fällt mir nun einer in die Hände, der, man sieht es ja, nichts mehr verlangt als zu beichten, und den man, mit nur ein klein wenig Luft, so extra formam, akademischerweise, gesprächsweise, im Guten dahin bringen würde, ohne peinliche Frage einzustehen, was man wollte, ein Mensch, den man, schon verhört und abgetan, ohne daß er sich dessen versehen hätte, ins Gefängnis stecken könnte; und ein Kerl von diesem Schlage muß mir nun gerade in einem so bedenklichen Moment in die Hände fallen. Ja, da ist kein Ausweg,« – fuhr er fort zu denken, indem er die Ohren spitzte und den Kopf zurückbog – »da ist keine Hilfe, es droht ein Tag zu werden, schlimmer als gestern.« – Was ihm diese Gedanken erregte, war ein außerordentlicher Lärm, den er auf der Straße vernahm, und er konnte sich nicht enthalten, das Papierfenster zu öffnen, um einen flüchtigen Blick hinauszutun. Er sah, daß es ein Haufen Bürger war, die die von einer Streifwache an sie erlassene Mahnung, auseinanderzugehen, anfänglich mit bösen Worten erwidert hatten und sich endlich, immerfort murrend, zerstreuten, und, was der Notar für ein sehr übles Anzeichen hielt, daß die Soldaten mit der größten Höflichkeit verfuhren.

Er machte das Fensterchen wieder zu und war einen Moment ungewiß, ob er das Unternehmen zu Ende führen oder Renzo in der Obhut der beiden Häscher lassen und selber zum Stadthauptmann sich begeben sollte, um ihm über den Vorfall Bericht abzustatten. »Aber,« dachte er gleich hinterher, »man wird zu mir sagen, ich sei eine Memme, ein Schwächling, und solle die Befehle vollziehen. Wer A gesagt hat, muß auch B sagen. Verruchtes Gedränge! Verwünscht sei doch das Handwerk!« –

Renzo war auf den Beinen; die beiden Schergen, der eine hüben, der andere drüben ihm zur Seite; der Notar bedeutete ihnen, sie möchten ihm nicht allzusehr Gewalt antun, und sagte zu ihm:

»Brav, mein Sohn; wohlan denn, tummelt euch.«

Renzo hörte, sah und dachte aber auch. Er war nunmehr völlig angekleidet, bis auf das Wams, das er in der einen Hand hielt, indem er mit der anderen die Taschen durchwühlte.

»O he!« sagte er und sah den Notar mit einem sehr bedeutungsvollen Blick an. »Hier drin war Geld und ein Brief, Herr!«

»Es wird Euch alles pünktlich wieder zurückerstattet werden,« sagte der Notar, »sobald die paar Förmlichkeiten vorüber sind. Kommt, kommt.«

»Nein, nein, nein,« sagte Renzo de» Kopfschüttelnd, »das geht nicht so; ich verlange das Meinige, Herr. Ich werde von meinem Tun und Lassen Rechenschaft ablegen; aber ich verlange mein Eigentum.«

»Ich will Euch zeigen, daß ich Euch vertraue; da, nehmt, und nun macht fix,« sagte der Notar, langte die eingezogenen Sachen aus dem Busen und stellte sie mit einem Seufzer Renzo zu. Dieser, der ihnen ihren Platz wiedergab, brummte zwischen den Zähnen: »I, Gott bewahre mich! Das geht so viel mit den Spitzbuben um, bis es doch auch was vom Handwerk weggekriegt hat.« Die Häscher konnten nicht mehr an sich halten, aber der Notar bändigte sie mit dem Auge und sprach mittlerweile bei sich: »Wenn du nur erst die Schwelle überschritten haben wirst, sollst du es schon mit Wucher entgelten, sollst du es entgelten.«

Derweil Renzo die Jacke anzog und seinen Hut nahm, winkte der Notar einem der Häscher, immer die Treppe hinabzusteigen; hinter ihn drein ließ er den Gefangenen gehen und dann den anderen guten Freund; er selbst setzte sich nach diesem in Bewegung.

Als sie in die Küche gekommen, sagte Renzo: »Und der gottlose Wirt, wohin hat der sich verkrochen?« Indem gibt der Notar den beiden einen abermaligen Wink, worauf sie der eine die rechte, der andere die linke Hand des Jünglings erfassen und ihm die Knöchel mit gewissen Werkzeugen zuschnüren, die man mit einem gleißnerischen Bilde glimpflicherweise Manschetten nannte. Dieselben bestanden – es tut uns leid, uns zu Einzelheiten herablassen zu müssen, die sich mit der historischen Würde wenig vertragen, aber die Deutlichkeit erfordert es – sie bestanden aus einer Schnur, ein wenig länger als der gewöhnliche Umfang eines Handgelenks, die an den Händen zwei Stückchen Holz, zwei kleine gerade Stäbchen oder Knebel hatte. Die Schnur umschlang den Puls des Patienten; und die Hölzer verblieben, zwischen dem Mitteln und Goldfinger des Häschers durchgezogen, dergestalt in seiner geschlossenen Hand, daß er, wenn er sie drehte, die Fessel nach Willkür fester anzog und damit nicht nur ein Mittel besaß, seiner Beute sich versichert zu halten, sondern auch einen Widerspenstigen zu martern; welchen Zweck desto mehr zu befördern. Knoten in die Schnur geknüpft waren.

Renzo wehrte sich und rief »Was ist das für eine Behandlung? Das einem Ehrenmanne! ...«

Aber der Notar, der für jede schlimme Tatsache seine guten Worte hatte, sagte: »Habt Geduld, sie tun ihre Schuldigkeit. Was wollt Ihr? Es sind bloße Förmlichkeiten; auch wir können ja die Leute nicht nach unserem Herzen behandeln. Wenn wir nicht täten, was uns befohlen wird, so würden wir schlimm, schlimmer als Ihr daran sein. Habt nur Geduld.«

Indem er sprach, drehten die beiden Häscher die Manschetten einmal um. Renzo gab sich wie ein hitziges Roß zufrieden, das sich die Lippen vom Gebiß pressen fühlt, und brach in das Wort »Geduld!« aus.

»Brav, mein Sohn!« sagte der Notar; »das ist die rechte Art, wie man bald davonkommt. Ja, was wollt Ihr? Es ist eine Verdrießlichkeit, ich begreife es schon; aber wenn Ihr Euch gut hineinfindet, so seid Ihr im Augenblick wieder ledig. Und da ich sehe, daß Ihr wohlgesinnt seid und ich mich aufgelegt fühle. Euch beizustehen, so will ich Euch noch einen anderen Rat zu Eurem Besten geben. Glaubt mir, der ich in diesen Dingen erfahren bin, geht Ihr nur immer gerade vor Euch hin, ohne Euch umzusehen, ohne Euch bemerkbar zu machen; so achtet dann auch weiter niemand auf Euch, so versieht sich niemand dessen, was geschieht; und Ihr verwahrt Euch so Eure Ehre. Binnen hier und einer Stunde seid Ihr in Freiheit; es gibt so viel zu tun, daß ihnen selbst daran gelegen sein wird, Euch abzufertigen; und ich werde schon auch zureden ... Ihr geht dann Euren Geschäften nach; und niemand weiß etwas davon, daß die Gerechtigkeit Euch in Händen gehabt hat.

Und ihr,« fuhr er fort und wendete sich mit strenger Miene zu den beiden Häschern, »seht euch wohl vor, daß ihr ihm kein Leid zufügt; denn ich nehme ihn in meinen Schutz; eure Schuldigkeit müßt ihr schon tun; aber vergeßt nicht, daß das ein Ehrenmann ist, ein manierlicher junger Bursche, der in kurzem wieder loskommen wird; und daß ihm an seiner Ehre gelegen sein muß. Daß man ja nichts merke; es muß aussehen, als ob ihr drei rechtschaffene Leute wäret, die spazieren gingen.«

Und mit herrischem Tone und finsterer Miene beschloß er: »Habt ihr mich verstanden?« Worauf er, die Augenbrauen sofort geglättet und mit plötzlich lachendem Angesicht, das besagen zu wollen schien: »Oh, wir sind ja gute Freunde miteinander!« sich zu Renzo wendete und ihm von neuem zuraunte: »Seid vernünftig! Folgt mir; seht Euch nicht um; vertraut Euch dem an, der Euch wohl will; vorwärts.« Und so setzte sich der Zug in Bewegung.

Nichtsdestoweniger glaubte Renzo von allen den schönen Worten nichts; weder daß der Notar ihm wohler wollte als die Häscher, noch daß er sich die Sorge für seinen Ruf so sehr angelegen sein lasse, noch daß er gesonnen sei, ihm beizustehen. Er begriff sehr wohl, daß der Ehrenmann, in der Besorgnis, es möge sich ihm unterwegs irgendeine gute Gelegenheit darbieten, ihm aus den Händen zu schlüpfen, diese schönen Gründe vorbrachte; um ihn abzuhalten, darauf zu merken und davon Nutzen zu ziehen, so daß alle die Ermahnungen nur dazu dienten, Renzo um so entschiedener zu dem zu überreden, was er sich schon halb und halb vorgenommen hatte, das gerade Gegenteil zu tun.

Es folgere niemand daraus, daß der Notar etwa ein um erfahrener Neuling als mehr Schelm gewesen sei, weil er sich verrechnet habe. »Er war ein ausgemachter Schelm,« sagt unser Geschichtschreiber, der zu seinen Freunden gehört zu haben scheint; »aber in diesem Moment war er in der Angst. Ruhigen Gemütes würde er sich, ich kann bezeugen wie sehr, über einen jeden lustig gemacht haben, der, um jemand zu bewegen, etwas an sich Bedenkliches zu tun, ihm unter dem erbärmlichen Kniffe, ihm einen uneigennützigen, freundschaftlichen Rat zu erteilen, eingegeben und dringend anempfohlen hätte, es zu tun. Es ist aber ein allgemeiner Hang der Menschen, wenn sie beunruhigt und geängstigt sind und ihnen einfällt, was andere tun könnten, um sie aus der Angst zu ziehen, diese inständigst und zu wiederholten Malen und unter allerhand Vorwänden dazu aufzufordern; und so verfallen denn eben auch die Schelme, wenn sie aufgeregt und eingeschüchtert sind, dem nämlichen gemeinsamen Gesetze.«

Daher kommt es dann, daß sie in ähnlichen Verhältnissen meist eine so trübselige Figur spielen. Die meisten haften Erfindungen, die schönen Ränke, mittels deren sie gewohnt sind, etwas durchzusetzen, die ihnen gewissermaßen zur anderen Natur geworden, und zu rechter Zelt angewendet, und mit Seelenruhe, mit der notwendigen Unbefangenheit des Verstandes verfolgt, so trefflich und so in der Stille ihre Wirkung tun, ja, nach dem Gelingen anerkannt, den allgemeinen Beifall davontragen: die Ärmsten, sobald sie einmal in der Angst sind, wenden sie dieselben übereiltermaßen, ohne alles Geschick und alle Manier, verwirrt durcheinander an, so daß sie einem dritten, der ihnen zusieht, wie sie sich auf diese Weise abmühen und anstrengen, Mitleid erregen und ihn zum Lachen reizen, während derjenige, den sie eben vor haben, hinter das Licht zu fuhren, wie viel weniger schlau als sie er auch sein mag, ihr ganzes Spiel überfleht und aus ihren eigenen Arglisten für sich gegen sie Licht schöpft. Deshalb kann man Schurken von Profession niemals genug einschärfen, fortwährend bei kaltem Blute zu bleiben oder, was noch besser ist, niemals in beängstigende Umstände zu geraten.

Sie waren demnach nicht sobald auf der Straße, als Renzo anfing, mit den Augen hin und her zu schweifen, sich persönlich bemerklich zu machen, den Kopf vorzustrecken, zu horchen. Es war jedoch kein ungewöhnliches Gedränge; und wiewohl man auf dem Angesicht mehr als eines Herumstreichers leicht eine gewisse Lust zur Meuterei lesen konnte, so ging doch ein jeder ruhig seines Weges; und ein eigentlicher Aufruhr war nicht vorhanden.

»Vernünftig! Vernünftig!« murmelte der Notar ihm von hinten zu; »Eure Ehre, die Ehre, Sohn.«

Als aber Renzo, indem er heimlich nach drei Männern hinhorchte, die mit glühenderen Gesichtern daherkamen, sie von einem Backofen, von verborgenem Mehle, von Gerechtigkeit sprechen hörte, begann er auch, ihnen Zinken zu stecken und in der Weise zu husten, die ganz etwas anderes als eine Erklärung kundgibt.

Jene faßten das Geleite aufmerksamer ins Auge und standen still, mit ihnen blieben andere stehen, die hinzukamen; noch andere, die vorübergegangen waren, wendeten sich bei dem Geflüster und kehrten um, ihnen nachzufolgen.

»Seht Euch vor; vernünftig, Sohn; Ahr macht nur das Übel ärger, seht Ihr; richtet Euch nicht zugrunde, die Ehre, der gute Ruf,« zischelte der Notar.

Renzo machte das Übel ärger. Die Schergen berieten sich mit den Augen und meinten, wohlzutun, – ein jeder ist ja dem ausgesetzt, daß er irren kann – indem sie den Manschetten einen Ruck gaben.

»O weh! o weh! o weh!« schrie der Gemarterte. Auf das Geschrei verdichtet sich die Menge ringsumher; man läuft von allen Seiten von der Straße herbei; das Geleit wird aufgehalten.

»Es ist ein Taugenichts,« flüsterte der Notar denen zu, die sich an ihn drängten. »Es ist ein Dieb, den man auf der Tat ergriffen hat. Weichen Sie zurück, lassen Sie die Gerechtigkeit durch.«

Aber Renzo, der die Gelegenheit wahrnahm, und die Häscher erbleichen oder wenigstens erblassen sah, dachte: »Wenn ich mir jetzt nicht helfe, so ist's um mich geschehen.« Und auf der Stelle rief er mit erhobener Stimme: »Kinder! sie führen mich ab, weil ich gestern gerufen habe: ›Brot und Gerechtigkeit.‹ Ich habe nichts verbrochen; ich bin ein ehrlicher Kerl; steht mir bei, verlaßt mich nicht, Kinder!«

Beifälliges Gemurmel, entschiedeneres Geschrei der Teilnahme wird als Antwort vernehmbar; die Häscher befehlen anfänglich dem Nächsten fortzugehen und sie durchzulassen, alsdann raten sie es ihnen an, darauf bitten sie sie; die Menge hingegen drängt und treibt immer heftiger darauf los.

Sobald jene also die Gefahr vor Augen sehen, lassen sie die Manschetten fahren und sind um weiter nichts besorgt, als in dem Gedränge sich zu verlieren, um unbemerkt von dannen zu kommen. Der Notar trug eifriges Verlangen, das nämliche zu tun; aber das hatte seine Not, von wegen des schwarzen Mantels.

Mit erblichenem Angesicht und verzagendem Herzen strebte der arme Mann sich zu verkriechen und wand und krümmte er sich, um aus dem Gewimmel zu entschlüpfen; aber er konnte die Augen nicht ausschlagen, so sah er ihrer zwanzig vor sich.

Er gab sich alle erdenkliche Mühe, ein Fremder zu scheinen, der, etwa zufällig da vorübergehend, in das Gewühl wie ein Strohhalm ins Eis hineingeraten wäre, und indem er eben Stirn gegen Stirn auf einen traf, der ihn mit einem schlimmeren Blick als andere anstarrte, verzog er den Mund zu einem Lächeln und fragte ihn mit einer einfältigen Miene: »Was hat denn das Getümmel zu bedeuten?«

»Hu! der garstige Rabe!« versetzte dieser. »Ein Rabe! Ein Rabe!« hallte es ringsum wider. Zu dem Geschrei gesellten sich derbe Stöße; so daß er in kurzem teils mit Hilfe seiner eigenen Beine, teils mit Hilfe der Ellbogen anderer dasjenige bewirkte, woran ihm in diesem Augenblick am meisten gelegen war, nämlich aus dem Gedränge herauszukommen.


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