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Neuntes Kapitel

Das Anstoßen der Barke gegen das Ufer erschütterte Lucia, die, nachdem sie heimlich ihre Tränen getrocknet hatte, wie vom Schlafen sich erhob. Renzo stieg zuerst aus, reichte Agnes die Hand, die, auch herausgestiegen, sie der Tochter reichte, und alle drei sagten betrübt dem Schiffer Dank. »Nichts, nichts; wir sind hier unten, um einander beizustehen,« erwiderte er und zog die Hand fast mit Abscheu zurück, gleich als ob ihm zugemutet würde zu rauben, sobald Renzo versuchte, ihm einen Teil des wenigen Geldes aufzudringen, das er in der Tasche trug und diesen Abend in der Absicht zu sich gesteckt hatte, sich großmütigerweise Don Abbondio erkenntlich zu beweisen, wenn dieser ihm wider seinen Willen gedient hätte. Die Barutsche stand hier bereit; der Fuhrmann grüßte die drei Erwarteten, ließ sie einsteigen, rief dem Tiere zu, peitschte es und fort ging es.

Unser Autor beschreibt diese nächtliche Reise nicht, verschweigt den Namen des Ortes, wohin die kleine Karawane ihren Weg nahm, ja, gesteht sogar ausdrücklich, ihn nicht sagen zu wollen. Aus dem Verfolg der Geschichte geht jedoch die Ursache aller dieser Verschweigungen hervor. Luciens Abenteuer an diesem Aufenthalte finden sich mit einem unheimlichen Handel einer Person verwickelt, die einer zur Zeit, da der Autor schrieb, wie es scheint, äußerst mächtigen Familie angehörte. Um von dem seltsamen Betragen dieser Person, in dem besonderen Falle, Rechenschaft zu geben, hat er dann auch in der Kürze ihr vorgängiges Leben erzählen müssen, und die Familie spielt darin die Figur, die ein jeder sehen wird, der sie lesen will. Daher die große Behutsamkeit des armen Mannes. Und dennoch, wie die Menschen zuweilen vergeßlich sind! hat er selbst, ohne sich dessen zu versehen, uns Mittel und Wege angegeben, mit Gewißheit zu entdecken, was geheim zu halten ihm so sehr not tat. In einem Teile der Erzählung, der, als zur Vollständigkeit der Geschichte nicht wesentlich, von uns ausgelassen werden wird, verschnappt er sich und sagt, daß jener Ort ein edler, alter Flecken sei, dem zur Stadt nichts als der Name fehle, deutet darauf unvorsichtigerweise an, der Lambro fließe dort und ferner, daß ein Erzpriester da sei. Bei diesen Angaben ist nun in ganz Europa kein halbwegs gebildeter Mann, der nicht sofort ausriefe: Monza! Wir hätten auch ziemlich begründete Mutmaßungen über den Namen der Familie beibringen können; aber wiewohl die von uns gemutmaßte schon seit langer Zeit erloschen ist, so halten wir es doch für das beste, ihn gänzlich zu verschweigen, um nicht in Gefahr zu kommen, wenn auch nur den Toten unrecht zu tun, und um den Gelehrten einigen Stoff zu Nachforschungen zu lassen.

Unsere Reisenden langten in Monza kurz nach Sonnenaufgang an; der Fuhrmann kehrte in einem Wirtshause ein und ließ hier, als des Ortes kundig und als ein Bekannter des Wirtes, den neuen Gästen eine Stube anweisen, nach der er sie begleitete. Nach den Danksagungen suchte Renzo auch ihn zur Annahme eines Lohnes zu bewegen; aber gleich dem Fährmanne zog er die Hände zurück und lief wie fliehend fort, um sein Tier zu versorgen.

Nach einem Abende, wie wir ihn beschrieben haben, und einer Nacht, wie ein jeder sie sich vorstellen kann, großenteils unter solchen Gedanken, in der unablässigen Furcht vor irgendeinem widrigen Begegnis, in der trüben Schweigsamkeit der Nacht, in der schneidenden, mehr als herbstlichen Luft und unter den öfteren Stößen des unbequemen Fuhrwerks durchwacht, die die Lebensgeister unserer Reisenden, kaum daß sie anfingen, im Schlafe zu erstarren, unsanft, wieder aufstörten, deuchte es ihnen ganz gut, sich auf einer kleinen festgemachten Bank einzurichten, die in einer Stube, so bequem sie eben war, stand. Sie aßen hier ein wenig zusammen, so gut es die Dürftigkeit der Zeit, die spärlichen Mittel, im Verhältnis der dringenden Bedürfnisse einer ungewissen Zukunft, und die geringe Eßlust gestatteten. Sie alle dachten des Schmauses, den sie zwei Tage zuvor einzunehmen hofften; und ein jeder stieß einen schweren Seufzer aus. Renzo hätte hier wenigstens diesen ganzen Tag zubringen, die Frauen untergebracht sehen, ihnen die ersten Diente leisten mögen; aber der Pater hatte diesen anbefohlen, ihn alsbald seines Weges zu schicken. Sie beriefen sich also auf diesen Bescheid und auf hundert andere Gründe; daß die Leute darüber reden würden, daß die verzögerte Trennung nur um so schmerzlicher wäre, daß er bald kommen könnte, um Nachrichten zu geben und zu holen; so lange bis der Jüngling sich entschloß zu gehen. Es wurde nun genauere Abrede getroffen; Lucia verbarg die Tränen nicht, Renzo hielt die seinen mit Mühe zurück, und indem er Agnes heftig die Hand drückte, sprach er mit erstickter Stimme: »Auf Wiedersehen!« und ging.

Die Frauen würden sich schwer genug zu helfen gewußt haben, wenn der gute Fuhrmann nicht gewesen wäre, der Befehl hatte, sie nach dem Kloster zu führen und ihnen so viel Rat und Hilfe zu erteilen, als sie bedürfen könnten.

Unter seinem Geleite brachen sie also nach dem Kloster auf, das, wie jedermann weiß, eine kurze Strecke draußen vor Monza lag. Bei der Pforte angelangt, zog der Fuhrmann die Glocke, er ließ den Pater Guardian rufen; dieser erschien und empfing den Brief.

»Ach, Bruder Cristoforo!« sprach er, die Schriftzüge erkennend. Der Ton der Stimme und die Bewegungen des Angesichtes zeigten offenbar an, daß er den Namen eines großen Freundes aussprach. Wir müssen auch sagen, daß in dem Briefe unser guter Cristoforo die Frauen mit vieler Wärme empfohlen und ihre Lage mit vielem Gefühl geschildert hatte, denn der Guardian machte einmal übers andere die Gebärde des Erstaunens und der Entrüstung und heftete die Augen, indem er sie vom Blatte erhob, mit einem gewissen Ausdruck von Mitleid und Teilnahme auf die Frauen.

Nachdem er zu Ende gelesen, dachte er eine Weile nach und sagte dann bei sich: – »Da ist nur die Domina; wenn die Domina sich mit der Sache befassen wollte ... –«

Hierauf nahm er Agnes ein paar Schritte weit mit auf den Platz vor dem Kloster, tat ihr einige Fragen, auf die sie Rede und Antwort gab, und sagte, zu Lucia zurückgekehrt, zu beiden: »Liebe Frauen, ich will einen Versuch machen und hoffe, euch eine übersichere, überehrbare Zufluchtsstätte ausfinden zu können, bis daß Gott auf bessere Weise für euch gesorgt habe. Wollt ihr mit mir kommen?«

Die Frauen bejahten mit ehrfurchtsvoller Gebärde, und der Bruder fuhr fort: »Kommt mit mir nach dem Kloster der Domina. Haltet euch jedoch einige Schritte von mir entfernt, denn die Leute lästern gern und Gott weiß, was für schöne Geschichten sie sich ausdenken würden, sähen sie den Pater Guardian mit einem schönen Mädchen ... mit Frauenzimmern will ich sagen, gehen.«

Mit diesen Worten ging er voran. Lucia errötete; der Fuhrmann lächelte, indem er Agnes ansah, die sich ebenfalls nicht eines augenblicklichen Schmunzelns erwehren konnte; alle drei setzten sich in Bewegung, als der Mönch einen kleinen Vorsprung gewonnen hatte, und hielten sich etwa zehn Schritt weit hinter ihm. Die Frauen fragten nunmehr den Fuhrmann, was sie den Pater Guardian nicht zu fragen gewagt hatten, wer die Domina wäre?

»Die Domina,« versetzte dieser, »ist eine Nonne; aber sie ist keine Nonne wie die anderen. Ebensowenig ist sie die Äbtissin oder die Priorin, sie ist sogar, wie sie sagen, eine von den jüngsten; aber ihr Adel stammt von Adam her, und die Ihrigen in der alten Zeit waren große Leute und sind aus Spanien gekommen, wo sie sind, die befehlen; und deshalb nennen sie sie die Domina, um zu besagen, daß sie eine große Dame ist; und der ganze Ort nennt sie bei dem Namen, weil sie sagen, sie hätten in dem Kloster niemals eine ähnliche Person gehabt; und die Ihrigen heutzutage unten in Mailand gelten gar viel, und gehören zu denen, die immer recht haben, und in Monza noch mehr; denn ihr Vater, wenn er gleich nicht da wohnt, ist der Erste im Orte, weswegen sie auch im Kloster schalten und walten kann; und auch die Leute außen halten sie hoch in Ehren; und wenn sie sich einmal einer Sache annimmt, so setzt sie sie auch durch; wenn es also dem guten Mönche da vorn gelingt, euch ihren Händen zu übergeben, und wenn sie sich mit euch befaßt, so kann ich euch sagen, daß ihr so sicher wie auf dem Altar seid.«

Zum Tore des Fleckens gelangt, das von der Seite durch einen alten baufälligen Turm und ein Bruchstück einer zerstörten Feste beschützt wurde, verweilte der Guardian und kehrte sich um, indem er zusah, ob man ihm folge; dann trat er ein und nahm den Weg nach dem Kloster. Dabei angekommen, stand er auf der Schwelle von neuem still und erwartete das Häuflein. Er bat den Fuhrmann, nach dem Kloster zu kommen und die Antwort abzuholen; dieser versprach es und nahm Abschied von den Frauen, die ihn mit Danksagungen und Aufträgen an den Pater Cristoforo überschütteten. Der Guardian ließ Mutter und Tochter in den ersten Klosterhof eintreten, führte sie in die Wohnung der Schaffnerin, der er sie anbefahl, und ging allein, sein Gesuch anzubringen. Wenige Augenblicke darauf erschien er fröhlich wieder, um ihnen zu sagen, sie möchten mit ihm vorkommen; und er langte zu rechter Zeit an, denn die Mutter und die Tochter wußten nicht mehr, wie sie sich vor den zudringlichen Fragen der Schaffnerin retten sollten. Indem sie über einen zweiten Hof schritten, unterwies der Guardian die Frauen, wie sie sich gegen die Domina zu betragen hätten.

»Sie ist gut auf euch gestimmt,« sagte er, »und kann viel für euch tun. Seid demütig und ehrerbietig, antwortet mit Aufrichtigkeit auf die Fragen, die es ihr gefällt, an euch zu richten, und so lange ihr nicht gefragt werdet, laßt mich handeln.«

Sie traten in ein unteres Gemach, aus dem man nach dem Sprechzimmer kam; ehe er den Fuß hineinsetzte, deutete der Guardian auf die Tür und sagte heimlich zu den Frauen: »Da drinnen ist sie!« wie um sie eingedenk all der Anweisungen zu machen, die er ihnen erteilt hatte. Lucia, die niemals ein Kloster gesehen, schaute sich, sobald sie in das Sprechzimmer getreten war, rings nach der Domina um, der sie ihre Verbeugung machen wollte, und stand wie verblüfft da, als sie niemand erblickte; bis sie den Pater und Agnes nach einer Seite zu gehen sah, wo sie eine fast quadratförmige, einem halben Fenster ähnliche Öffnung wahrnahm, die zwei dichte und starke, eine Hand breit voneinander abstehende Eisengitter versperrten; dahinter stand eine Nonne.

Ihr Äußeres, das fünfundzwanzig Jahre andeuten konnte, machte gleich anfangs den Eindruck der Schönheit, aber einer gebrochenen, verblühten und, ich möchte fast sagen, zerstörten Schönheit. Ein schwarzer, über den Kopf gehangener und flach auseinander gezogener Schleier fiel, etwas vom Gesicht abstehend, rechts und links nieder: unter dem Schleier legte sich eine schneeweiße Linnenbinde um die Hälfte einer Stirn von anderer aber nicht geringerer Weiße; eine zweite faltige Binde umschloß das Gesicht bis unter das Kinn, ging um den Hals herum und breitete sich ein wenig über die Brust aus, um den Rand eines schwarzen Oberkleides zu bedecken. Aber jene Stirn faltete sich immerfort wie in einem schmerzhaften Krampfe, und dann zogen sich zwei ganz schwarze Augenbrauen mit rascher Bewegung zusammen. Zwei ebenso schwarze Augen hefteten sich, bald durchdringend forschend und hoffärtig auf das Antlitz eines der anderen, bald senkten sie sich schnell zu Boden, wie um einen Schlupfwinkel zu suchen; in gewissen Augenblicken würde ein aufmerksamer Beobachter daraus entnommen haben, sie forderten Liebe, Teilnahme, Mitleid; ein andermal hätte er wohl gemeint, der augenblicklichen Offenbarung eines eingewurzelten, unterdrückten Hasses, einem gewissen unerklärlichen Hange zur Wildheit darin zu begegnen; wenn sie sich nicht bewegten und ohne Anstrengung wohin blickten, so würde sich einer darin eine stolze Verdrossenheit vorgestellt haben, ein anderer hätte in ihnen etwa das mühselige Walten eines geheimen Gedankens, die Übermannung der Seele von einer sie beschäftigenden Sorge gemutmaßt, die mehr Gewalt als die umgebenden Gegenstände über sie ausübte. Ihre äußerst blassen Wangen waren zart umrissen, aber allzusehr eingefallen und durch eine schleichende Abzehrung entstellt. Die Lippen, wenngleich von einer verblichenen Röte angeflogen, spielten auch in diese Blässe hinüber; ihre Bewegungen waren wie die der Augen jäh, lebhaft, ausdrucks- und geheimnisvoll. Die anmutige Größe ihrer Gestalt ward durch die angewöhnte Nachlässigkeit ihrer Haltung unscheinbar oder trat entstellt in gewissen plötzlichen, unregelmäßigen und schon für eine Frau, geschweige denn für eine Nonne, zu entschiedenen Gebärden hervor. In der Kleidung selbst war hier und da etwas Gesuchtes oder Nachlässiges, das eine absonderliche Nonne ankündigte. Die Mitte des Leibes war mit einer weltlichen Sorgfalt gegürtet, und unter der Binde trat auf der einen Schläfe ein kleines Büschel schwarzer Haare hervor, das eine Vergessenheit oder Geringschätzung der Regel anzeigte, welche vorschrieb, das bei der Feierlichkeit des Gelübdes abgeschnittene Haupthaar immer kurz zu tragen.

Diese Dinge machten sich der Einsicht der beiden Frauen nicht bemerkbar, die nicht geübt waren, Nonne von Nonne zu unterscheiden; und der Pater Guardian, der die Domina nicht zum erstenmal sah, war schon, wie so viele andere, des eigentümlich Seltsamen gewöhnt, das sich aus ihrem Wesen und aus ihrer Kleidung zu erkennen gab.

Sie stand in diesem Augenblick, wie wir gesagt haben, aufrecht an dem Gitter, lehnte mit der einen Hand, die weißen Finger in die Löcher flechtend und mit dem ein wenig gebückten Angesicht matt daran, indem sie die Vortretenden beobachtete.

»Ehrwürdige Mutter und gnädigste Domina,« sagte der Guardian mit geneigter Stirn, die Rechte auf die Brust gelegt, »dieses ist das arme Mädchen, für die Sie mich Ihren vielvermögenden Schutz haben hoffen lassen; und dieses ist die Mutter.«

Die beiden Vorgestellten machten tiefe Verbeugungen; die Domina winkte ihnen mit der Hand, daß es genug sei und sagte, zum Pater gewendet: »Es ist ein Glück für mich, daß ich unseren guten Freunden, den Vätern Kapuzinern etwas Angenehmes erweisen kann. Aber,« fuhr sie fort, »unterrichten Sie mich doch von der Lage dieses Mädchens ein wenig genauer, damit ich besser ersehe, was sich für sie tun läßt.«

Lucia errötete und senkte das Gesicht nach dem Busen.

»Sie müssen wissen, ehrwürdige Mutter ...« hob Agnes an; aber der Guardian schnitt ihr mit einem Blicke das Wort im Munde ab und erwiderte: »Dies Mädchen, gnädigste Domina, ist mir eben, wie ich Ihnen gesagt habe, von einem meiner Mitbrüder empfohlen worden. Sie hat ihr Dorf heimlich verlassen müssen, um sich schweren Gefahren zu entziehen, und bedarf auf einige Zeit einer Zufluchtsstätte, an der sie unbekannt leben könnte, und wo niemand sich erdreisten würde, hinzukommen und sie zu beunruhigen, selbst wenn ...«

»Was für Gefahren?« fiel die Domina ein. »Bitte, Pater Guardian, tragen Sie mir die Sache nicht so in Rätseln vor. Sie wissen, wir Nonnen lassen uns alle Geschichten gern recht ausführlich erzählen.«

»Es sind Gefahren,« versetzte der Guardian, »die dem keuschen Ohr der ehrwürdigen Mutter kaum leicht angedeutet werden dürfen.«

»Oh, ganz gewiß!« sprach die Domina rasch, ein wenig errötend. War es Scham? Wer einen plötzlichen Ausdruck von Unwillen beobachtet hätte, der diese Röte begleitete, würde haben daran zweifeln können; und zwar um so mehr, wenn er sie mit derjenigen verglichen, die einmal übers andere über Luciens Wangen sich ergoß.

»Es genügt zu sagen,« versetzte der Guardian, »daß ein gewalttätiger Edelmann ... nicht alle Großen der Welt bedienen sich der Gaben Gottes zu seiner Ehre und zum Frommen des Nächsten, wie die gnädige Domina tut; daß ein gewalttätiger Edelmann, der dies Geschöpf lange Zeit mit unwürdigen Lockungen verfolgt, das Herz hatte, wie er sah, daß er nichts ausrichtete, ihr mit offener Gewalt zu begegnen, so daß die Ärmste sich genötigt sah, aus ihrem Hause zu flüchten.«

»Tretet heran, da, Mädchen,« sagte die Domina zu Lucia, und winkte ihr mit dem Finger. »Ich weiß, daß der Pater Guardian die lautere Wahrheit redet; aber niemand kann besser als Ihr von diesen Dingen unterrichtet sein. Es kommt Euch zu, uns zu sagen, ob der Edelmann ein verhaßter Versucher war.«

Was das Herantreten betraf, so gehorchte Lucia auf der Stelle; aber mit dem Antworten war es anders. Eine Nachfrage über diesen Gegenstand würde sie in Verwirrung gesetzt haben, auch wenn sie von jemand ihresgleichen ausgegangen wäre; von dieser Dame, und zwar mit einer gewissen Lust boshaften Zweifels ausgesprochen, benahm sie ihr allen Mut zu antworten. »Domina ... ehrwürdige ... Mutter ...« stammelte sie und machte nicht Miene, noch etwas zu sagen. Hier glaubte sich Agnes, die nächst ihr gewiß am besten unterrichtet war, berechtigt, ihr zu Hilfe zu kommen. »Gnädige Domina,« sprach sie, »ich kann ein gutes Zeugnis ablegen, daß dieser meiner Tochter der Edelmann verhaßt war wie dem Teufel das Weihwasser; ich will sagen, der Teufel war er; aber Sie werden mir verzeihen, wenn ich schlecht spreche, denn wir Leute sind eben wie Gott will. So viel ist gewiß, daß das arme Mädchen mit einem jungen Burschen unseres Standes verlobt war, der Gott fürchtete und recht tat; und wenn der Herr Pfarrer ein wenig mehr solch ein Mann wäre, wie ich sagen will ... ich weiß, daß ich von einem Geistlichen rede, aber Pater Cristoforo, der Freund des Paters Guardian hier, ist ein Geistlicher wie er, und der ist ein Mann voller Menschenliebe, und wenn er hier wäre, könnte er bezeugen ...«

»Ihr seid gar bereitwillig zu reden, ohne gefragt worden zu sein,« fiel die Domina mit einer stolzen, zürnenden Miene ein, die sie fast häßlich erscheinen ließ. »Schweigt still; ich weiß wohl, daß die Eltern immer mit einer Antwort im Namen ihrer Kinder bei der Hand sind!«

Die gekränkte Agnes warf Lucia einen Blick zu, der besagen wollte: »Sieh, was mir widerfährt, weil du nicht reden kannst.«

Auch der Guardian winkte dem Mädchen mit dem Auge und nickte ihr mit dem Kopfe zu, daß dies der Augenblick sei, sich zusammenzunehmen und die arme Frau nicht im Stiche zu lassen.

»Ehrwürdige Domina,« sagte Lucia, »was meine Mutter Ihnen gesagt hat, ist die lautere Wahrheit. Der Jüngling, der mit mir redete,« und hier ward sie wie ein Scharlach, »ich nahm ihn aus freiem Willen. Sie verzeihen mir, wenn ich so ohne Scham spreche; aber es geschieht, weil ich von meiner Mutter nichts Unrechtes denken lassen darf. Und was den Herrn angeht, Gott vergebe ihm! so wollte ich viel lieber sterben als in seine Hände fallen. Und wenn Sie uns die Barmherzigkeit antun, uns in Schutz zu nehmen, da es denn nun doch so weit mit uns gekommen ist, daß wir die Dreistigkeit haben müssen, um eine Zufluchtsstätte zu bitten, und guten Menschen zur Last zu fallen; was auch nach Gottes Willen geschehe! so seien Sie versichert, gnädige Domina, daß niemand mehr von Herzen für Sie wird beten können als wir armen Frauen.«

»Euch glaube ich,« sagte die Domina in milderem Ton. »Aber es wird mir Vergnügen machen, Euch unter vier Augen anzuhören. Nicht daß ich weiterer Aufschlüsse oder weiterer Beweggründe bedürfte, um dem dringenden Anliegen des Paters Guardian zu entsprechen,« fügte sie gleich hinzu, indem sie sich mit gesuchter Zuvorkommenheit zu ihm wendete. »Vielmehr,« fuhr sie fort, »habe ich schon darüber nachgedacht; und zwar ist dies das Beste, was mir bis jetzt als tunlich eingefallen. Die Schaffnerin des Klosters hat vor ein paar Tagen ihre letzte Tochter versorgt. Diese Frauen mögen die Kammer einnehmen, die jene verlassen hat und an ihrer Statt die kleinen Dienste verrichten, die sie im Kloster leistete. Es ist wahr ...« und hier winkte sie dem Guardian, näher an das Gitter zu treten, und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: »Es ist wahr, in Ansehung der teuren Zeit gedachte man nicht, das Mädchen irgend zu ersetzen; aber ich werde mit der Mutter Äbtissin sprechen, und ein Wort von mir ... auf eine Fürbitte des Paters Guardian ... kurz, die Sache ist so gut wie abgemacht.«

Der Guardian begann Dank zu sagen, jedoch die Domina unterbrach ihn. »Es bedarf keiner Umstände; auch ich werde bei Gelegenheit, nötigenfalls, auf den Beistand der Väter Kapuziner rechnen. Und am Ende,« fuhr sie mit einem Lächeln fort, durch das ein gewisses Etwas von Spott und Bitterkeit durchschien, »sind wir denn am Ende nicht Brüder und Schwestern?«

Dies gesagt, rief sie eine Laienschwester – zwei von diesen waren als eine besondere Auszeichnung zu ihrem persönlichen Dienste angewiesen – und trug ihr auf, davon die Äbtissin zu benachrichtigen und sodann die Schaffnerin an die Tür der Klosterhalle kommen zu lassen und mit ihr und Agnes die nötige Abrede zu treffen. Sie schickte diese fort, nahm Abschied vom Guardian und behielt Lucia bei sich. Der Guardian begleitete Agnes bis zur Pforte, gab ihr unterwegs neue Verhaltungsregeln, und entfernte sich, um für Freund Cristoforo den Bericht erstattenden Brief anzufertigen. – Eine wunderliche Heilige ist die Domina doch! dachte er bei sich, indem er heimkehrte; absonderlich in der Tat! aber wer sie recht zu behandeln versteht, kann von ihr erlangen, was er will. Mein Cristoforo wird sich gewiß nicht versehen, daß ich ihm so geschwind und gut gedient habe. Der brave Mann! es geht nicht anders an, er muß immer was zu schaffen haben; aber er tut es um der guten Sache willen. Gut für ihn diesmal, daß er einen Freund gefunden hat, der ohne viel Aufhebens und ohne große Umstände und Anstalten die Sache im Umsehen zustande gebracht hat. Er kann zufrieden sein, der gute Cristoforo, und wird einsehen, daß wir hier auch zu was zu gebrauchen sind.

Die Domina, die in Gegenwart eines bejahrten Kapuziners Gebärden und Worte berechnet hatte, dachte nun, mit einem jungen unerfahrenen Landmädchen allein geblieben, nicht mehr daran, sich so sehr zusammenzunehmen, und ihre Reden wurden nach und nach so seltsam, daß wir es, anstatt sie mitzuteilen, für passender erachten, die frühere Geschichte dieser Unglückseligen in Kürze, das heißt, so viel davon zu erzählen, als hinreicht, von dem Ungewöhnlichen und Geheimnisvollen, das wir an ihr wahrgenommen, Rechenschaft abzulegen, und die Beweggründe ihres Betragens in den Begebenheiten, von denen wir zu sprechen haben, verständlich zu machen.

Sie war die jüngste Tochter des Fürsten ***, eines vornehmen mailändischen Edelmannes, der sich zu den reichsten der Stadt zählen konnte. Aber der unbeschränkte Begriff, den er von seiner Würde hatte, ließ ihn seine Güter kaum für ausreichend, ja für zu gering erachten, den Anstand zu beobachten; und alle seine Sorgen gingen dahin, so viel an ihm läge, sie wenigstens so, wie sie wären, für immerdar beisammen zu erhalten. Wie viel Söhne er gehabt, geht nicht klar aus der Geschichte hervor; man ersieht nur so viel, daß er alle Jüngeren, des einen wie des anderen Geschlechtes, für das Kloster bestimmt hatte, um das Vermögen des Erstgeborenen unversehrt zu erhalten, der dazu bestimmt war, die Familie fortzupflanzen, das heißt, Kinder zu zeugen, um sich zu quälen, wie die Seinigen sich auf die nämliche Art quälten. Unsere Unglückliche war noch im Mutterleibe verborgen, als ihr Stand schon unwiderruflich festgestellt war. Es hatte sich nur noch zu entscheiden, ob es ein Mönch oder eine Nonne sein würde; eine Entscheidung, um deretwillen nicht ihre Zustimmung sondern ihre Gegenwart vonnöten war. Als sie erschien, nannte der Fürst, ihr Vater, sie Gertrude, indem er ihr einen Namen geben wollte, der den Gedanken des Klosters unmittelbar erweckte, und von einer hochgeborenen Heiligen geführt worden war. Als Nonnen angezogene Puppen waren die ersten Spielsachen, die man ihr in die Hände gab; demnächst Bilder von Heiligen in Nonnentracht, und man begleitete das Geschenk mit der Ermahnung, sie als ein kostbares Ding wohl in acht zu nehmen, sowie mit der bejahenden Frage: das ist schön? Wollte der Fürst, oder die Fürstin, oder der junge Prinz, der von den Knaben allein zu Hause erzogen wurde, das gedeihliche Aussehen des kleinen Mädchens preisen, so schien es, als ob sie keine andere Art und Weise fänden, ihren Gedanken recht auszudrücken als mit den Worten: »Was für eine Mutter Äbtissin!« Niemand sagte aber je geradezu zu ihr: »Du mußt eine Nonne werden.« Das war ein Gedanke, über den man einverstanden, und der beiläufig in jeder Unterredung angebracht wurde, die ihr zukünftiges Geschick betraf. Wenn die kleine Gertrude zuweilen zu irgendeinem übermütigen, trotzigen Tun verleitet wurde, wozu ihre Gemütsart sich sehr leicht hinneigte, so sagte man zu ihr: »Du bist ein kleines Ding, so was schickt sich nicht für dich, wenn du dereinst Mutter Äbtissin bist, wirst du ein strenges Regiment führen und magst anstellen, was dir gefällt.« Oder ein andermal, indem er sie wegen allzufreien und vertraulichen Betragens schalt, zu dem sie sich auch nur allzugern hinreißen ließ, sprach der Fürst zu ihr: »Ei, ei! so darf sich deinesgleichen nicht aufführen; wenn du willst, daß man dir einmal die Achtung bezeige, die dir gebührt, so lerne jetzt schon, dich mit mehr Anstand zu benehmen; erinnere dich, daß du in jeder Hinsicht die Erste im Kloster sein mußt; denn man nimmt das Blut allenthalben mit, wohin man geht.«

All die Reden solcher Art setzten dem jungen Mädchen die unbedingte Vorstellung in den Kopf, daß sie eine Nonne werden müsse; aber die aus dem Munde des Vaters kommenden waren wirksamer als alle anderen zusammengenommen. Die Haltung des Fürsten war für gewöhnlich die eines gestrengen Gebieters; aber wenn vom künftigen Stande seiner Kinder die Rede war, so ging aus seiner Stimme, aus jedem seiner Worte eine Unabänderlichkeit des Entschlusses, eine mißtrauische Eifersucht an seine Herrschaft hervor, die das Gefühl einer unvermeidlichen Notwendigkeit einprägte.

Mit sechs Jahren ward Gertrude zur Erziehung und mehr noch zur Anleitung in dem ihr auferlegten Berufe in das Kloster gebracht, wo wir sie gesehen haben; und die Wahl des Ortes war nicht ohne Absicht. Der wackere Fuhrmann der beiden Frauen hat den Vater der Domina den Ersten in Monza genannt; und wenn wir dieses Zeugnis, wie es auch immer sei, mit einigen anderen Andeutungen zusammenstellen, die der Anonymus hier und da, ohne daran zu denken, sich entschlüpfen läßt, so können wir leicht für gewiß ausgeben, daß er der Lehnsherr jenes Ortes gewesen sei. Dem mag indessen sein, wie ihm wolle, so genoß er allda des höchsten Ansehens, und meinte, hier werde besser als anderswo seine Tochter mit der Auszeichnung und feinen Höflichkeit behandelt werden, die sie noch mehr anlocken könnten, eben das Kloster zu ihrem immerwährenden Aufenthalte zu erwählen. Und er betrog sich nicht; die damalige Äbtissin und einige andere unruhige Nonnen, die, wie man zu sagen pflegt, im Rohre saßen, und sich eben mit einem anderen Kloster und mit einigen Familien des Landes in gewisse Wettstreitigkeiten verwickelt befanden, waren sehr froh, eine solche Stütze zu erwerben, nahmen also mit großer Dankbarkeit die Ehre an, die ihnen erzeigt ward, und entsprachen vollkommen den Absichten, die der Fürst wegen der bleibenden Aufnahme der Tochter hatte durchblicken lassen, Absichten, die übrigens mit ihrem Vorteil ziemlich übereinstimmten. Kaum ins Kloster getreten, wurde Gertrude automatisch die kleine Domina genannt, erhielt sie bei Tische und im Schlafsaal einen Ehrenplatz, wurde ihr Betragen den anderen als musterhaft vorgehalten, gab es Süßigkeiten und Schmeicheleien ohne Ende, und mit jener gleichsam ehrerbietigen Vertraulichkeit gewürzt, die die Kinder so sehr einnimmt, wenn sie sie bei denen antreffen, die sie die anderen Kinder mit der hergebrachten Zurückhaltung der Überlegenheit behandeln sehen. Nicht etwa, daß alle Nonnen verschworen gewesen wären, die Unglückliche in die Falle zu ziehen; es gab unter ihnen viele Einfältige, die jeder Art von Betrug fremd waren, denen der Gedanke, eine Tochter eigennützigen Endzwecken zu opfern, Abscheu erregt haben würde. Aber alle diese ihren besonderen Beschäftigungen Obliegenden versahen sich teils all jener Umtriebe nicht recht, teils unterschieden sie nicht, wieviel Arges darin lag, teils enthielten sie sich, darüber Untersuchungen anzustellen, teils schwiegen sie still, um kein unnützes Ärgernis zu erregen. Eine und die andere wohl auch, die sich erinnerte, mit ähnlichen Künsten zu dem, was sie hernach bereut hatte, verleitet worden zu sein, fühlte Erbarmen mit der armen unschuldigen Kleinen, und äußerte es, indem sie sie zärtlich und schwermutsvoll liebkoste, wohinter sie weit entfernt war, ein Geheimnis zu argwöhnen; und die Sache nahm denn ihren weiteren Verlauf. Es würde damit vielleicht also bis zu Ende gegangen sein, wenn Gertrude das einzige junge Mädchen im Kloster gewesen wäre. Aber unter ihren Mitkostgängerinnen waren einige, die wußten, sie wären für die Ehe bestimmt. Gertrudchen, in dem Gedanken ihrer Vorzüglichkeit aufgewachsen, rühmte sich ihrer zukünftigen Bestimmung als Äbtissin, Klosterfürstin, wollte für die anderen in jeder Weise ein Gegenstand des Neides sein, und sah mit Verwunderung und Unwillen, daß einige von ihnen dergleichen gar nicht empfanden.

Der erhabenen, aber beschränkten, kalten Vorstellung, die die Oberherrschaft eines Klosters gewähren kann, hielten sie die mannigfaltigen, glänzenden Vorstellungen von einem Bräutigam, von Gastmahlen, Abendgesellschaften, Landhäusern, ritterlichen Spielen, Anbetern, Kleidern und Kutschen entgegen. Diese Vorstellungen veranlaßten in Gertrudens Kopfe eine Bewegung, einen Aufruhr, wie etwa ein großer Korb voll frisch gepflückter Blumen hervorbringen dürfte, den man vor einen Bienenstock stellt. Eltern und Erzieherinnen hatten in ihr die natürliche Eitelkeit gehegt und gepflegt, um ihr das Kloster annehmlich zu machen. Als aber diese Leidenschaft von Ideen angeregt wurde, die ihr um so vieles verwandter waren, hing sie diesen alsbald mit einer weit lebhafteren und freiwilligeren Begierde nach. Um nun gegen jene ihre Genossinnen nicht den kürzeren zu ziehen, und doch zugleich ihrem neuen Hange nachzugehen, versetzte sie, daß, bei Lichte besehen, ihr doch niemand ohne ihre Zustimmung den Schleier über den Kopf werfen, und daß sie gleichfalls einen Gemahl nehmen, einen Palast bewohnen, die Welt, und zwar besser als sie alle, genießen könnte; daß sie es könnte, sobald sie es nur gewollt hätte; daß sie es werden wolle, daß sie es wolle; und sie wollte es in der Tat.

Der Gedanke der Notwendigkeit ihrer Einwilligung, ein Gedanke, der bis jetzt wie unberücksichtigt und versteckt in einem Winkel ihres Geistes sich aufgehalten, entwickelte sich nunmehr weiter und offenbarte sich in all seiner Bedeutung. Sie rief ihn einmal über das andere zu Hilfe, um sich der Vorstellungen einer angenehmeren Zukunft ruhiger zu erfreuen. Hinter diesem Gedanken jedoch trat unfehlbar immer ein anderer hervor; daß es nämlich darauf ankäme, jene Einwilligung dem fürstlichen Vater vorzuenthalten, der sie doch bereits erteilt hatte, oder sie für erteilt zu nehmen schien, und bei diesem Gedanken war der Mut der Tochter weit von der Sicherheit entfernt, die ihre Worte zur Schau trugen. Sie verglich sich alsdann mit ihren Gefährtinnen, die in ganz anderer Weise sicher waren, und empfand schmerzhaft gegen sie den Neid, den sie anfangs gewähnt hatte, ihnen einzuflößen. Indem sie sie beneidete, haßte sie sie; zuweilen äußerte sich dieser Haß in Verspottung, Unhöflichkeiten, spitzigen Reden; zuweilen beschwichtigte ihn die Übereinstimmung der Neigungen und Hoffnungen und ließ eine anscheinende, vorübergehende Vertraulichkeit entstehen. Zuweilen wollte sie dann vorderhand auch etwas Wirkliches, Gegenwärtiges genießen, hatte ihr Wohlgefallen an dem Vorzuge, den man ihr einräumte, und ließ die anderen diese ihre Vorzüglichkeit fühlen. Zuweilen, wenn sie die Einsamkeit ihrer Befürchtungen und Wünsche nicht mehr ertragen konnte, suchte sie jene gedemütigt auf, wie um Wohlwollen, Rat und Mut zu erflehen.

Unter diesen beklagenswerten kleinen Fehden mit sich und anderen hatte sie die Kindheit überschritten und trat in das so entscheidende Alter, wo in die Seele gleichsam eine geheimnisvolle Kraft einzuziehen scheint, die alle Neigungen, alle Gedanken erhebt, schmückt und stärkt, und sie manchmal umwandelt, oder ihnen eine unvorhergesehene Richtung verleiht. Woran Gertrude seither in jenen Träumen von der Zukunft am bestimmtesten ihr Wohlgefallen gehabt hatte, war äußerer Glanz und Pracht. Ein gewisses weiches und inniges Etwas, das von vornherein leicht und wie im Nebel darüber ausgegossen war, fing nunmehr an, in ihrer Einbildung sich zu entfalten und vorzuherrschen. Sie hatte sich in der geheimsten Gegend ihres Geistes gewissermaßen eine glänzende Ruhestätte eingerichtet; hierhin flüchtete sie sich aus ihrer Umgebung, hier empfing sie gewisse Personen, die sie aus verworrenen Erinnerungen der Kindheit, aus dem wenigen, was sie von der äußeren Welt sehen konnte, aus dem, was sie in den Gesprächen mit den Gefährtinnen gelernt, seltsamerweise sich zusammengestellt hatte. Sie unterhielt sich mit ihnen, redete sie an, und antwortete in ihrem Namen; hier gab sie Befehle und nahm Huldigungen aller Art an. Von Zeit zu Zeit kamen die Gedanken der Religion dazu und störten jene glänzenden und mühseligen Feste. Aber die Religion, wie sie unserer Ärmsten gelehrt worden war, und wie sie sie aufgenommen hatte, schloß den Stolz nicht aus, sondern heiligte ihn und nahm ihn als ein Mittel an, irdische Glückseligkeit zu erwerben. Ihres eigentlichen Wesens also entkleidet, war sie nicht mehr die Religion, sondern eine Larve wie die anderen. Dabei, wenn diese Larve in Gertrudens Gedanken die erste Stelle einnahm und anwuchs, bildete sich die Unglückliche, von verworrenen Schrecken übermannt und von einer dunkeln Vorstellung von Pflichten ergriffen, ein, ihre Abneigung vom Kloster und ihr Widerstreben gegen die Eingebungen ihrer Vorgesetzten bei der Wahl des Standes seien ein Verbrechen und gab sie sich das Versprechen, es abzubüßen, indem sie sich freiwillig in das Kloster einschlösse.

Es war gesetzlich, daß ein junges Mädchen als Nonne nicht aufgenommen werden konnte, bevor sie nicht von einem Geistlichen, der der Vikar der Nonnen hieß, oder von irgendeinem anderen dazu Angestellten geprüft worden wäre, damit erhellte, daß sie sich aus freier Wahl hinein begab, und diese Prüfung konnte nicht eher als ein Jahr, nachdem sie dem Vikar ihr Verlangen in einer Bittschrift vorgestellt hatte, stattfinden. Die Nonnen, die den traurigen Auftrag übernommen hatten, zu bewirken, daß Gertrude sich mit der wenigst möglichen Kenntnis dessen, was sie tat, für immer verpflichte, nahmen einen jener Augenblicke wahr, von denen wir gesprochen haben, um eine solche Bittschrift von ihr abschreiben und unterschreiben zu lassen. Und um sie desto leichter dazu zu bringen, ermangelten sie nicht, ihr zu sagen und zu wiederholen, was die Wahrheit war, daß dies am Ende eine bloße Förmlichkeit sei, die erst durch andere nachfolgende Handlungen, die von ihrem Willen abhängen würden, Wirksamkeit erlangen könnte. Bei alledem war die Bittschrift vielleicht noch nicht an ihren Bestimmungsort gelangt, als Gertrude schon bereut hatte, sie geschrieben zu haben. Sie bereute darauf diese Reue und brachte so Tage und Monate in einem unaufhörlichen Wechsel von Wollen und Nichtwollen zu. Sie hielt den Gefährtinnen diese ihre Tat lange Zeit verborgen, bald aus Furcht, einen guten Entschluß Widersprüchen auszusetzen, bald aus Scham, ein schlimmes Vergehen zu veröffentlichen. Endlich siegte der Drang, das Gemüt zu erleichtern und Rat und Mut zu erlangen.

Es war ein anderes Gesetz da, daß zu jener Prüfung des Berufes eine Jungfrau nur zugelassen würde, nachdem sie wenigstens einen Monat lang außer dem Kloster verweilt hätte, worin sie zur Erziehung sich befunden. Das Jahr von der Absendung der Bittschrift an war schon fast abgelaufen, und Gertrude benachrichtigt worden, daß sie binnen kurzem aus dem Kloster abgeholt und nach dem väterlichen Hause gebracht werden würde, um den Monat da zu verleben und all die zu der Krönung des Werkes, das sie in der Tat begonnen, nötigen Schritte zu tun. Der Fürst und die übrige Familie betrachteten alles dies für so gewiß, als ob es schon geschehen wäre; aber der Meinung war das junge Mädchen nicht mehr; anstatt die weiteren Schritte zu tun, dachte sie an die Art und Weise, den ersten rückgängig zu machen. In solcher Bedrängnis entschloß sie sich, sich einer ihrer Genossinnen zu eröffnen, der freimütigsten, die immer bereit war, kräftige Ratschläge zu erteilen. Diese bat Gertruds, ihrem Vater brieflich zu wissen zu tun, wie sie ihren Sinn geändert habe; denn sie hatte nicht ausreichenden Mut, ihm zu seiner Zeit ein tüchtiges: »Ich will nicht«, ins Gesicht zu sagen. Und da unentgeltliche Gutachten in dieser Welt selten genug sind, so ließ die Ratgeberin Gertrude dieses mit genügsamen Spöttereien über ihre Zaghaftigkeit entgelten. Der Brief ward unter drei oder vier Vertrauten verabredet, unter der Hand geschrieben und mittels wohlersonnener Ränke besorgt. Gertrude blieb in großer Angst einer Antwort gewärtig, die nimmer kam. Nur daß einige Tage nachher die Äbtissin sie beiseite zog und mit Zurückhaltung, Verdruß und Mitleid in ihrem Betragen, ein dunkles Wort von einem großen Zorne des Fürsten und einer schlimmen Übereilung, die sie sollte begangen haben, gegen sie fallen ließ, indem sie ihr jedoch zu verstehen gab, daß, wenn sie sich gut aufführe, sie hoffen dürfe, es würde alles vergessen werden. Das junge Kind verstand und wagte nicht weiter nachzufragen.

Es kam zuletzt der so gefürchtete und ersehnte Tag. Wenn auch Gertruds wußte, daß sie zu einem Kampfe ging, so waren doch der Austritt aus dem Kloster, das Hervorgehen aus jenen Mauern, hinter denen sie acht Jahre lang eingeschlossen gewesen war, das Durcheilen der offenen Gegend zu Wagen, das Wiedersehen der Stadt, des Hauses für sie Eindrücke, einer stürmischen Freude voll. Was den Kampf anlangte, so hatte sie schon, unter der Anleitung jener Vertrauten, ihre Maßregeln genommen, und war deshalb, wie man jetzt sagen würde, mit sich selbst im reinen. – Entweder werden sie mir Gewalt antun wollen, dachte sie; und da werde ich standhalten, demütig, ehrerbietig sein, aber abschlagen; es kommt ja nur daraus an, kein anderes Ja auszusprechen, und ich will es nicht aussprechen. Oder sie werden mir mit guten Worten zusetzen; und werde ich noch gütiger sein als sie; ich werde weinen, bitten, sie zu Mitleid bewegen; am Ende verlange ich ja doch nichts weiter, als nicht aufgeopfert zu werden. – Aber wie es häufig mit solchen Vorsorgen geschieht, es traf weder die eine noch die andere Annahme zu. Die Tage gingen hin, ohne daß der Vater oder sonst wer mit ihr von der Bittschrift oder dem Widerrufe sprach, ohne daß ihr weder mit Liebkosungen noch mit Drohungen irgendeine Zumutung gemacht wurde. Die Eltern waren ernst, traurig, mürrisch mit ihr, ohne jemals das Warum deutlich anzugeben. Es wurde nur so viel klar, daß sie sie wie eine Verbrecherin, wie eine Unwürdige ansahen; ein geheimnisvoller Bannfluch schien auf ihr zu lasten und sie von der Familie zu scheiden, indem er sie nur so weit mit ihr verbunden ließ, als nötig war, ihre Untertänigkeit ihr fühlbar zu machen. Selten und nur zu gewissen festgestellten Stunden war sie in die Gesellschaft der Eltern und des Erstgeborenen zugelassen. In den Unterredungen dieser drei schien eine große Vertraulichkeit vorzuherrschen, die Gertrudens Verbannung nur desto empfindlicher und schmerzlicher werden ließ. Niemand richtete das Wort an sie; die Worte, die sie schüchtern vorbrachte, wenn sie nicht einen Gegenstand von entschiedener Notwendigkeit betrafen, blieben entweder unbeachtet, oder wurden mit einem zerstreuten, oder geringschätzenden, oder gestrengen Blick erwidert. Ja, wenn sie, unfähig, eine so bittere, demütigende Absonderung länger zu ertragen, beharrlich versuchte, wieder heimisch zu werden, wenn sie um ein wenig Liebe flehte, so hörte sie gleich irgendeine zwar mittelbare, aber deutliche Bemerkung über die Wahl des Berufs hinwerfen; gab man ihr verblümterweise zu verstehen, daß ein Mittel vorhanden, die Zuneigung der Familie wieder zu erwerben. Und nun war sie, die sie unter dieser Bedingung sie nicht hätte haben mögen, gezwungen, sich zurückzuziehen, die ersten Zeichen von Wohlwollen, wonach sie so sehr verlangt, abzulehnen, sich von selbst auf ihre» Platz als Exkommunizierte zurückzustellen; und sie verblieb darauf überdies noch mit einem gewissen Anschein von Unrecht.

Solcherlei Eindrücke ihrer Umgebung widerstritten schmerzhafterweise jenen lachenden Erscheinungen, mit denen Gertrude sich schon so viel beschäftigt hatte und sich in ihrem innersten Gemüte noch immer beschäftigte. Sie hatte gehofft, in dem prachtvollen, gastfreien, väterlichen Hause wenigstens einen wirklichen Vorgeschmack der eingebildeten Dinge genießen zu können; aber sie fand sich durchaus getäuscht. Die Klausur zu Hause war so streng und vollständig wie im Kloster. Von einem Ausgange zum Vergnügen wurde nicht einmal mehr gesprochen; und ein Chor, das von dem Hause nach einer anstoßenden Kirche führte, nahm auch die einzige Notwendigkeit, die hätte vorhanden sein können, den Fuß auf die Straße zu setzen. Die Unterhaltung war trauriger, spärlicher, minder abwechselnd als im Kloster. Jedesmal, wenn ein Besuch gemeldet wurde, mußte Gertrude hinaufgehen und sich mit einigen alten Kammerfrauen einschließen; hier speiste sie auch zu Mittag, so oft es ein Gastmahl gab. Die Dienerschaft richtete sich im Betragen und Reden nach dem Beispiel und den Absichten der Herrschaft; und Gertrude, die, ihrer Neigung gemäß, sie mit gebieterisch nachlässiger Vertraulichkeit hätte behandeln mögen, und in der Lage, worin sie sich befand, sich so gern irgendein Zeichen des Wohlwollens als ihresgleichen von ihnen hätte geben lassen, ja die sich herabließ, darum zu betteln, ward denn nun so erniedrigt und immer mehr gekränkt, sich mit unverhohlener, wenn auch von der Förmlichkeit eines leichten Gehorsams begleiteter Geringschätzung dafür vergolten zu sehen. Nichtsdestoweniger mußte sie wahrnehmen, daß ein von jenen sehr abweichender Page ihr eine Ehrfurcht bezeigte und eine Teilnahme für sie empfand, die eigentümlicher Art waren.

Das Betragen dieses jungen rüstigen Menschen war jener Ordnung der Dinge, die Gertrude in ihrer Einbildungskraft so viel betrachtet, und dem Betragen jener ihrer erträumten Wesen noch am ähnlichsten und verwandtesten. Nach und nach gab sich aus der Art und Weise des jungen Mädchens etwas, ich weiß nicht was, Neues zu erkennen: eine Ruhe und eine Unruhe, von der gewöhnlichen abweichend; sie war wie jemand, der etwas gefunden hat, woran ihm viel gelegen ist, das er jeden Augenblick anschauen und doch vor anderen nicht sehen lassen möchte. Man hatte sie mehr als jemals im Auge. Und es mochte dem sein, wie ihm wollte, eines Morgens wurde sie von einer der Kammerfrauen überrascht, wie sie ein Blatt, worauf sie besser getan hätte, nichts zu schreiben, flüchtig zusammenfaltete. Nach kurzem Hin- und Herziehen kam das Blatt in die Hände der Kammerfrau, und aus diesen in die Hände des Fürsten. Gertrudens Schrecken beim Geräusch der Schritte desselben läßt sich weder beschreiben, noch vorstellen; es war der Vater, er war erzürnt, und sie fühlte sich strafbar. Als sie ihn aber gar nahen sah, mit diesen Augenbrauen, mit dem Papier in der Hand, hätte sie mögen hundert Ellen tief in der Erde, geschweige denn in einem Kloster sein. Der Worte waren nicht viele, aber schreckliche. Die für den Augenblick angekündigte Strafe war nur eine Einsperrung in eben dieses Zimmer, unter der Obhut der Kammerfrau, die die Entdeckung gemacht hatte; aber das war ein bloßer Vorgeschmack, eine einstweilige Vorkehrung; man verhieß, man ließ eine andere dunkle, unbestimmte und deshalb um so schreckbarere Züchtigung ahnen.

Der Page wurde, wie es sich gebührte, auf der Stelle fortgejagt und auch ihm etwas Schreckliches angedroht, wenn er zu irgendeiner Zeit sich unterstände, das Geschehene verlauten zu lassen. Indem er ihm diese Weisung gab, versetzte ihm der Fürst zwei derbe und tüchtige Ohrfeigen, um dem Abenteuer eine Erinnerung hinzuzufügen, die dem losen Buben alle Versuchung benähme, sich dessen zu rühmen. Irgendein Vorwand, die Vertreibung eines Pagen zu beschönigen, war unschwer aufgefunden; was die Tochter anbelangte, so hieß es, sie sei unpäßlich.

So verblieb sie denn mit dem Herzklopfen, mit der Scham, mit der Reue, und mit Schrecken vor der Zukunft und mit der alleinigen Gesellschaft des Weibes, das sie als das Zeugnis ihrer Schuld und als die Ursache ihres Unfalls haßte. Und diese haßte ihrerseits Gertrude, durch welche sie, ohne zu wissen, auf wie lange Zeit, zu dem beschwerlichen Leben einer Kerkermeisterin genötigt und für immer die Bewahrerin eines gefährlichen Geheimnisses geworden war.

Der erste verwirrte Aufruhr dieser Gefühle stillte sich allmählich; aber ein jedes von ihnen kehrte der Reihe nach in die Seele zurück, wuchs darin an und setzte sich fest, um sie noch ärger und bequemer zu peinigen. Was konnte nur jene dunkel angedrohte Strafe sein? Deren viele, mannigfaltige und seltsame stellten sich der erregten und unerfahrenen Einbildungskraft Gertrudens dar. Die wahrscheinlichste war, nach dem Kloster von Monja zurückgebracht zu werden, dort nicht wieder als die junge Domina, sondern als eine Verbrecherin zu erscheinen und wer weiß bis wie lange, wer weiß unter welcher Behandlung, daselbst eingeschlossen zu bleiben! Was ein solches höchst schmerzliches Ereignis für sie am empfindlichsten machte, war vielleicht die Furcht vor der Schande. Die Wendungen, die Worte, die Unterscheidungszeichen jenes unseligen Blattes gingen ihr im Gedächtnis wiederholt vorüber; sie dachte sich, wie ein so unvorhergesehener, so verschiedener Leser darauf geachtet, sie erwogen haben mochte; sie bildete sich ein, sie hätten auch der Mutter oder dem Bruder oder wer weiß wem sonst vor Augen kommen können, und im Vergleich damit schien ihr alles übrige so viel wie nichts zu sein. Das Bild dessen, der der Anlaß des ganzen Ärgernisses gewesen war, unterließ auch seinerseits nicht, die arme Gefangene oft zu beunruhigen; und es ist nicht zu sagen, was für eine seltsame Figur diese Erscheinung unter den anderen, ihr so ungleichen, ernsten, kalten, drohenden spielte. Aber eben, weil sie sich von ihnen nicht losmachen und nicht einen Augenblick zu jenen flüchtigen Freuden zurückkehren konnte, ohne daß sich ihr alsbald die gegenwärtigen Leiden vorstellten, die deren Folge waren, fing sie nach und nach an, sich ihnen seltener zuzuwenden, ihr Angedenken zurückzustoßen, sich ihrer zu entwöhnen. Auch verweilte sie nicht länger und nicht lieber bei den heiteren und glänzenden Einbildungen von ehemals; sie standen den Umständen der Wirklichkeit, jeder Wahrscheinlichkeit für die Zukunft allzusehr entgegen. Die einzige Stätte, worin Gertruds sich eine ruhige und ehrenvolle Zuflucht vorstellen konnte und die kein Luftschloß, war das Kloster, wenn sie sich entschlösse, für immer dort einzutreten. Ein solcher Entschluß, sie konnte nicht daran zweifeln, würde alles wieder gutgemacht, jede Schuld getilgt und in einem Nu ihre Lage verändert haben. Gegen diesen Vorsatz, es ist wahr, lehnten sich die Gedanken eines ganzen Lebensalters auf; jedoch die Zeiten waren verändert; und in der Tiefe, in die Gertrude versunken war, und in Vergleich mit dem, was sie in gewissen Momenten fürchten konnte, dünkte ihr der Zustand als gefeierte, verehrte, gebietende Nonne ein lockendes Glück. Zwei Empfindungen von ganz verschiedener Art trugen von Zeit zu Zeit auch dazu bei, jenen ihren alten Widerwillen zu verringern; bald die Reue über das Vergehen, und eine phantastische Liebe zur Andacht, bald der von dem Betragen der Kerkermeisterin gereizte und empörte Stolz, die, die Wahrheit zu sagen, oft von ihr gereizt, sich entweder rächte, indem sie ihr vor jener angedrohten Züchtigung bange machte oder sie mit ihrem Fehltritt beschämte. Ja, wenn sie sich einmal gütig bezeigen wollte, nahm sie so sehr den Ton der Beschützerin an, daß sie damit noch gehässiger wurde, als wenn sie beleidigte. Um so verschiedener Ursachen willen wurde das Verlangen, das Gertrude empfand, sich ihren Klauen zu entziehen und sich gegen sie in eine Lage zu bringen, in welcher sie über ihrem Grolle und Mitleid stände, wurde dies gewohnte Verlangen so lebhaft und brennend, daß es ihr alles, was dazu führen könnte, es zu stillen, angenehm erscheinen ließ.

Nach Verlauf von vier oder fünf langen Tagen der Gefangenschaft zog sich Gertrude eines Morgens, über einen der Streiche ihrer Hüterin über die Maßen verdrießlich und giftig in einen Winkel ihres Zimmers zurück, barg das Antlitz in die Handflächen und brachte so eine Weise damit hin, ihre Wut in sich zu verzehren. Da empfand sie ein übermäßiges Bedürfnis, andere Gesichter zu sehen, andere Worte zu hören, anders behandelt zu werden. Sie dachte an Vater, an Familie; der Gedanke prallte scheu davon zurück. Aber es fiel ihr ein, daß es auf sie ankam, in ihnen Freunde zu finden, und sie fühlte eine plötzliche Freude, nach dieser eine außerordentliche Verwirrung und Reue über ihr Vergehen und eine ebensolche Sehnsucht, es abzubüßen. Nicht etwa, daß ihr Wille sich in einem solchen Vorsatze schon festgesetzt gehabt, aber noch niemals hatte er sich ihm doch so zugeneigt. Sie trat wieder hervor zu einem kleinen Tische, ergriff die verhängnisschwere Feder und schrieb dem Vater einen Brief voller Aufregung und Niedergeschlagenheit, voller Betrübnis und Hoffnung, indem sie um Vergebung flehte und sich in unbedingter Weise bereit zu allem bezeigte, was dem, der sie gewähren sollte, wohlgefällig sein könnte.


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