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Siebentes Kapitel

Pater Cristoforo kam in der Haltung eines guten Feldherrn an, der ohne seine Schuld ein wichtiges Treffen verloren hat, betrübt, aber nicht entmutigt, gedankenvoll, aber nicht bestürzt, eilig, aber nicht flüchtig ist und sich dahin begibt, wo es die Not erfordert, um die bedrohten Orte zu sichern, die Truppen wieder zu ordnen und neue Befehle zu erteilen.

»Friede sei mit euch!« sagte er, indem er eintrat. »Es ist von dem Menschen nichts in hoffen: um so mehr muß man auf Gott vertrauen; und schon hab' ich ein Pfand seines Schutzes.«

Obwohl keiner von den dreien von dem Versuche des Paters Cristoforo viel gehofft hatte, da es vielmehr etwas Unerhörtes als Seltenes war, einen Mächtigen, ohne von einer anderen Kraft überwältigt zu sein, aus bloßer Willfährigkeit gegen friedsame Bitten, von einer Übeltat ablassen zu sehen, so war die traurige Gewißheit doch nichtsdestoweniger ein Schlag für alle. Die Frauen hingen den Kopf; aber in Renzos Gemüt war der Unwille stärker als die Niedergeschlagenheit. Diese Nachricht traf ihn, von einer Folge von schmerzlichen Überraschungen, fehlgeschlagenen Versuchen und getäuschten Hoffnungen schon erbittert und ergrimmt; in dem Augenblicke hatte ihn aber Luciens Weigerung noch überdies gereizt.

»Ich möchte wohl wissen,« sprach er, mit den Zähnen knirschend und mit lauterer Stimme als je vor Pater Cristoforo, »ich möchte wohl wissen, was für Gründe der Hund angegeben hat, um darauf zu bestehen ... um darauf zu bestehen, daß meine Braut nicht meine Frau werden soll.«

»Armer Renzo!« erwiderte der Mönch mit dem Tone des Mitleides und mit einem Blick, der liebreich zur Gelassenheit ermahnte; »wenn der Mächtige, der die Ungerechtigkeit begehen will, immer genötigt wäre, seine Gründe anzugeben, so würde der Welt Lauf nicht der sein, der er ist.«

»Hat der Hund also gesagt, er wolle eben nicht, weil er nicht wolle?«

»Er hat ebensowenig das gesagt, armer Renzo! Es wäre noch ein Glück, wenn sie die Gottlosigkeit offen eingestehen müßten, um sie zu begehen.«

»Aber etwas hat er doch sagen müssen; was hat denn der Höllenbrand nun gesagt?«

»Seine Worte habe ich verstanden und würde sie dir doch nicht wiedersagen können. Die Worte des Gottlosen, der stark ist, verwunden und entfliehen. Er kann sich erzürnen, daß du ihm Verdacht bezeigst und zur selben Zeit dich fühlen lassen, daß dasjenige wahr ist, was du argwöhnst; er kann mißhandeln und sich für beleidigt ausgeben, verhöhnen und Rechenschaft verlangen, in Schrecken setzen und sich beklagen, unverschämt sein und untadelig. Verlange nicht mehr. Er hat weder den Namen der Unschuldigen noch den deinen ausgesprochen, hat nicht einmal getan, als kennte er euch; hat nicht gesagt, daß er es auf irgend etwas absehe; und dennoch ... aber dennoch habe ich nur allzusehr erkennen müssen, daß er unbeweglich ist. Nichtdestoweniger: Vertrauen auf Gott! Ihr Armen, verzagt nicht; und du, Renzo ... o glaube nur, daß ich mich an deine Stelle versetzen kann, daß ich fühle, was in deinem Herzen vorgeht. Aber Geduld! Es ist ein dürres Wort, ein herbes Wort für den, der nicht glaubt; aber du ...! wolltest du Gott nicht ein, zwei Tage, so viel Zeit gönnen, als er nehmen will, um die gute Sache aufkommen zu lassen? Die Zeit ist sein, und er hat uns so viel davon versprochen! Laß ihn machen, Renzo; und wisset, ... wisset alle, daß ich schon einen Faden in der Hand halte, um euch beizustehen. Für jetzt kann ich euch nicht mehr sagen. Morgen werde ich nicht heraufkommen; ich muß euretwegen den ganzen Tag im Kloster bleiben. Du, Renzo, sieh zu, daß du hinkommst; oder wenn du, wider Vermuten, nicht könntest, so schickt mir einen zuverlässigen Menschen, einen verständigen Jungen, durch den ich euch zu wissen tun kann, was vorgeht. Es wird Nacht; ich muß ins Kloster eilen. Vertrauen, Mut; und gute Nacht.«

Nach diesen Worten ging er geschwind hinaus und sprang den gewundenen steinigen Fußpfad hinunter, um sich nicht auf die Gefahr hin, zu spät ins Kloster zu gelangen, etwa einen derben Verweis, oder, was ihm noch weit mehr leid gewesen sein würde, eine Buße zuzuziehen, die ihn am Morgen abgehalten hätte, zu dem, was die Sorge für seine Schützlinge von ihm gefordert, unbedingt bereit zu sein.

»Habt ihr gehört, was er, ich weiß nicht von was für einen ... Faden gesagt hat, den er in der Hand halte, um uns zu helfen?« sagte Lucia. »Man muß ihm vertrauen; er ist der Mann danach, der, wenn er zehn verspricht ...«

»Ich weiß, daß nichts dahinter ist! ...« fiel ihr Agnes ein. »Er hätte müssen deutlicher sprechen oder mich wenigstens beiseite ziehen und mir sagen, was es sei.«

»Lirum, larum! Ich will ein Ende machen; ich will ein Ende machen, ich;« fuhr auch Renz» seinerseits dazwischen, indem er wütend in der Stube auf und ab ging, und zwar mit einer Stimme, mit einer Miene, die über den Sinn dieser Worte keinen Zweifel bestehen ließen.

»O Renzo!« rief Lucia schmerzlich aus.

»Was wollt Ihr damit sagen?« schrie Agnes auf.

»Was braucht's weiter gesagt zu werden. Ich will dem Ding ein Ende machen. Und mag er hundert, tausend Teufel in der Seele haben, zuletzt ist er doch auch nur von Fleisch und Bein.«

»Nein, nein, ums Himmels willen ...«, hub Lucia an, aber Tränen erstickten ihre Stimme.

»Solche Reden soll man auch nicht im Scherze führen,« begann Agnes wieder.

»Im Scherze?« rief Renzo, trat gerade vor die Sitzende hin und blickte sie mit rollenden Augen an. »Im Scherze! Ihr sollt sehen, ob es im Scherze war.«

»O Renzo!« sagte Lucia mühsam, unter Schluchzen. »Ich habe dich nie so gesehen.«

»Sprecht um des Himmels willen nicht solche Dinge,« fuhr Agnes rasch mit gedämpfter Stimme fort. »Denkt Ihr nicht daran, wie viele Arme ihm zu Gebote stehen? Und wenn denn auch ... Gott verhüte es! ... für die Armen ist doch immer Gerechtigkeit da.«

»Ich will Gerechtigkeit ausüben, ich! Es ist endlich einmal Zeit. Die Sache ist nicht leicht, das weiß ich auch. Er nimmt sich wohl in acht, der Mordhund; er weiß, woran er ist; aber es tut nichts. Geduld und Entschlossenheit ... und der Augenblick kommt. Ja, ich werde die Gerechtigkeit ausüben: Ich werde das Land befreien! wie viele Menschen werden mich segnen! ... und dann in vier Sprüngen! ...«

Das Entsetzen, welches Lucia über diese deutlicheren Worte empfand, hemmte ihre Tränen und verlieh ihr Mut, zu sprechen. Das weinende Angesicht aus den flachen Händen erhebend, sagte sie zu Renzo mit beklommener aber fester Stimme: »Es liegt dir also nichts mehr daran, mich zur Frau zu haben? Ich hatte mich einem Jüngling verlobt, der Gottesfurcht kannte; aber ein Mensch, der ... Und wenn er gleich vor aller Gerechtigkeit und Rache sicher, wenn er der Sohn des Königs wäre ...«

»Wohlan,« rief Renzo mit mehr als vorher verzerrter Miene, »so werde ich dich nicht haben; er wird dich aber auch nicht haben. Ich hier ohne dich und er in der ...«

»Ach, nein! aus Barmherzigkeit, sprich nicht so, mache nicht solche Augen; nein, ich kann dich so nicht sehen,« rief Lucia schmerzlich, weinend, flehend, die Hände faltend, aus; derweil Agnes den Jüngling wiederholt bei Namen rief und ihm auf Schultern, Arme, Hände klopfte, um ihn zu begütigen. Er stand regungslos, sinnend da, von dem Anschauen des demütig bittenden Antlitzes Luciens gleichsam einen Augenblick gerührt; darauf starrte er sie mit einemmal grimmig an, trat zurück, streckte Arm und Zeigefinger nach ihr aus und rief: »Diese! ja, diese will er: er muß sterben!«

»Und was hab' ich dir zuleide getan, daß du mich umbringen willst!« sagte Lucia und warf sich ihm zu Füßen.

»Du!« sprach er mit einer Stimme, die einen sehr verschiedenartigen Zorn, aber doch Zorn ausdrückte. »Du! hast du mich etwa lieb? Welchen Beweis hast du mir gegeben? Hab' ich dich nicht gebeten und gebeten und gebeten? Hab' ich erlangen können ...«

»Ja, ja,« antwortete Lucia übereilt, »ich will morgen, jetzt, wenn du willst, mit zum Pfarrer gehen, ich will mitgehen. Werde nur wieder wie vorher; ich will mitgehen.«

»Versprichst du mir das?« sagte Renzo, in Ton und Miene plötzlich menschlicher geworden.

»Ich verspreche es dir.«

»Du hast es mir versprochen?«

»Ach! Herr, ich danke dir!« rief Agnes, doppelt zufrieden, aus.

Hatte Renzo mitten in diesem seinem Jähzorn wahrgenommen, welchen Gewinn Luciens Schrecken ihm bringen könne? Und hatte er nicht ein wenig Arglist angewendet, ihn zu erhöhen, um ihn zu nützen? Unser Autor beteuert, davon nichts zu wissen; und ich glaube, daß Renzo ebensowenig es recht wußte. So viel ist gewiß, daß er über Don Rodrigo wirklich außer sich geraten war, und daß er Luciens Zustimmung sehr eifrig wünschte, und wenn zwei starke Leidenschaften in dem Herzen eines Menschen zugleich toben, so kann niemand, auch der Patient selbst nicht, die eine Stimme immer deutlich von der anderen unterscheiden und mit Sicherheit angeben, welches die vorherrschende sei.

»Ich habe es dir versprochen,« versetzte Lucia mit dem Tone scheuen, liebevollen Vorwurfes; »aber du hast auch versprochen, kein Ärgernis zu geben, dich hierin dem Pater zu überlassen ...«

»Ei, was! aus Liebe zu wem gerate ich denn in Wut? Willst du dich nun wieder zurückziehen? Und mich einen dummen Streich begehen lassen?«

»Nein, nein,« sagte Lucia, nahe daran, in den Schrecken zurückzufallen. »Ich habe versprochen und ziehe mich nicht zurück. Aber steh du wohl zu, wie du mich dazu gebracht hast, zu versprechen. Wolle Gott nicht ...«

»Warum willst du Unglück vorhersehen, Lucia? Gott weiß, daß wir niemand unrecht tun.«

»Versprich mir wenigstens, daß dies das letztemal sein soll.«

»Ich verspreche es dir als ein armer Junge.«

»Aber diesmal haltet's auch,« sagte Agnes.

Hier bekennt der Autor, nicht zu wissen, ob Lucia unbedingt und in jeder Hinsicht mißvergnügt war, sich zur Einwilligung gezwungen zu sehen. Wir lassen, wie er, die Sache in Zweifel.

Renzo hätte die Unterredung wohl noch gern verlängert, und insbesondere darin ausgemacht, was des folgenden Tages zu tun sei: aber es war schon finster, und die Frauen wünschten ihm gute Nacht, da es ihnen nicht schicklich dünkte, daß er zu dieser Stunde länger verweilte.

Die Nacht verging indessen allen dreien so gut, als eine Nacht vergehen kann, die auf einen Tag voll Unruhe und Weh folgt und einem anderen vorangeht, der zu einer wichtigen Unternehmung ungewissen Ausganges bestimmt ist. Renzo ließ sich früh beizeiten sehen, und verabredete mit den Frauen, oder vielmehr mit Agnes, das große Geschäft des Abends, indem sie wechselweise Schwierigkeiten erhoben und beseitigten, Unfälle voraussahen, und eines um das andere immer wieder anhuben, den ganzen Hergang der Sache zu schildern, sowie man wohl ein Geschehenes erzählen würde. Lucia hörte zu, und ohne daß sie mit Worten gebilligt hätte, was sie in ihrem Herzen nicht billigen konnte, versprach sie nach bestem Wissen dabei zu handeln.

»Werdet Ihr ins Kloster hinuntergehen, um mit dem Pater Cristoforo zu sprechen, wie er Euch gestern abend gesagt hat?« fragte Agnes Renzo.

»Warum nicht gar!« entgegnete dieser. »Ihr wißt, was für verteufelte Augen der Pater hat; er würde mir aus dem Gesichte wie aus einem Buche ablesen, daß etwas im Werke wäre, und wenn er anfinge, mich zu verhören, würde ich mich schlecht herausfinden. Auch muß ich ja hier bleiben, um auf alles acht zu haben. Es würde besser sein, Ihr schicktet jemand hin.«

»Ich will Menico schicken.«

»Ganz gut,« versetzte Renzo, und ging fort, um auf alles acht zu haben, wie er gesagt hatte.

Agnes ging in das Nachbarhaus, um nach Menico, einem munteren, für sein Alter verständigen kleinen Knaben zu fragen, der kraft Schwäger- und Vetterschaften etwas verwandt mit der Frau war. Sie bat sich ihn von den Eltern aus und borgte ihn gleichsam für den ganzen Tag, »zu einer gewissen Hilfeleistung,« sagte sie. Sobald sie ihn hatte, nahm sie ihn mit in ihre Küche, gab ihm ein Frühstück und trug ihm auf, nach Pescarenico zu gehen und sich dem Pater Cristoforo zu zeigen, der ihn hernach, wenn es Zeit sei, mit einer Antwort zurücksenden würde. »Der Pater Cristoforo, der schöne alte Mann, weißt du, mit dem weißen Barte, sie nennen ihn den Heiligen ...«

»Ich weiß schon,« sagte Menico, »der es mit den Kindern immer gut meint und ihnen manchmal ein Heiligenbild schenkt.«

»Ganz recht, Menico. Und wenn er dir etwa sagt, du mögest eine Welle in der Nähe beim Kloster warten, so laufe nicht fort. Gehe ja nicht mit den anderen Kindern an den See, glatte Steinchen über das Wasser hinspringen zu lassen, oder Fischen zuzusehen, oder mit den Netzen zu spielen, die zum Trocknen an der Mauer aufgehängt sind, oder ...«

»Ei, Muhme, ich bin doch kein Kind mehr.«

»Gut, sei nur recht verständig, und wenn du die Antwort bringst ... schau, so sind die zwei schönen neuen Parpagliolen dein.«

»Gebt sie mir immer her, ich will ...«

»Nein, nein, du verspieltest sie wohl. Geh und führ dich gut auf, so sollst du noch mehr haben.«

In dem weiteren Verlaufe dieses langen Morgens ergab sich mancherlei Neues, was dem schon beklommenen Gemüte der Frauen nicht geringe Angst einflößte. Ein Bettler, weder erschöpft noch zerlumpt wie seinesgleichen, dessen Anblick etwas Banges, Widerwärtiges hatte, trat, um ein Almosen bittend, ein, indem er gewisse spähende Blicke hin und her warf. Es wurde ihm ein Stück Brot gereicht, das er mit schlecht verhohlenem Gleichmute annahm und einsteckte. Er verweilte darauf noch mit einer gewissen Unverschämtheit und zugleich Unschlüssigkeit und tat viele Fragen, auf die Agnes sich angelegen sein ließ, immer das Gegenteil dessen zu antworten, wie es sich verhielt. Indem er aufbrach, wie um fortzugehen, stellte er sich an, als verfehlte er die Tür, trat durch die andere, die nach der Treppe führte, ein und sah sich da, so viel er in der Eile konnte, um. Man rief ihm nach: »He, he! wohin geht Ihr, guter Mann? Dort hinaus!« und er kehrte um und ging durch die ihm angegebene Tür hinaus, entschuldigte sich aber mit nur erheuchelter Demut und Unterwürfigkeit, die sich in den wilden und rauhen Zügen dieses Gesichtes schlecht ausnahm. Nach ihm ließen sich fortwährend andere seltsame Gestalten blicken. Was für eine Art Menschen es war, würde man nicht so leicht haben ersinnen können; aber man konnte doch ebensowenig glauben, daß sie die ehrbaren Wanderer wären, die sie scheinen wollten. Der eine trat unter dem Vorwande ein, nach dem Wege zu fragen, andere hemmten den Schritt, sobald sie vor die Tür gelangt waren, und guckten verstohlen quer über den Hof in die Stube wie jemand, der, ohne Argwohn zu erregen, sehen will. Gegen Mittag endlich hörte dieses lästige Getreibe auf. Agnes erhob sich von Zeit zu Zeit, schritt über den Hof weg, trat an den Ausgang nach der Straße, schaute rechts und links hin und sagte wiederkehrend: »Niemand!« ein Wort, das sie mit Behagen aussprach, und das Lucia mit Behagen vernahm, ohne daß weder die eine noch die andere recht eigentlich gewußt hätte, warum. Es blieb aber eben in beiden eine unbestimmte Unruhe zurück, die ihnen, und der Tochter insbesondere, ein groß Teil des Mutes benahm, den sie sich zum Abend gesammelt hatten.

Es gehört sich jedoch, daß der Leser etwas Genaueres über jene geheimnisvollen Herumstreicher vernehme; und um ihn der Ordnung nach mit ihnen bekannt zu machen, müssen wir einen Schritt zurücktun und Don Rodrigo wieder aufsuchen, den wir gestern nach dem Mittagsmahle bei dem Abgange des Paters Cristoforo allein in einem Zimmer seines Schlosses verlassen haben.

Don Rodrigo, wie wir gesagt, maß mit großen Schritten das Zimmer auf und nieder, an dessen Wänden Familienbildnisse verschiedener Generationen hingen. Als er mit dem Gesicht vor der Wand stand und umkehrte, sah er sich einem seiner Ahnen gegenüber, einem Kriegsmann, dem Schrecken der Feinde und seiner Soldaten, drohenden Anblickes, mit kurzem, auf der Stirn emporgesträubtem Haar, geschniegeltem, spitz zugedrehtem Schnurrbarte, der über die Backen hinausragte, und schrägem Kinn. Der Held stand aufrecht, mit Beinschienen, Schenkelharnisch. Panzer, Armrüstung, Handschuhen, alles von Eisen, die geballte Rechte in der Hüfte und die linke Hand am Schwertknopfe. Don Rodrigo sah ihn an, und als er, unter ihm angelangt, sich umdrehte, siehe da! vor ihm ein anderer Vorfahre, eine Magistratsperson, der Schrecken der Prozessierenden, auf hohem, rotsamtnem Richterstuhle sitzend, in ein weites schwarzes Gewand gehüllt, völlig in Schwarz, mit Ausnahme eines weißen Halskragens, mit zwei breiten Blättern und umgeschlagenem Zobelfutter – Unterscheidungszeichen der Senatoren, das sie jedoch nur im Winter trugen, aus welchem Grunde man denn nicht leicht ein Bildnis eines Senatoren in Sommerkleidung vorfinden wird; – bleich, die Augenbrauen zusammengezogen, er hielt in der Hand eine Bittschrift und schien zu sagen: Wir wollen sehen. Hier eine Matrone, der Schrecken ihrer Zofen, dort ein Abt, der Schrecken der Mönche, alles, mit einem Worte, Leute, die Schrecken eingeflößt hatten und noch im Bilde ausströmten. In Gegenwart solcher Gedenkzeichen entrüstete und schämte sich Don Rodrigo desto mehr und konnte er sich nicht zufrieden geben, daß ein Mönch sich unterfangen habe, ihm mit der Keckheit des Nathan auf den Leib zu rücken. Er sann sich einen Racheplan aus, gab ihn aus, bedachte, wie er zugleich der Leidenschaft und dem, was er Ehre nannte, genügen könnte; und dennoch, man sehe einmal! wenn er dann und wann die Anfangsworte jener Prophezeiung in den Ohren klingen hörte, schauderte er alsbald zusammen und war darauf und daran, den Gedanken an die zwiefache Befriedigung aufzugeben. Zuletzt, um doch etwas zu tun, rief er einen Diener und trug ihm auf, ihn bei der Gesellschaft zu entschuldigen und zu sagen, er sei von einem dringenden Geschäft abgehalten. Sobald der Diener zurückkehrte und berichtete, die Herren hätten sich entfernt und ihre gehorsamen Empfehlungen hinterlassen, fragte Don Rodrigo, sich immer noch ergehend: »Und Graf Attilio?«

»Er ist mit den Herren ausgegangen, gnädiger Herr.«

»Gut: sieben Mann Gefolge zum Spaziergange, geschwind. Schwert, Mantel, Hut, rasch.«

Der Diener antwortete mit einer Verbeugung, ging und kehrte sogleich mit dem reichen Schwerte zurück, das der Herr sich umgürtete; mit dem Mantel, den er sich über die Schultern warf; mit dem Hute mit hohen Federn, den er sich aufsetzte, und mit einem Schlage der flachen Hand heftig auf den Kopf drückte, ein Zeichen, daß ihm der Kopf nicht recht stand. Er brach auf und fand an der Schwelle die sechs völlig bewaffneten feilen Knechte, die, nachdem sie eine Gasse gebildet und sich verneigt hatten, sich ihm anschlossen. Mürrischer, hochmütiger, finsterer blickend als gewöhnlich, ging er aus, lustwandelnd gen Lecco hin, an den Landleuten vorüber, die ihre Hüte abrissen und sich bis zur Erde hinab vor ihm bückten, wenn sie ihm begegneten; der Unhöfliche, der seinen Filz auf dem Kopfe behalten haben würde, wäre wohlfeilen Kaufes davongekommen, wenn einer jener Bravi sich damit begnügt hätte, ihm denselben mit einer derben Kopfnuß herabzuwerfen. Diesen Begrüßungen dankte Don Rodrigo nicht. Leute von gebildetem Stande bezeigten ihre Ehrfurcht ebenfalls demjenigen, der ohne Widerrede der Mächtigste unter ihnen war; und diesen begegnete er mit stolzer Herablassung. An diesem Tage geschah es nicht; aber wenn es geschah, daß er mit dem spanischen Herrn Kastellan zusammentraf, so war dann die Verbeugung von beiden Seiten gleich tief: das Verhältnis war wie zwischen zwei Potentaten, die nichts miteinander zu schaffen haben, aber anstandshalber je einer der Würde des anderen Ehre erweisen. Um ein wenig über die üble Laune hinwegzukommen und der Vorstellung des Mönches, die ihn beengte, ganz verschiedenartige Gesichter und Gebärden entgegenzustellen, begab sich Don Rodrigo an diesem Tage in ein Haus, wo sich Gesellschaft versammelt hatte, und wo er mit jener diensteifrigen, ehrerbietigen Herzlichkeit empfangen ward, wie man sie Männern zukommen läßt, die sich sehr beliebt und sehr gefürchtet machen; und kehrte endlich, als es Nacht geworden, in sein festes Schloß zurück.

Der Graf Attilio war soeben auch wiedergekommen, und es wurde das Abendessen aufgetragen, währenddessen Don Rodrigo gedankenvoll dasaß und wenig sprach.

»Vetter, wann zahlt Ihr die Wette?« sagte mit verschmitzter und ein wenig spottender Miene Graf Attilio, als die Tafel kaum aufgehoben war und die Diener abgetreten waren.

»Sankt Martin ist noch nicht vorüber.«

»Das heißt soviel, als daß Ihr bald bezahlt; denn es werden alle Heiligen des Kalenders vorübergehen, ehe daß ...«

»Das ist es eben, was sich zeigen wird.«

»Vetter, Ihr wollt den Politiker spielen, aber ich habe alles gemerkt, und so gewiß bin ich, die Wette gewonnen zu haben, daß ich mich erbiete, eine andere einzugehen.«

»Die ist?«

»Daß der Pater ... der Pater ... was weiß ich? kurz, der Pater Euch bekehrt hat.«

»Das ist wahrlich ein Gedanke, der Euch ähnlich sieht.«

»Bekehrt, Vetter; bekehrt, sage ich Euch. Mich meinerseits freut es. Wißt Ihr, daß es ein schönes Schauspiel abgeben wird. Euch ganz zerknirscht und mit niedergeschlagenen Augen zu erblicken! Und welcher Ruhm für den Pater! Wie übermütig wird er nicht wieder nach Hause gekommen sein! Ja, ja, solche Fische fängt man auch nicht alle Tage und mit jedwedem Netze. Seid versichert, daß er Euch als Beispiel anführen und auf jeder etwas entfernten Mission, die er unternimmt, von Euerm Handel reden wird. Mir ist, als hörte ich ihn.« Und indem er durch die Nase redete und die Worte mit übertriebenen Gebärden begleitete, fuhr er im Predigertone fort: »In einer Gegend dieser Welt, die ich aus billigen Rücksichten nicht namhaft mache, lebte, vielgeliebte Zuhörer, und lebt noch immer, ein zügelloser Edelmann, der Frauenliebe mehr als der Menschenliebe zugetan, der seinen Lüsten ohne Unterschied zu frönen gewohnt war und seine Augen auf ...«

»Genug, genug,« fiel Don Rodrigo halb lächelnd und halb verdrießlich ein. »Wollt Ihr die Wette verdoppeln, so bin ich auch dazu bereit.«

»Teufel! so hättet Ihr wohl gar den Pater bekehrt?«

»Sprecht mir nicht von dem; und was die Wette betrifft, wird Sankt Martin entscheiden.«

Die Neugier des Grafen war gereizt. Er sparte keine Nachfragen; aber Don Rodrigo wußte allen auszuweichen, indem er sich immerfort auf den Tag der Entscheidung berief und seinerseits Pläne nicht mitteilen mochte, die bis jetzt weder eingeleitet noch vollständig festgestellt waren.

Am kommenden Morgen erwachte Don Rodrigo als Don Rodrigo. Das bißchen Zerknirschung, das ihm jenes: »Es wird ein Tag kommen,« in den Leib gejagt hatte, war mit den nächtlichen Träumen verflogen, und nur der Zorn blieb übrig, durch die Reue über jene vorübergehende Schwäche noch geschärft. Die noch frischeren Eindrücke des triumphierenden Spazierganges, der Verbeugungen, der Bewillkommnungen, das Gespötte des Vetters hatten nicht wenig beigetragen, ihm den alten Mut wiederherzustellen. Kaum aufgestanden, ließ er den Grauen rufen. – Große Dinge, sprach der Diener bei sich, dem der Befehl gegeben ward; denn der Mensch, der diesen Beinamen hatte, war nichts Geringeres als das Haupt der Bravi, der die gefährlichsten und frechsten Unternehmungen auszuführen hatte; der getreueste Diener des Herrn, ein Mensch, der aus Dankbarkeit und Eigennutz ihm auf das unbedingteste ergeben war. Eines öffentlichen Mordes schuldig, war er zu Don Rodrigo gekommen, seinen Schutz anzuflehen, um sich den Nachstellungen der Gerechtigkeit zu entziehen; und hatte dieser ihn in seinen Dienst genommen und vor aller Verfolgung sichergestellt; so daß er also, indem er sich zu jedem Verbrechen verpflichtete, das ihm geheißen ward, sich die Straflosigkeit des ersten zuwege gebracht. Für Don Rodrigo war der Erwerb von nicht geringer Wichtigkeit gewesen; denn nicht nur, daß der Graue, außer Vergleich, der Tapferste unter der Dienerschaft, war er zugleich ein Beweis dessen, was sein Herr mit glücklichem Erfolge sich hatte gegen die Gesetze herausnehmen dürfen, so daß durch ihn seine Macht in der Tat, sowie in der Meinung von ihr vergrößert wurde.

»Grauer!« sagte Don Rodrigo, »bei dieser Gelegenheit wird es sich zeigen, wie viel du wert bist. Noch vor morgen muß jene Lucia sich in diesem Schlosse befinden.«

»Man soll nimmer sagen, daß der Graue sich einem Gebote seines gnädigen Herrn entzogen habe.«

»Nimm so viel Leute als du brauchst, schalte und walte wie es dir am besten dünkt; wenn nur die Sache gut ausschlägt. Aber nimm dich vor allem in acht, daß ihr kein Leid geschehe.«

»Herr, ein wenig Schreck, damit sie es nicht gar zu arg treibe, ... wird man ihr nicht ersparen können.«

»Schreck ... ich sehe es ein ... ist unvermeidlich. Aber es darf ihr kein Haar gekrümmt werden, und daß ihr besonders auf alle Weise mit Achtung begegnet werde. Hast du verstanden?«

»Herr, man kann keine Blume vom Stocke brechen und Ihrer Gnaden bringen, ohne sie ganz und gar nicht anzugreifen. Aber es soll nicht mehr geschehen, als die äußerste Not erfordert.«

»Unter deiner Gewährleistung. Und ... wie wirst du es machen?«

»Darüber dachte ich eben nach, Herr. Es ist ein Glück, daß das Haus am Ende des Dorfes steht. Wir brauchen einen Ort, wo wir haltmachen können, und da ist gerade nicht weit davon das alte öde Gemäuer mitten im Felde, das Haus ... Ihre Gnaden wird nichts von den Geschichten wissen ... ein Haus, das vor ein paar Jahren abgebrannt ist, und das sie kein Geld gehabt haben, wieder auszubauen, sie haben es da verlassen, und nun treiben sich darin die Hexen um, aber es ist nicht Sonnabend und ich lache sie aus. Die Bauersleute, die voll abergläubischer Furcht stecken, würden nicht für Schätze sich in irgendeiner Nacht der Woche hineinversteigen: und deswegen können wir uns ganz sicher darin niederlassen, es kommt gewiß niemand, unsere Anstalten zu stören.«

»Nun gut, und dann?«

Hier ging denn der Graue daran, vorzuschlagen, und Don Rodrigo, zu erwägen, bis sie miteinander die Art und Weise verabredet hatten, wie das Unternehmen zu Ende zu bringen, ohne daß eine Spur von den Urhebern übrig bliebe, wie der Verdacht ferner mit trüglichen Anzeichen nach einer anderen Seite hinzulenken, wie der armen Agnes Stillschweigen aufzuerlegen und wie Renzo so große Angst einzuflößen sei, daß ihm darüber sein Schmerz, der Gedanke, zur Gerechtigkeit seine Zuflucht zu nehmen und sogar die Lust verginge, sich zu beklagen; und bis sie ebenso wegen aller anderen zum Gelingen des Hauptbubenstückes erforderlichen Schurkereien einverstanden waren. Wir unterlassen, von dieser Rücksprache zu berichten, denn, wie der Leser sehen wird, tut dies zum Verständnis der Geschichte nicht not, und wir wollen ihn und uns nicht gern lange damit aufhalten, diese beiden leidigen Bösewichter miteinander verhandeln zu hören. Es genüge, daß, indem der Graue sich aufmachte, Hand ans Werk zu legen, Don Rodrigo ihn zurückrief und zu ihm sprach: »Höre, wenn dir der verwegene Bursche heute abend zufällig in die Klauen fallen sollte, so wäre es nicht übel, wenn man ihm schon im voraus einen gehörigen Denkzettel auf die Schultern heftete. Die Weisung, die er morgen erhält, sich ruhig zu verhalten, wird dann um so sicherer Wirkung tun. Sucht ihn aber nicht gerade auf, damit nicht etwa verhindert werde, woran mehr gelegen ist: hast du mich verstanden?«

»Lassen Sie mich nur machen,« erwiderte der Graue, verneigte sich mit ehrerbietiger und prahlerischer Gebärde und ging. Der Morgen wurde damit zugebracht, in dem Dorfe zu kundschaften. Jener falsche Bettler, der sich auf die gedachte Art in dem armen Häuschen vorgedrängt hatte, war niemand anders als der Graue, der den Grundriß davon nach dem Augenmaße hatte entwerfen wollen, die falschen Wanderer waren seine Gesellen, für die, um nach seinen Vorschriften zu handeln, eine leichtere Kenntnis des Ortes hinreichte und nachdem sie mit ihrem Spionieren fertig, waren sie nicht weiter sichtbar geworden, um nicht zu vielen Verdacht zu erwecken.

Sobald alle nach dem Schlosse zurückgekehrt, legte der Graue Rechenschaft ab, setzte den Plan der Unternehmung fest, teilte die Rollen aus, gab Anweisungen. Alles dies konnte nicht vor sich gehen, ohne daß jener alte Diener, der mit offenen Augen sah und mit offenen Ohren hörte, wahrgenommen hätte, daß etwas Wichtiges betrieben wurde. Vermittels Aufpassens und Fragens, und indem er hier eine halbe Kunde und dort eine halbe erhaschte, ein dunkles Wort sich erklärte, einen geheimnisvollen Gang sich auslegte, gelang es ihm zuletzt, sich über das, was in der Nacht zur Ausführung kommen sollte, aufzuklären. Als er aber erst im klaren darüber war, war diese auch nicht mehr weit entfernt und ein kleiner Vortrab des Gesindels schon ins Feld hinausgerückt und auf dem Wege, sich in das zerstörte Haus zu verkriechen. Der arme Alte fühlte zwar wohl, welch gefährliches Spiel er spielte und fürchtete zunächst, gar zu späte Hilfe zu bringen, aber dessenungeachtet wollte er das Seinige tun. Er ging unter dem Vorgeben aus, ein wenig Luft zu schöpfen und eilte über Hals und Kopf dem Kloster zu, um dem Pater Cristoforo die versprochene Nachricht zu überbringen. Bald nachher brachen auch die anderen Bravi auf und gingen, je einer und zwei abgesondert, um nicht als Bande zu erscheinen, hinunter; der Graue kam hintennach, und es blieb nichts als eine Sänfte übrig, die bei vorgerücktem Abend nach der Brandstelle geschafft werden sollte und geschafft wurde. Als sie hier beisammen waren, schickte der Graue drei von ihnen nach dem Wirtshause des Dorfes ab, einen, damit er an die Tür trete, um zu beobachten, was auf der Straße vorgehe und den Augenblick abzuwarten, wann alle Bewohner sich zurückgezogen haben würden; die anderen beiden, damit sie sich zur Kurzweil drinnen aufhielten, um zu trinken und zu spielen und sich derweil aufs Horchen legten, wenn etwas zu erhorchen wäre. Er mit der übrigen Bande blieb im Hinterhalte auf der Lauer liegen.

Der arme Alte trabte noch zu, die drei Kundschafter langten auf ihren Posten an, die Sonne sank, als Renzo bei den Frauen eintrat und zu ihnen sagte: »Tonio und Gervaso sind draußen: ich gehe mit ihnen ins Wirtshaus zum Abendessen, und sobald das Ave Maria angeschlagen wird, kommen wir und holen euch ab. Auf, Mut, Lucia; alles hängt von einem Augenblick ab.«

Lucia seufzte und antwortete: »Ach ja, Mut,« mit einer Stimme, die das Wort Lügen strafte.

Als Renzo und die beiden Gesellen ins Wirtshaus kamen, fanden sie den Gewissen schon als Schildwache aufgepflanzt, wo er die halbe Öffnung der Tür einnahm, sich mit dem Rücken an den Pfosten lehnte, und, die Arme über der Brust verschränkt, rechts und links hingaffte, bald das Weiße, bald das Schwarze zweier Habichtsaugen blitzend lassend. Eine flache, schief gesetzte Mütze von karmesinrotem Samt bedeckte ihm den halben Schopf, der sich auf einer finsteren Stirn teilte und in Flechten ausging, die mit einem Kamme im Nacken festgesteckt waren. In einer Hand hing ihm ein dicker Prügel; eigentliche Waffen trug er anscheinend nicht; man brauchte ihm aber nur ins Gesicht zu sehen, und es würde sogar ein Kind geglaubt haben, er müsse deren unter den Kleidern so viele tragen, als sie fassen könnten.

Als Renzo, als erster von den dreien, ihm genaht war und Miene machte, einzutreten, sah er ihn, ohne sich zu rühren, starr an; da der Jüngling aber entschlossen war, jeden Zwist zu vermeiden, so wie derjenige zu tun pflegt, der einen mißlichen Handel zu Ende zu bringen hat, so sagte er nicht einmal: Macht Platz! sondern hielt sich dicht an den anderen Pfosten und schob sich von der Seite quer durch den Zwischenraum, den die Karyatide noch übrig gelassen hatte. Die beiden Begleiter mußten dasselbe Verfahren beobachten, wenn sie hinein wollten. Drinnen sahen sie die anderen, deren Stimme sie schon vernommen hatten, jene beiden Raufbolde, die, an einem kleinen Tische sitzend, das Fingerspiel spielten, indem sie alle beide auf einmal schrien und sich bald der eine, bald der andere aus einer großen zwischen ihnen stehenden Flasche zum Trinken einschenkten. Auch diese faßten die Dazukommenden ins Auge, und besonders der eine von beiden, der die rechte Hand mit drei dicken ausgespreizten Fingern in die Höhe hielt und den Mund zu einem lauten: »Sechs!« aufgerissen hatte, das in dem Augenblick herausgeplatzt war, maß Renzo von oben bis unten und blinkte sodann seinem Spielkameraden, sowie auch dem an der Tür, der mit einem Kopfnicken antwortete, verstohlen mit dem Auge zu. Renzo sah argwöhnisch und ungewiß seine beiden Gäste an, gleich als ob er in ihrem Antlitz eine Erklärung all der Fratzengesichter suchen wollte: aber ihre Miene verkündigte sonst nichts als eine große Eßlust. Der Wirt sah ihn wie seiner Befehle gewärtig an; er nahm ihn mit sich in eine anstoßende Stube und bestellte ein Abendessen.

»Wer sind die Fremden?« fragte er ihn darauf leise, als jener mit einem groben Tischtuche unterm Arm und mit einer Flasche in der Hand zurückkehrte.

»Ich kenne sie nicht«, versetzte der Wirt, das Tischtuch ausbreitend.

»Wie? auch nicht einen?«

»Ihr wißt ja,« sprach jener wieder, indem er mit beiden Händen das Tischtuch auf dem Tische glatt strich; »daß die erste Regel unseres Gewerbes ist, nach dem Tun und Lassen anderer nicht zu fragen; nicht einmal unsere Weiber sind neugierig. Wir wären auch sonst mit so vielen Leuten schön daran, die bei uns aus und ein gehen; immer wie in einem Seehafen: wenn die Jahre danach sind, will ich sagen; doch sind wir stets munter und guter Dinge, es kommt schon wieder einmal ein bißchen gute Zeit. Uns ist es genug, wenn die Einkehrenden ordentliche Leute sind, was sie außerdem sind oder nicht sind, das ist einerlei. Und nun richte ich Euch gleich eine Schüssel Fleischklöße an, wie ihr sie noch nicht gegessen habt.«

»Wie wollt Ihr wissen ...?« hob Renzo wieder an; aber der Gastwirt, der schon auf dem Wege nach der Küche war, ließ sich nicht abhalten. Während er allda Hand an den Tiegel mit den besagten Fleischklößen legte, schlich sich jener Raufbold zu ihm, der unseren jungen Mann so mit den Blicken gemessen hatte, und sagte leise: »Wer sind die Ehrenmänner?«

»Brave Burschen aus dem Dorfe hier,« entgegnete der Wirt, die Klöße in die Schüssel umstürzend.

»Schon gut; aber wie heißen sie? wer sind sie?« blieb jener mit etwas scharfem Ton dabei.

»Der eine heißt Renzo,« erwiderte der Wirt ebenfalls leise, »ein guter, ordentlicher Junge, ein Seidenspinner, der sein Handwerk versteht. Der andere ist ein Bauer, namens Tonio, sein aufgeweckter redlicher Kumpan; schade, daß er nicht viel hat; er brächte sonst hier alles durch; der dritte ist ein Tropf, der gern mitißt, wenn sie ihm was geben. Mit Verlaub!«

Und mit einem Satze sprang er zwischen dem Bratofen und dem Frager durch und trug die Schüssel, dem sie gehörte, zu. »Wie wollt Ihr wissen,« begann Renzo wieder, als er ihn kommen sah, »daß es ordentliche Leute seien, wenn Ihr sie nicht kennt?«

»Das Betragen, mein Lieber, man erkennt den Menschen am Betragen. Diejenigen, die den Wein trinken, ohne ihn zu bekritteln, die auf der Bank ein Gesicht machen wie der König, ohne zu schwatzen, die nicht mit den anderen Gästen Händel anfangen, und, wenn sie einem eins mit dem Messer zu versetzen haben, ihm draußen weit weg von dem Wirtshause auflauern, daß der arme Wirt nicht mit hineingebracht wird, die sind die ordentlichen Leute. Besser ist es freilich immer, wenn man seine Leute so gut kennen kann, als wir vier einander kennen. Aber, was Teufel! ficht Euch an, daß ihr so vielerlei wissen wollt, der Ihr ja doch ein Bräutigam seid und ganz andere Dinge im Kopfe haben solltet? und überdies da die Fleischklöße vor Euch habt, die einen Toten wieder auferwecken könnten!«

Mit diesen Worten kehrte er in die Küche zurück. Indem unser Autor auf die verschiedene Art und Weise hindeutet, wie der Wirt den Nachfragen Genüge tut, sagt er, daß es dessen Eigenheit gewesen sei, in allen seinen Reden sich für einen großen Freund ordentlicher Leute im allgemeinen auszugeben; wenngleich er sich im Leben weit geneigter denjenigen erwiesen habe, die Ruf oder Ansehen von Schelmen hatten. Er war, wie jedermann sieht, ein Mann von sehr sonderbarem Charakter.

Beim Abendessen ging's nicht eben lustig zu. Die beiden Eingeladenen hätten seine guten Gaben gern behaglich schmecken mögen; der Einlader aber, der den Kopf von dem voll hatte, was der Leser weiß, und dem das seltsame Wesen der Unbekannten lästig war, ja, den es selbst ein wenig beunruhigte, konnte die Stunde des Aufbruchs nicht erwarten. Deshalb sprach man heimlich, und zwar abgebrochene und verdrossene Worte.

»Es ist doch hübsch,« platzte Gervaso auf einmal los, »daß Renzo eine Frau nehmen will und dazu nötig hat ...« Renzo machte ihm ein bös Gesicht. »Willst du still sein, Dummkopf!« sagte Tonio zu ihm, und begleitete den Beinamen mit einem Ellbogenstoße. Die Unterhaltung blieb matt, bis sie völlig zu Ende ging. Renzo beobachtete eine strenge Mäßigkeit und ließ sich angelegen sein, den beiden Zeugen nur mit Vorsicht einzuschenken, so daß er ihnen ein wenig Dreistigkeit verlieh, ohne sie von Sinnen kommen zu lassen. Nachdem sie den Tisch geleert und derjenige, der des Guten am wenigsten getan, die Zeche bezahlt hatte, mußten alle drei von neuem vor jenen Fratzen vorüber, die sich alle wie das erstemal Renzo zukehrten. Als er draußen vor dem Wirtshause ein paar Schritte gegangen war, blickte er zurück und sah, daß die beiden, die er in der Küche sitzend verlassen hatte, ihm folgten; er blieb also mit seinen Begleitern stehen, als ob er sage: laßt sehen, was die von mir wollen. Aber sobald die zwei wahrnahmen, daß sie beobachtet wurden, standen sie gleichfalls still, sprachen heimlich miteinander und kehrten um. Wenn Renzo so nahe gewesen wäre, ihre Worte zu verstehen, würden sie ihn seltsam genug bedünkt haben. »Es würde doch aber eine nicht geringe Ehre sein, das Trinkgeld gar nicht zu rechnen,« sagte einer der Schufte, »wenn wir wieder nach dem Schlosse kämen und erzählen könnten, wir hätten ihn Hals über Kopf auf unsere eigene Hand durchgewamst, ohne daß der Herr Graue irgend mit im Spiele dabei gewesen wäre.«

»Und wenn wir die Hauptsache damit verdürben!« entgegnete der andere. »Gib acht, sie haben was gemerkt, sie bleiben stehen und fassen uns ins Auge. I! wenn es später wäre. Wir wollen wieder hineingehen, damit wir keinen Argwohn erregen. Siehst du, es kommen allenthalben Leute her; laß sie nur alle erst zu Neste kriechen.«

Es fand in der Tat jenes Gewimmel und Gesumse statt, das man in einem Dorfe wahrnimmt, wenn es Abend wird, und das wenige Augenblicke später der feierlichen Stille der Nacht Raum gibt. Die Weiber kamen vom Felde, die ganz kleinen Kinder auf dem Rücken tragend, und die größeren, die sie das Abendgebet nachsprechen ließen, an der Hand führend; die Männer kamen mit Spaten und Hacken auf den Schultern. Wie die Türen geöffnet wurden, sah man hier und da die zu den ärmlichen Abendmahlzeiten angezündeten Feuer brennen; auf der Straße hörte man Gruß und Gegengruß und kurze, trübselige Gespräche über die Dürftigkeit der Ernte und über das Elend des Jahres; stärker als die Worte jedoch die abgemessenen, helltönenden Schläge der Betglocke, die die Abenddämmerung ankündigten. Als Renzo sah, daß die beiden unverschämten Kerle sich zurückgezogen hatten, setzte er seinen Weg in der zunehmenden Dunkelheit fort und ließ mit leiser Stimme bald dem einen Bruder, bald dem andern eine Mahnung zukommen. Es war völlig Nacht, als sie in Luciens Häuschen anlangten.

Die Zeit, die zwischen dem ersten Gedanken zu einem furchtbaren Unternehmen und seiner Ausführung liegt, hat ein fremder Nordländer gesagt, der nicht ohne Genie war, ist ein Traum voll Trugbilder und Schrecken. Lucia befand sich seit vielen Stunden in den Ängsten eines solchen Traumes, und Agnes, Agnes selbst, die Erteilerin des Ratschlags, war gedankenvoll, und fand nur mühsam Worte, die Tochter zu ermutigen. Aber in dem Augenblick des Erwachens, in dem Augenblick, da man Hand ans Werk legen wird, wird das Gemüt ganz umgewandelt. Auf das Bangen und den Mut, die darin kämpften, erfolgt ein anderes Bangen und ein anderer Mut; das Unternehmen stellt sich der Seele wie eine neue Erscheinung dar; das, was anfänglich am meisten ängstigte, scheint bisweilen auf einmal leicht geworden; bisweilen wächst auch das Hindernis an, worauf man kaum geachtet hatte; die Einbildungskraft weicht erschreckt zurück, die Glieder versagen ihren Dienst, und das Herz wird den Versprechungen untreu, die es mit größerer Sicherheit gegeben hatte.

Bei Renzos leisem Pochen kam ein solches Bangen Über Lucia, daß sie in dem Augenblick beschloß, lieber alles zu erdulden, immer von ihm geschieden zu sein, als ihren gefaßten Vorsatz auszuführen; aber sobald er sich gezeigt und gesagt hatte: »Da bin ich, kommt«; sobald alle bereit waren, ohne Zaudern aufzubrechen, wie zu einer ausgemachten, unwiderruflichen Sache, hatte Lucia weder die Gelegenheit, noch das Herz Schwierigkeiten zu machen, und wie mit fortgerissen, erfaßte sie zitternd einen Arm der Mutter, einen Arm des Bräutigams und setzte sich mit der abenteuerlichen Gesellschaft in Bewegung.

Leise, leise, in der Finsternis, behutsamen Schrittes, traten sie zur Tür hinaus und schlugen den Weg hinterm Dorfe ein. Am kürzesten würde es gewesen sein, gerade durch zu gehen, um ans andere Ende zu gelangen, wo Don Abbondios Wohnung stand, aber sie erwählten diesen anderen, um nicht gesehen zu werden. Auf dem Fußsteige zwischen den Gärten und Feldern hin kamen sie bei dem Hause an, wo sie sich trennten. Die beiden Verlobten blieben hinter der Ecke desselben verborgen, Agnes mit ihnen, jedoch etwas weiter nach vorn, um zu rechter Zeit hinzuzueilen, damit sie Perpetua begegne und sich ihrer bemächtige; Tonio und der Tölpel Gervaso, der nichts von selbst anzufangen wußte und ohne den man doch nichts anfangen konnte, stellten sich dreist an die Tür und schlugen mit dem Klopfer an.

»Wer ist zu der Stunde da?« rief eine Stimme am Fenster, das in dem Augenblick aufging; es war Perpetuas Stimme. »Kranke gibt's doch nicht, daß ich wüßte. Ist denn ein Unglück geschehen?«

»Ich bin es,« erwiderte Tonio, »mit meinem Bruder, wir haben mit dem Herrn Pfarrer zu reden.«

»Ist das eine christliche Stunde,« versetzte Perpetua barsch. »Seid ihr nicht klug? Kommt morgen wieder!«

»Hört: ich komme wieder oder komme nicht wieder; ich habe gewisse Gelder einbekommen und wollte die kleine Schuld abtragen, von der Ihr wißt. Ich habe da fünfundzwanzig schöne blanke Berlinghen; aber wenn es nicht angeht, schon gut, die weiß ich unterzubringen; wenn ich einmal so viel andere beisammen habe, will ich wieder, kommen.«

»Wartet, wartet; ich bin gleich wieder da. Aber, was müßt Ihr nur zu einer solchen Stunde kommen?«

»Wenn Ihr sie ändern könnt, ich habe nichts dawider: ich bin einmal hier und wenn Ihr mich nicht haben wollt, so gehe ich.«

»Nein, nein, wartet einen Augenblick, ich hole Antwort.«

Bei diesen Worten machte sie das Fenster zu. Indem trennte sich Agnes von den Verlobten und sagte leise zu Lucia: »Mut; es ist ein Augenblick, wie man sich einen Zahn ausreißen läßt.« Und darauf trat sie zu den zwei Brüdern vor die Tür und begann mit Tonio zu plaudern, so daß Perpetua, wenn sie wiederkäme und sie da sähe, glauben sollte, sie sei gerade des Weges gegangen und Tonio habe sie einen Augenblick aufgehalten.


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