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Elftes Kapitel

Wie eine Koppel Spürhunde, nachdem sie vergebens einem Hasen nachgesetzt, kleinmütig, mit gesenkten Schnauzen und baumelnden Schwänzen zu ihrem Herrn zurückkehrt, also kehrten in jener verworrenen Nacht die Bravi nach dem Schlosse Don Rodrigos zurück. Er schritt im Dunkeln eine schlechte, unbewohnte Stube des oberen Gestocks auf und nieder, die die Aussicht nach der Ebene bot. Von Zeit zu Zeit stand er still, um zu horchen, um durch die Spalten der auseinandergegangenen Fensterladen hindurchzuspähen, voller Ungeduld und nicht ohne Unruhe, nicht allein wegen der Unsicherheit des Ausganges, sondern auch wegen der möglichen Folgen; denn dies war das Ärgste und Gewagteste, woran der Ehrenmann noch Hand gelegt hatte. Er ermutigte sich jedoch mit dem Gedanken der angewendeten Vorsicht, kein Anzeichen seiner Tat irgend zu hinterlassen.

– »Was den Argwohn betrifft, den verlache ich. Ich möchte wohl wissen, wer so lüstern wäre, hier heraufkommen und sich überzeugen zu wollen, ob ein Mädchen da ist oder nicht. Er komme nur, er komme nur, der Bauernlümmel, er soll gut empfangen werden. Er komme, der Mönch, er komme. Die Alte? Zum Geier mit der Alten! Die Gerechtigkeit? Pah, die Gerechtigkeit! Der Gerichtsvogt ist weder ein Kind noch ein Narr. Und in Mailand? Wer kümmert sich in Mailand hier um die? Wer wird ihnen Gehör geben? Wer weiß, daß sie da sind? Sie sind wie verlorene Menschen auf Erden, sie haben nicht einmal einen Herrn, gehören niemand an. Weg da, weg, nichts von Furcht! Wie wird Attilio morgen geprellt sein! Er wird sehen, er wird sehen, ob ich ein Wortheld und Prahlhans bin. Und dann ... wenn etwa Händel daraus entstehen sollten ... was weiß ich? irgendein Feind die Gelegenheit benutzen wollte ... auch Attilio wird mir zu raten wissen, die Ehre der ganzen Verwandtschaft steht auf dem Spiele.«

Der Gedanke aber, bei dem er am meisten verweilte, weil er darin zugleich eine Beschwichtigung der Zweifel und eine Nahrung der Hauptleidenschaft fand, war der Gedanke an die Schmeicheleien, die Versprechungen, die er aufbieten wollte, um sich Lucia geneigt zu machen. – »Sie wird solche Angst haben, sich hier allein zu befinden, mitten unter dem Volke, unter den Fratzen, die ... das menschlichste Angesicht hier bin ich, wahrhaftig ... sie muß wohl ihre Zuflucht zu mir nehmen, sich aufs Bitten legen; und wenn sie bittet ...«

Derweil er diese ganz guten Berechnungen anstellt, vernimmt er laute Fußtritte, er geht ans Fenster, öffnet ein wenig, streckt den Kopf vor und lauscht; sie sind's. – »Und die Sänfte! Teufel! wo ist die Sänfte? Drei, fünf, acht; sie sind es alle; auch der Graue ist dabei; die Sänfte nicht! Teufel! Teufel! Der Graue soll mir Rechenschaft ablegen!«

Als sie herein waren, lehnte der Graue in eine Ecke der unteren Stube seinen Pilgerstab, nahm Filz und Pilgermantel ab und ging, wie es sein Amt erheischte, das ihm in diesem Augenblick niemand beneidete, hinauf, um Don Rodrigo jene Rechenschaft abzulegen. Dieser erwartete ihn oben an der Treppe, und wie er ihn mit dem dummen, tölpischen Aussehen des betrogenen Schurken erscheinen sah, sagte er zu ihm oder schrie ihm zu: »Nun, Herr Eisenfresser, Herr Hauptmann, Herr – Lassen – Sie – mich – nur – machen?«

»Es ist hart,« entgegnete der Graue, mit einem Fuße auf der obersten Stufe, »es ist hart, Vorwürfe einzuernten, nachdem man treulich gearbeitet und sich bemüht, seine Pflicht und Schuldigkeit zu tun, und sogar seine Haut daran gewagt hat.«

»Wie ist's abgelaufen? Laß hören, laß hören,« sprach Don Rodrigo und schritt nach seinem Zimmer, wohin ihm der Graue folgte und sofort seinen Bericht von dem abstattete, was er angeordnet, getan, gesehen oder nicht gesehen, gehört, gefürchtet, verhütet hatte; und zwar stattete er ihn in der Ordnung und in der Verwirrung, in der Zweifelhaftigkeit und Betäubung ab, die miteinander notwendigerweise seine Vorstellungen beherrschen mußten.

»Du bist nicht schuld daran und hast dich gut aufgeführt,« sagte Don Rodrigo. »Du hast getan, was du konntest, aber ... aber, wenn unter diesem Dache ein Spion wäre! Wenn er da ist, wenn ich ihn herauskriege, und wir kriegen ihn heraus, wenn er da ist, so richte ich dir ihn zu; ich sage es dir, Grauer, ich gerbe ihn durch, daß er das Aufstehen vergißt.«

»Auch mir, Herr,« sagte dieser, »ist ein solcher Argwohn durch den Sinn gefahren; und wenn es wahr wäre, wenn man einen Schurken von dem Schlage entdeckte, so mag ihn der gnädige Herr nur in meine Hände geben. Einer, der sich das Vergnügen gemacht hätte, mich eine Nacht verbringen zu lassen wie diese, könnte von mir was erwarten! Indessen, alles wohl überlegt, glaube ich annehmen zu dürfen, daß noch irgendeine andere Verwirrung los sein muß, die man für jetzt nicht begreifen kann. Morgen, Herr, morgen wird man, was das angeht, in klares Wasser sehen.«

»Seid ihr wenigstens nicht erkannt worden?«

Der Graue antwortete, er hoffe, nicht, und der Beschluß der Unterredung war, daß Don Rodrigo ihm für morgen dreierlei anbefahl, worauf dieser auch wohl von selbst verfallen wäre: Mit dem frühesten Morgen zwei Mann abzuordnen, um dem Schulzen jene gewisse Weisung zu erteilen, was geschah, wie wir gesehen haben; zwei andere nach dem verfallenen Hause, damit sie sich in der Nähe herumtrieben, um jedweden Müßiggänger, der sich blicken ließe, davon fernzuhalten und bis zum nächsten Abend die Sänfte allen Augen zu entziehen, wo sie dann abgeholt werden sollte, sintemal man sich, um keinen Verdacht zu geben, jetzt nicht weiter rühren durfte; und endlich, selbst auf Kundschaft zu gehen und auch andere der Gewandtesten und Verschlagensten auszusenden, um von den Ursachen und dem Ausgange der Verwirrung dieser Nacht etwas zu erfahren.

Nachdem er solcherlei Befehle erteilt, ging Don Rodrigo schlafen und ließ auch den Grauen sich zur Ruhe begeben, indem er ihn mit vielen Lobsprüchen verabschiedete, durch die offenbar die Absicht hervorblickte, ihn wieder aufzurichten und ihm gewissermaßen die übereilten Beschuldigungen abzubitten, womit er ihn empfangen hatte.

»Geh, schlafe, armer Grauer, denn du mußt es nötig haben. Armer Grauer! In Tätigkeit den ganzen Tag, in Tätigkeit die halbe Nacht, ohne die Gefahr in Anschlag zu bringen, den Bauern in die Klauen zu fallen, oder auch für den Raub eines ehrbaren Mädchens noch einen Preis auf deinen Kopf gesetzt zu sehen, auf dem außerdem schon so viele stehen; und dann auf solche Weise empfangen zu werden! Aber so vergelten die Menschen des öfteren. Du hast jedoch bei dieser Gelegenheit sehen können, daß mitunter nach Verdienst gerichtet wird, und auch in dieser Welt Rechnungen ausgeglichen werden. Geh, schlafe für jetzt; eines Tages wirst du uns vielleicht einen anderen und namhafteren Beweis als diesen dafür abgeben.«

Am nächstkommenden Morgen war der Graue von neuem in voller Tätigkeit, als Don Rodrigo sich erhob. Er suchte gleich den Grafen Attilio auf, der, als er ihn erblickte, ihm eine spöttische Miene und Gebärde machte und entgegenrief: »Sankt Martin!«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll,« erwiderte Don Rodrigo, und trat auf ihn zu; »ich werde die Wette bezahlen, aber es ist nicht das, was mich am meisten wurmt. Ich hatte Euch nichts gesagt, weil, ich bekenne es, ich darauf bedacht war, Euch diesen Morgen zu verblüffen. Indessen ... genug, ich werde Euch jetzt alles sagen.«

»Es ist die Hand des Mönchs in diesem Spiel,« sagte der Vetter, nachdem er alles mit Ungewißheit, mit Erstaunen und mit größerer Ernsthaftigkeit angehört hatte, als man von einem so wunderlichen Menschen hätte erwarten sollen. »Den Mönch,« fuhr er fort, »trotzdem daß er sich so dumm anstellt und so verkehrte Reden im Munde führt, halte ich für einen Schelm und Schlaukopf. Und Ihr habt kein Vertrauen zu mir, habt mir nicht offen und gerade herausgesagt, was er Euch neulich hier hat aufbinden wollen.«

Don Rodrigo teilte ihm die Unterredung mit.

»Und das alles habt Ihr ertragen?« schrie Graf Attilio; »und habt ihn wieder gehen lassen, wie er gekommen war?«

»Wolltet Ihr, daß ich mir alle Kapuziner in Italien hätte aufsässig machen sollen?«

»Ich weiß nicht,« sagte Graf Attilio, »ob ich mich in dem Augenblicke erinnert haben würde, daß noch andere Kapuziner, als der vermessene Schurke, auf der Welt wären; aber was da! kann man denn nicht auch, nur nach den Vorschriften der Klugheit, von einem Kapuziner Genugtuung erlangen? Man muß zu rechter Zeit verstehen, die Gefälligkeit gegen den ganzen Körper zu verdoppeln, so darf man wohl ungestraft einem Gliede eine Handvoll Stockschläge reichen. Schon gut; er ist der Züchtigung entgangen, die ihm eigentlich gebührte; aber ich nehme ihn unter meinen Schutz und will die Beruhigung haben, ihn zu lehren, wie man mit unseresgleichen spricht.«

»Macht mir kein noch schlimmeres Spiel.«

»Verlaßt Euch einmal auf mich, ich werde Euch als Verwandter und Freund dienen.«

»Was gedenkt Ihr zu tun?«

»Noch weiß ich es nicht; aber ich will ihn zuverlässig bedienen, den Mönch. Ich werde es überlegen und ... der gräfliche Herr Oheim im Geheimen Rate ist derjenige, der mir diesen Dienst leisten soll. Der teure Herr Graf Oheim! Wie ergötzt es mich jedesmal, wenn ich ihn für mich beschäftigen kann, einen großen Politiker von dem Schlage! Übermorgen werde ich in Mailand sein, und auf eine oder die andere Art soll der Mönch bedient werden.«

Unterdessen kam das Frühstück an, das die Besprechung einer Sache von solcher Wichtigkeit nicht unterbrach. Graf Attilio nahm dabei kein Blatt vor den Mund, und wiewohl er den Anteil nahm, den ihm seine Freundschaft für den Vetter und die Ehre des gemeinsamen Namens je nach der Vorstellung auferlegte, die er von Freundschaft und Ehre hatte, konnte er hin und wieder doch nicht umhin, das Mißgeschick des befreundeten Verwandten ein wenig lächerlich zu finden. Don Rodrigo aber, den es eigentlich betraf, und dem es, anstatt daß er gemeint hatte, unter der Hand einen großen Schlag zu tun, so auffälligerweise fehlgeschlagen war, wurde von stärkeren Leidenschaften bewegt und von lästigeren Gedanken eingenommen.

»Eine schöne Klatscherei,« sprach er, »wird das Lumpenvolk in der ganzen Gegend daraus machen! Aber was geht's mich an? Die Gerechtigkeit verlache ich; Beweise sind nicht vorhanden, und wenn auch welche da wären, würde es mir doch gleichfalls nur zum Lachen sein; nichtsdestoweniger habe ich den Schulzen heute morgen wissen lassen, daß er sich wohl hüte, von dem Vorgefallenen Anzeige zu machen. Es würde nichts dabei herauskommen; aber das Gerede fällt mir beschwerlich, wenn es sich in die Länge zieht. Es ist schon genug, daß ich auf so schmähliche Weise angeführt worden bin.«

»Ihr habt sehr wohl daran getan,« antwortete Graf Attilio. »Dieser Euer Gerichtsvogt ... ein wahrer Starrkopf, Dummerjan und langweiliger Schwätzer von einem Gerichtsvogte ... ist denn doch ein Biedermann, ein Mann, der seine Schuldigkeit kennt; und gerade wenn man mit solchen Leuten zu tun hat, muß man zumeist besorgt sein, sie nicht in Verlegenheit zu setzen. Wenn so ein Landstreicher von einem Schulzen eine Anzeige macht, so muß der Gerichtsvogt, wie wohlgesinnt er auch immer sei, dennoch ...«

»Ihr aber,« fiel ihm Don Rodrigo, ein wenig ergrimmt ein, »Ihr verderbt mir den Handel damit, daß Ihr ihm in allem widersprecht und ihm aufs Maul schlagt, ja ihn bei Gelegenheit auch wohl zum besten habt. Zum Teufel! kann denn ein Gerichtsvogt etwa kein Dummerjan oder Starrkopf sein, wenn er übrigens nur ein Ehrenmann ist?«

»Wißt Ihr, Vetter,« sagte Graf Attilio, indem er ihn mit einem Blicke spöttischer Verwunderung ansah, »wißt Ihr wohl, daß ich anfange zu glauben, Ihr fürchtet Euch ein wenig? Ihr macht sogar aus dem Gerichtsvogte eine ernsthafte Person ...«

»Geht, geht, habt Ihr nicht selbst gesagt, daß man sich in acht nehmen muß ...?«

»Ich habe es gesagt, und wenn es sich um eine ernste Sache handelt, werde ich Euch zeigen, daß ich kein Kind bin. Wißt Ihr, was ich imstande bin, für Euch zu tun? Ich bin der Mann danach, in Person dem Herrn Gerichtsvogte einen Besuch abzustatten. Ah! wie wird der sich über die Ehre freuen? Und ich bin der Mann danach, ihn eine halbe Stunde lang vom Grafen-Herzog und unserem spanischen Herrn Kastellan reden zu lassen und ihm in allem recht zu geben, auch wenn er noch so vertracktes Zeug von ihnen vorbrächte. Ich ließe dann ein Wörtchen vom Grafen-Oheim im geheimen Rate fallen; und Ihr wißt, was diese Wörtchen im Ohre des Herrn Gerichtsvogts für Wirkung tun. Zuguterletzt hat er unseren Schutz denn doch nötiger als Ihr seine Gefälligkeit. Ich werde das ganz im Ernste tun und hingehen und machen, daß er Euch besser als je gesinnt wird.«

Nach diesen und manchen anderen ähnlichen Reden ging der Graf Attilio auf die Jagd aus und blieb Don Rodrigo in ängstlicher Spannung der Rückkehr des Grauen gewärtig. Dieser kam endlich um die Mittagsstunde, seinen Bericht abzustatten.

Der Lärm und die Verwirrung dieser Nacht war so arg gewesen, das Verschwinden dreier Personen aus einem kleinen Dorfe etwas so Erhebliches, daß der Nachforschungen, teils aus Teilnahme, teils aus Neugier, natürlicherweise vielfache, eifrige und anhaltende sein mußten, und auf der anderen Seite waren derer, die darum wußten, allzu viele, als daß sie alle hätten einig sein können, alles zu verschweigen. Perpetua konnte den Kopf nicht vor die Tür hinausstecken, ohne von diesem und jenem mit Fragen bestürmt zu werden, wer es gewesen sei, der ihrem Herrn eine solche Furcht eingejagt habe. Perpetua, die, ging sie alle Umstände des Geschehenen durch und hielt sie dieselben gegeneinander, erkannte, wie sie von Agnes angeführt worden, empfand über diese Treulosigkeit einen solchen Zorn, daß es ihr recht eigentlich ein Bedürfnis war, sich das Herz ein wenig zu erleichtern. Freilich ging sie nicht zu jedermann und klagte ihm, wie sie hinters Licht geführt worden sei; über diesen Punkt schwieg sie mäuschenstill; aber der Streich, den man ihrem armen Herrn gespielt hatte, war nicht durchaus mit Stillschweigen zu übergehen, besonders da ein solcher Streich von dem stillen Wässerchen, von dem braven Jungen, von der guten Witwe ausgedacht worden und ausgegangen war. Don Abbondio mochte ihr immerhin ernstlich anbefehlen, sie immerhin herzlich bitten, stillzuschweigen, sie wiederholte ihm immerfort, es sei gar nicht vonnöten, ihr eine so klare und natürliche Sache vorzupredigen. Ganz gewiß war es mit einem solchen Geheimnis in dem Herzen der armen Frau wie in einem alten schlecht gebundenen Fasse mit einem sehr jung aufgefüllten Wein beschaffen, der braust und brodelt und gärt, und wenn er den Spund nicht herauswirft, solchermaßen daran herumarbeitet, daß er als Schaum heraustritt und zwischen Daube und Daube durchsickert und bald hier, bald da herabtröpfelt, so daß man davon trinken und ungefähr angeben kann, was für Wein es ist. Gervaso, dem es unglaublich vorkam, daß er einmal mehr als andere wußte, dem es keine geringe Ehre dünkte, eine rechte Angst ausgestanden zu haben, der, weil er bei einer Sache beteiligt gewesen war, von der er wußte, daß sie unerlaubt sei, dafür hielt, nun ein Mensch wie die anderen geworden zu sein, kam vor Verlangen um, sich dessen zu rühmen. Und wiewohl Tonio, der ernstlich an die möglichen Verhöre und gerichtlichen Untersuchungen und an die abzulegende Rechenschaft dachte, es nicht an handgreiflichen Lehren fehlen ließ, die er ihm gab, so gelang es ihm doch in keiner Weise, ihn völlig zum Schweigen zu bringen. Übrigens konnte auch Tonio selbst, nachdem er jene Nacht zur ungewöhnlichen Stunde außer dem Hause gewesen, als er mit ungewöhnlichem Schritt und Aussehen und in einer Gemütsbewegung heimkehrte, die ihn zur Offenherzigkeit stimmte, das Geschehene nicht vor seinem Weibe verhehlen, das nicht stumm war. Wer am wenigsten ausplauderte, war Menico; denn er hatte den Eltern die Geschichte und den Gegenstand seiner Sendung nicht sobald erzählt, als es diesen eine so schreckliche Sache schien, daß ein Sohn von ihnen mit beigetragen habe, ein Vorhaben Don Rodrigos zu hintertreiben, daß sie den Knaben mit seiner Erzählung kaum zu Ende kommen ließen. Sie geboten ihm dann flugs mit den stärksten Drohungen, daß er sich wohl in acht nehme, auch nur ein Wort davon verlauten zu lassen, und da es ihnen am folgenden Morgen deuchte, sich noch nicht hinreichend sichergestellt zu haben, so entschlossen sie sich, ihn für diesen und die nächsten Tage zu Hause zu behalten. Aber wie? sie selbst, indem sie darauf mit den Leuten aus dem Dorfe schwatzten, warfen, wenn man auf den dunklen Punkt der Flucht unserer drei armen Leute und auf das Wie und Warum und Wohin zu sprechen kam, als etwas Bekanntes hin, ohne daß sie sich den Anschein geben wollten, mehr als andere davon zu wissen, daß sie nach Pescarenico geflohen. Also gelangte auch dieser Umstand zur allgemeinen Kenntnisnahme.

Aus allen diesen sodann herkömmlichermaßen zu einem Ganzen zusammengesetzten Fetzen von Nachrichten und mit der Franse, die man beim Nähen natürlicherweise daranheftet, hätte sich wohl eine Geschichte von mehr als gewöhnlicher Glaubwürdigkeit und Faßlichkeit machen lassen, die dem krittelnsten Sinne genügen mögen. Aber jener Einbruch der Bravi, ein allzu wichtiges und allzu geräuschvolles Ereignis, als daß man es dabei hätte auslassen können und wovon niemand eine irgend gewisse Kenntnis hatte, eben dies Ereignis war es, was die Geschichte am dunkelsten und verworrensten machte. Man murmelte den Namen Don Rodrigos; darin waren alle einverstanden; im übrigen war alles Dunkelheit und Uneinigkeit. Es wurde viel von den beiden Bravi gesprochen, die gegen Abend auf der Straße waren gesehen worden, und von dem anderen, der an der Tür des Wirtshauses gestanden; aber was für Licht konnte man einer so dürftigen Tatsache entnehmen? Der Wirt wurde zwar befragt, wer am vorigen Abend bei ihm gewesen sei; aber er erinnerte sich kaum noch, ob er an dem Abend irgend jemand gesehen habe und schloß immer damit, daß das Wirtshaus ein Seehafen sei. Vor allem verdrehte jener Pilger die Köpfe und machte die Vermutungen zuschanden, den Stefano und Carlandrea gesehen, jener Pilger, den die Räuber ermorden wollten, und der mit ihnen davongegangen war, oder den sie fortgeschleppt hatten. Was hatte der gewollt? Er war ein guter Geist, der zum Beistande der Frauen erschienen; er war der böse Geist eines schelmischen und trügerischen Pilgrims, der immer nachts kam, um sich dem zuzugesellen, der da ausübte, was auch der im Leben ausgeübt hatte; er war ein wirklicher und lebendiger Pilger, den jene hatten töten wollen, weil er sich anschickt, das Dorf aus dem Schlummer zu wecken; er war (sehe einer einmal, was man nicht denkt!) eben auch nur einer der Buschklepper als Pilger verkleidet; er war dieses, er war jenes, er war so vielerlei, daß alle Schlauheit und Erfahrenheit des Grauen nicht hingereicht haben würde, zu entdecken, wer er wäre, wenn der Graue diesen Teil der Geschichte sich aus den Reden anderer hätte erklären sollen. Aber, wie der Leser weiß, was sie für andere verworren machte, war für ihn gerade das klarste daran, und indem er sich dessen als Schlüssel bediente, um die anderen, von ihm unmittelbar und mittels untergeordneter Kundschafter eingesammelten Nachrichten auszulegen, vermochte er aus allem zusammen einen ziemlich deutlichen Bericht an Don Rodrigo abzufassen. Er schloß sich sogleich mit ihm ein und sagte ihm von dem Anschlag, den die armen Verlobten versucht, was auf natürliche Weise erklärte, warum sie das Haus leer gefunden und warum die Glocke geläutet worden, ohne daß man nötig hatte – wie die beiden Ehrenmänner sich ausdrückten – Verräter im Hause vorauszusetzen. Er sprach von der Flucht, und auch zu dieser war es leicht, mehr als einen Grund aufzufinden; die Furcht des bei der Tat überrumpelten Brautpaares oder etwa ein Wink, der ihnen von dem Einbruche zugekommen, nachdem er entdeckt und das Dorf in Aufruhr gesetzt worden. Er sagte endlich, daß sie nach Pescarenico geflüchtet; weiter reichte sein Wissen nicht.

Don Rodrigo freute sich, daß niemand ihn verraten, daß seine Tat keine Spuren hinterlassen habe; dies war jedoch eine rasche und leichte Freude.

»Zusammen entflohen!« rief er; »zusammen! und der Schurke von Mönch! der Mönch!« Das Wort drang heiser und verstümmelt aus der Kehle hervor; sein Anblick war häßlich wie seine Leidenschaften. »Der Mönch soll es mir entgelten. Grauer, ich bin nicht, der ich bin ... oder ich will wissen, ich will ausfinden ... diesen Abend, ich will wissen, wo sie sind. Ich habe keine Ruhe. Nach Pescarenico, geschwind, daß du herausbringst, siehst, findest ... Vier Scudi auf der Stelle und mein Schutz für immer. Diesen Abend will ich es wissen. Und der Schurke! ... der Mönch ...«

So ist denn der Graue von neuem auf dem Zeuge: und am Abend dieses nämlichen Tages konnte er seinem würdigen Schutzherrn die verlangte Nachricht überbringen, man sehe auf welche Weise.

Eine der höchsten Tröstungen dieses Lebens ist die Freundschaft, und eine der Tröstungen der Freundschaft ist es, jemand zu haben, dem man ein Geheimnis anvertrauen kann. Nun sind Freunde nicht nach Paaren abgeteilt wie Gatten; ein jeder hat, im allgemeinen gesprochen, deren mehr als einen, was eine Kette bildet, deren Ende niemand würde finden können. Wenn also ein Freund sich die Tröstung gönnt, ein Geheimnis in den Busen eines anderen niederzulegen, so macht er diesem Lust, seinerseits sich die nämliche Tröstung zu gönnen. Er ersucht ihn, es ist wahr, niemand etwas davon zu sagen, und eine solche Bedingung, wenn man sie im strengen Sinne des Wortes nähme, würde unmittelbar darauf den Lauf der Tröstungen hemmen. Aber der allgemeine Gebrauch hat gewollt, daß sie allein verpflichtet, das Geheimnis nur einem gleich getreuen Freunde unter Auferlegung derselben Bedingung zu vertrauen. Also läuft das Geheimnis von getreuem Freunde zu getreuem Freunde, die unermeßliche Kette entlang, um und um, bis es zu dem Ohre dessen oder derer gelangt, zu denen es eben niemals gelangen sollte. Es würde jedoch für gewöhnlich eine lange Weile unterwegs zu verbringen haben, wenn ein jeder nicht mehr als zwei Freunde hätte, den, der ihm die zu verschweigende Sache sagt, und den, dem er sie wiedersagt. Aber es gibt bevorrechtete Menschen, die deren Hunderte zählen, und wenn das Geheimnis einem von diesen Menschen zugekommen ist, so wird der Umlauf so vervielfältigt und beschleunigt, daß es nicht mehr möglich ist, ihm nachzufolgen. Unser Autor hat nicht ergründen können, durch wie vieler Mund das Geheimnis gegangen ist, das der Graue aufdecken sollte; ausgemacht ist es, daß der brave Mann, von dem die Frauen nach Monza gebracht worden waren, indem er mit seiner Barutsche um die Vesperstunde nach Pescarenico zurückkehrte, einem guten Freunde begegnete, ehe er noch die Schwelle des Hauses erreichte, dem er im tiefen Vertrauen das gute Werk, das er vollbracht hatte, und den Erfolg erzählte, und ausgemacht ist es, daß der Graue zwei Stunden später nach dem Burgschlosse eilen konnte, um Don Rodrigo zu hinterbringen, daß Lucia und ihre Mutter sich in ein Kloster von Monza geflüchtet hätten und Renzo seines Weges bis nach Mailand gegangen wäre.

Don Rodrigo empfand eine ruchlose Freude über diese Trennung und gab sich der ruchlosen Hoffnung hin, sein Ziel zu erreichen. Er dachte an die Art und Weise während eines großen Teils der Nacht und stand frühzeitig mit zwei Vorhaben, einem beschlossenen und einem entworfenen, auf. Das erste war, alsbald den Grauen nach Monza abzufertigen, um bestimmtere Nachricht von Lucia zu erlangen und zu erfahren, ob man etwas und was man unternehmen könnte. Er ließ darum ungesäumt diesen seinen Getreuen rufen, händigte ihm die vier Scudi ein, lobte ihn wiederholt wegen der Gewandtheit, womit er sie verdient, und gab ihm den Befehl, den er vorbedacht hatte.

»Herr ...« sagte der Graue zögernd.

»Was? Habe ich nicht deutlich gesprochen?«

»Wenn Sie jemand anders schicken könnten ...«

»Wie?«

»Gnädigster Herr, ich bin bereit, meine Haut für meinen Beschützer zu lassen; es ist meine Schuldigkeit; aber ich weiß auch, daß Sie das Leben Ihrer Untertanen nicht allzusehr bloßstellen wollen.«

»Nun?«

»Ihre hochgeborene Gnaden wissen von den paar Preisen, die auf meinen Kopf gesetzt sind; und ... hier bin ich unter dem Schutze von Ihrer Gnaden; wir sind unser eine Rotte; der Herr Gerichtsvogt ist ein Freund des Hauses, die Häscher haben Respekt vor mir; und auch ich ... es ist etwas, das nicht eben zur Ehre gereicht, aber um Ruhe und Friedens willen ... gehe freundschaftlich mit ihnen um. In Mailand ist Ihrer Gnaden Livree bekannt; aber in Monza ... bin dagegen ich bekannt. Und wissen Ihre Gnaden, daß, ich sage es nicht, um mich zu rühmen, wer mich der Gerechtigkeit überantworten oder meinen Kopf abliefern könnte, einen schönen Schlag machte? Hundert Scudi nebeneinander aufgezählt und die Befugnis, zwei Verbannte frei zu machen.«

»Was der Teufel!« sprach Don Rodrigo, »kommst du mir nicht jetzt wie ein Bauernhund vor, der kaum das Herz hat, dem, der an der Tür vorübergeht, zwischen die Beine zu fahren, indem er sich dabei noch umsieht, ob ihm die Leute im Hause auch beistehen, und sich nicht getraut, sich vier Schritte weit zu entfernen!«

»Ich glaube doch, gnädiger Herr, daß ich Beweise gegeben habe ...«

»Nun denn!«

»Nun denn,« fuhr der so gereizte Graue mit Keckheit fort, »so nehmen Ihre Gnaden an, daß ich nichts gesagt habe; löwenherzig, hasenfüßig, so bin ich bereit aufzubrechen.«

»Und ich habe nicht gesagt, daß du allein gehen sollst. Nimm ein Paar von den besten mit dir ... die Schmarre und den Treffer, und gehe guten Muts und sei der Graue. Der Teufel auch! Wenn drei Kerle wie ihr ruhig ihre Straße ziehen, wer soll was dawider haben, sie ziehen zu lassen. Die Häscher von Monza müßten des Lebens recht satt geworden sein, um es wegen hundert Scudi auf ein so bedenkliches Spiel zu setzen. Und überdies glaube ich denn doch nicht, dort so unbekannt zu sein, daß man jemandes Eigenschaft als mein Diener für gar nichts mit in Anschlag brächte.«

Nachdem er den Grauen also ein wenig beschämt hatte, gab er ihm noch fernere und genauere Weisungen. Der Graue nahm die beiden Gesellen, zog mit heiterer und verwegener Miene ab, wiewohl er im innersten Herzen Monza und die Prämien und die Frauen und die Grille des Schutzherrn verwünschte, und strich wie der Wolf umher, der, vom Hunger angetrieben, mit eingeschrumpftem Bauche, die Furchen des Rippenbaues auf dem aschgrauen Felle ausgeprägt, von seinen Bergen herabsteigt, wo lauter Schnee ist, argwöhnisch in der Ebene vordringt, einmal übers andere mit aufgehobener Tatze stehen bleibt, den enthaarten Schwanz hin und her bewegend

die Schnauz' aufwirft, im schwachen Winde schnüffelnd,

wenn er ihm etwa die Witterung von Menschen oder Eisen zuführt, die spitzen Ohren dahin richtet und zwei blutige Augen rollt, aus denen zugleich die Gier nach Raub und die Angst vor der Jagd hervorleuchtet. Der schöne Vers übrigens, wer etwa wissen möchte, woher er genommen, ist aus einer noch ungedruckten Teufelei von allerhand Grillen und Lombardismen, die bald nicht mehr ungedruckt sein und ein schönes Aufsehen machen wird; ich habe ihn entlehnt, weil er mir gerade paßte, und woher ich ihn habe, sage ich, um mich nicht mit fremden Federn zu schmücken; doch denke niemand deshalb, dies sei ein Kunstgriff von mir, um etwa zu verstehen zu geben, daß der Verfasser dieser Teufelei und ich wie Brüder seien, und daß ich nach Gefallen in seinen Handschriften herumstöbere.

Die andere Kabale Don Rodrigos betraf die Art und Weise, wie Renzo, nachdem er sich von Lucia getrennt hatte, abzuhalten wäre, ihr wieder zunahe zu kommen oder wieder einen Fuß ins Dorf zu setzen. Er nahm sich vor, Gerüchte von Drohungen und Nachstellungen aussprengen zu lassen, die, indem irgendein Freund sie ihm hinterbrächte, ihm die Lust benähmen, in die Gegend zurückzukehren. Er dachte jedoch, das sicherste werde sein, wenn es sich irgend anstellen lasse, ihn aus dem Lande zu vertreiben; und um dies durchzusetzen, fühlte er, daß ihm bei weitem mehr als die Gewalt die Gerechtigkeit dürfte dienen können. Man könnte z. B. dem in dem Pfarrhause ausgeführten Anschlag eine gewisse Auslegung geben, ihn als einen Überfall, als eine Meuterei darstellen, und vermittelst des Doktors dem Gerichtsvogt eingeben, wie dieser Fall dazu geeignet sei, einen scharfen Verhaftsbefehl gegen Renzo zuwege zu bringen. Aber der Beratschlager fühlte gleich, daß es ihm nicht anstand, den unsauberen Handel einzurichten; und ohne sich weiter den Kopf zu zerbrechen, beschloß er, sich dem Doktor Notverhelfer insoweit zu eröffnen, als notwendig wäre, ihm seinen Wunsch begreiflich zu machen.

»Der Strafgebote sind so viele,« dachte Don Rodrigo, »und der Doktor ist kein Gimpel; irgend etwas wird er doch auffinden können, das meinem Falle zunutze kommt, zu irgendeiner Not wird er doch dem nichtsnutzigen Lump verhelfen; sonst lege ich ihm einen anderen Namen bei.«

Aber – wie es doch je zuweilen mit den Händeln dieser Welt hergeht! – derweil er an den Doktor als an denjenigen dachte, der am geeignetsten war, ihm hierin zu dienen, strengte sich ein anderer, einer, den niemand erraten würde, Renzo selbst, um es herauszusagen, was er konnte, an, ihm auf eine weit sichere und schnellere Weise zu dienen, als der Doktor jemals hätte ersinnen können.

Ich habe mehr als einmal einen lieben Jungen gesehen, der, die Wahrheit zu bekennen, aufgeweckter als nötig ist, aber allen Anzeichen nach ein tüchtiger Mann werden zu wollen scheint; ich habe ihn des öfteren, sage ich, damit umgehen sehen, eine ihm zugehörige Herde Meerschweine, die er den Tag über in einem Gärtchen hatte umherstreifen lassen, des Abends unter Dach und Fach zu treiben. Er hätte sie mögen alle mit einmal aufs Lager bringen; aber es war vergebene Mühe; eins machte sich rechts ab von dannen, und indem der kleine Hirt nachlief, um es wieder zu dem Haufen zu jagen, sonderte sich ein anderes, zwei, drei links, nach allen Seiten hin, ab, so daß, nachdem er ein wenig ungeduldig geworden war, er sich nach ihnen bequemte, vorerst die hineintrieb, die dem Eingange am nächsten waren, und dann hinlief und die anderen, eins, zwei, drei auf einmal nahm, wie es sich eben machte. Ein ähnliches Spiel finden wir uns genötigt mit unseren Personen vorzunehmen: nachdem Lucia untergebracht, haben wir uns zu Don Rodrigo gewendet; und jetzt müssen wir ihn verlassen, um Renzo abzufertigen, der sich uns vorstellt.

Nach dem schmerzhaften Scheiden, von dem wir erzählt haben, wanderte er von Monza gen Mailand, so gemutet, wie ein jeder sich leicht einbilden kann. Von Hause, und was noch mehr ist, von der Heimat, und was noch mehr ist, von Lucia sich zu entfernen! sich unterwegs zu befinden, ohne zu wissen, wo das Haupt zur Ruhe niederlegen, und alles um des Schurken willen! Wenn diese Vorstellung in Renzos Einbildungskraft aufstieg, versank er ganz und gar in Wut und Rachedurst; aber dann kam ihm wieder jenes Gebet in den Sinn, das auch er seinem guten Klosterbruder in der Kirche von Pescarenico nachgesprochen hatte, und er sah seinen Fehler ein; er geriet abermals in Zorn; aber da sah er ein Heiligenbild auf der Mauer, zog den Hut und blieb einen Augenblick stehen, um von neuem zu beten; so daß er auf dieser Reise Don Rodrigo wenigstens zwanzigmal in seinem Herzen gemordet und wieder auferweckt hatte.

Die Straße war eben zwischen zwei hohen Uferwänden ganz vergraben, kotig, steinig, von tiefen Fahrgleisen gefurcht, die nach einem Regen Gossen wurden und, wo ihr Bett die Wässer nicht faßte, völlig überschwemmt und in einen Tümpel verwandelt und fast ungangbar. An solchen Stellen zeigte ein schmaler stufenförmiger steiler Fußpfad, die Uferwand empor, an, daß andere Wanderer sich einen Weg in die Felder gebahnt hätten. Renzo klomm an einem dieser Durchgänge zu dem höheren Erdreiche hinauf, schaute vor sich hin, sah das große Gebäude des Domes allein in der Ebene, gleich als ob es nicht aus dem Mittelpunkte einer Stadt, sondern aus einer Wüste aufragte, und blieb, all seines Leides vergessend, stehen, um auch aus der Ferne dieses achte Wunderwerk zu betrachten, von dem er von Kindheit an so viel sprechen gehört hatte. Indem er sich aber nach einigen Augenblicken zurückwandte, gewahrte er am Horizont jene ausgezackte Kette von Bergen, sah deutlich und hoch darunter seinen Resegone, fühlte sein Blut ganz in Wallung geraten, starrte eine Weile trübsinnig nach dieser Gegend, drehte sich dann traurig wieder um und setzte seinen Weg fort. Nach und nach begann er darauf Türme und Kirchspitzen und Kuppeln und Dächer zu entdecken; er stieg nun auf die Straße hinab, schritt noch eine Wette fort, und als er wahrnahm, daß er der Stadt ziemlich nahe war, trat er auf einen Wandersmann zu, vor dem er sich, so höflich er konnte, verneigte und sagte:

»Mit Verlaub, mein Herr.«

»Was wollt Ihr, guter junger Mensch?«

»Könnten Sie mir wohl den kürzesten Weg angeben, auf dem man zu dem Kapuzinerkloster kommt, worin Pater Bonaventura ist?«

Der Mann, an den Renzo sich wandte, war ein wohlhabender Bewohner der Umgegend, der, diesen Morgen in Geschäften nach Mailand gegangen, unverrichtetersache in großer Elle zurückkehrte, und da er kaum die Zeit erwarten konnte, wieder zu Hause anzukommen, dieses Aufenthalts gern entübrigt gewesen wäre. Bei alledem antwortete er, ohne ein Zeichen von Ungeduld kundzugeben, sehr willfährig:

»Lieber Sohn, es gibt hier der Klöster mehr als eins; Ihr müßtet mir genauer angeben können, welches Ihr eigentlich sucht.«

Renzo zog nunmehr den Brief des Paters Cristoforo aus dem Busen und wies ihn dem Herrn, der, nachdem er darauf gelesen: am Tore Orientale, ihm denselben mit den Worten zurückgab: »Es trifft sich glücklich für Euch, guter junger Mensch; das Kloster, das Ihr sucht, ist unsern von hier. Schlagt diesen Fußpfad zur Linken ein, es ist ein Richtweg; nicht lange, so werdet Ihr ein langes und niedriges Gebäude zur Seite haben, es ist das Lazarett; geht längs des Baches hin, der es einschließt, und Ihr werdet zu dem Tore Orientale gelangen. Ihr geht da hinein, und nach drei- oder vierhundert Schritten wird sich ein kleiner Platz mit schönen Ulmenbäumen vor Euch auftun; dort steht das Kloster, so daß man es nicht verfehlen kann. Gott stehe Euch bei, guter junger Mensch.«

Und indem er die letzten Worte mit einer freundschaftlichen Handbewegung begleitete, ging er weiter.

Renzo verblieb über die Artigkeit der Städter gegen Landleute erstaunt und davon erbaut und wußte nicht, daß dies ein außergewöhnlicher Tag, ein Tag war, an dem die Mäntel sich vor den Jacken demütigten. Er ging des Weges, auf den er gewiesen war, und befand sich am Tore Orientale.

Der Leser darf sich indessen bei dem Namen die Vorstellungen, die jetzt damit verbunden sind, nicht in Gedanken kommen lassen. Die breite, gerade mit Pappeln besetzte Straße außerhalb; der weite Raum zwischen zwei vielversprechenden Neubauten; beim ersten Eintritt die beiden Seitenaufgänge zum Glacis der mit Bäumen umsäumten geschleiften Basteien; der Garten zur einen Seite, weiterhin rechts und links die Paläste an der Hauptstraße der Vorstadt.

Als Renzo durch das Tor eintrat, lief die Straße außerhalb gerade an der ganzen Länge des Lazaretts hin, was zu jener Zeit nicht anders anging und wand sich dann schräg und eingeengt zwischen zwei Hecken hindurch. Das Tor bestand aus zwei Pfeilern mit einem Wetterdache darüber, zum Schutze der Flügel, und auf der einen Seite befand sich ein niedriges Häuschen für die Zöllner. Die Mündung der Basteien war ein ungleichförmiger Abhang und der Fußboden eine rauhe und unebene Fläche von durcheinandergeworfenem Schutt und Scherben. Die Straße der Vorstadt, welche sich vor dem durch dieses Tor Eintretenden eröffnete, dürfte wohl derjenigen nicht Übel zu vergleichen gewesen sein, die man jetzt vor sich hat, wenn man durch das Tosator hereinkommt. Ein kleiner Bach lief mitten hindurch bis auf ein paar Schritte weit vom Tore und teilte sie also in zwei kleine gekrümmte, je nach der Jahreszeit mit Staub oder dünnem Schlamm bedeckte Wege. Da, wo die elende Gasse, genannt di Borghetto, war und noch immer ist, ergoß sich der kleine Bach in eine stinkende Kloake und durch dieselbe in das andere Flüßchen, das die Mauern bespült. Hier stand eine Säule mit einem Kreuze darauf, genannt die des heiligen Dionys; rechts und links waren mit Hecken umschlossene Küchengärten und hin und wieder ärmliche, meist von Wäschern bewohnte Hütten.

Renzo tritt ein, geht hindurch; keiner von den Zöllnern tut gegen ihn den Mund auf; was ihm etwas Großes dünkte, weil er von den wenigen Leuten seines Dorfes, die sich rühmen konnten, in Mailand gewesen zu sein, von den Fragen und Untersuchungen hatte Wunder erzählen hören, denen hier ausgesetzt wäre, wer von außen hereinkäme. Die Straße war öde, so daß er geglaubt haben würde, eine verlassene Stadt zu betreten, wenn er nicht ein ferneres Summen gehört hätte, das eine große Bewegung verriet. Indem er vorwärts schritt, ohne zu wissen, was er denken solle, ward er auf dem Pflaster gewisse weiße Streifen gewahr, als wäre es Schnee; aber Schnee konnte es nicht sein, denn er fällt nicht in Streifen und für gewöhnlich nicht zu der Jahreszeit. Er machte sich an einen davon, beschaute, berührte ihn und war im klaren, daß es Mehl sei.

»Ein großer Überfluß,« sprach er bei sich, »muß in Mailand sein, wenn man die Gottesgabe hier auf solche Weise vergeudet. Es hieß doch, daß die Teuerung allerwärts wäre. Da sieht man, wie sie es machen, um die armen Leute auf dem Lande zu beschwichtigen.«

Aber nach wenigen ferneren Schritten in die Nähe der Säule gelangt, sah er am Fuße derselben etwas noch Seltsameres; er sah auf die Stufen des Fußgestelles gewisse Dinge verstreut, die ganz gewiß keine Kieselsteine waren und die er, wen« sie in einem Bäckerladen gelegen hätten, nicht einen Augenblick angestanden haben würde, Brote zu nennen. Aber Renzo wagte nicht sobald seinen Augen zu trauen; denn der Tausend! das war doch der Ort nicht danach, Brote aufzubewahren.

– »Wir wollen einmal sehen, was das heißt« – sagte er wieder zu sich, trat zu der Säule hin, bückte sich, nahm eins auf; es war wahrhaftig ein rundes, so weißes Brot, wie Renzo nur an Festtagen zu verzehren pflegte.

– »Es ist in der Tat Brot!« sagte er laut; so groß war seine Verwunderung; – »säet man es hier zu Lande so aus, heuer? Und es gibt sich einer nicht einmal die Mühe, es aufzuheben, wenn es fällt? Ist denn das hier das Schlaraffenland?«

Nach zehn Miglien Weges in der frischen Morgenluft machte, gleich nach der Verwunderung, das Brot seine Eßlust rege.

– »Nehme ich es?« überlegte er bei sich; »pah! sie haben es hier den Hunden preisgegeben, so wird doch wohl auch ein Christenmensch davon essen dürfen. Und am Ende, käme ja der Eigentümer noch dazu, bezahle ich's ihm.« – Indem er so dachte, steckte er dasjenige, welches er schon in der Hand hielt, in eine Tasche ein, nahm ein anderes und steckte es in die andere, ein drittes und begann zu essen, und machte sich wieder auf den Weg, zweifelhafter als vorher und begierig zu erfahren, was es damit auf sich habe.

Kaum von der Stelle, sah er aus dem Innern der Stadt Leute zum Vorschein kommen und faßte die ersten, die sich zeigten, aufmerksam ins Auge. Es war ein Mann, ein Weib und einige Schritte hinterdrein ein Knabe, alle drei mit einer Last auf dem Rücken, die über ihre Kräfte zu sein schien und alle drei von seltsamem Aussehen. Die Kleider oder die Lumpen voller Mehl, die Gesichter voller Mehl, und überdies noch verzerrt und erhitzt; der Gang nicht nur von der Last erschwert, sondern auch schmerzvoll, wie von zerquetschten und zerstoßenen Gliedern. Der Mann schleppte nur mühsam einen großen Sack voll Mehl auf der Schulter fort, der, hier und da durchlöchert, bei jedem Anstoße, bei jeder das Gleichgewicht störenden Bewegung etwas davon herausfallen ließ. Noch absonderlicher war indessen das Aussehen der Frau; ein unförmlich dicker Leib und zwei ausgebreitete Arme, die ihn kaum zu erhalten schienen und zweien vom Halse bis zum Bauche niedergekrümmten Handhaben eines gewaltigen Gefäßes gleich sahen, und unter diesem Wanste hervor gingen zwei bis über die Knie nackte Beine, die vorwärts wankten. Renzo blickte scharf hin und sah, daß der große Leib der Unterrock war, den die Frau aufgenommen trug, mit so vielem und sogar ein wenig mehr Mehl darinnen, als er fassen konnte; so daß auch von Zeit zu Zeit etwas Staubmehl sich davon verflüchtigte. Der Knabe trug mit beiden Händen einen mit Broten angehäuften Korb auf dem Kopfe; aber weil er kürzere Beine als seine Eltern hatte, blieb er immer nach und nach zurück, und wenn er dann jedesmal in Trab geriet, um sie wieder einzuholen, kam der Korb aus der Lage und es fielen einige Brote heraus.

»Wirf noch eins heraus, du garstiger Tölpel! ...« sagte die Mutter und fletschte die Zähne nach dem Jungen.

»Ich werfe sie nicht heraus, sie fallen von selbst. Wie soll ich es denn machen?« versetzte jener.

»I, gut für dich, daß ich die Hände voll habe,« hob die Frau wieder an, die Fäuste rührend, als ob sie dem Ärmsten einen Ausputzer gäbe; und mit der Bewegung verschüttete sie eine Wolke von Mehl, aus der man hätte mehr als die zwei Brote machen können, die der Knabe eben hatte fallen lassen.

»Zu, zu,« sagte der Mann; »wir kehren wieder und lesen sie auf, oder irgendein anderer liest sie auf. Es ist schon so lange her, daß wir darben müssen; jetzt, da uns ein bißchen Überfluß zukommt, laßt ihn uns in Ruhe und Frieden genießen.«

Währenddessen kamen Leute von außen her und einer derselben trat auf die Frau zu und fragte sie:

»Wo holt man denn das Brot her?«

»Immer zu, immer zu,« erwiderte sie; und als sie zehn Schritte entfernt waren, fügte sie brummend hinzu: »Die Bauernlümmel werden noch alle Backöfen und alle Vorratskammern ausräumen, daß nichts mehr für uns übrig bleibt.«

»Jedwedem etwas, Plappermaul,« sagte der Mann. »Überfluß, gute Zeiten.«

Aus diesem und ähnlichem, was Renzo sah und hörte, begann er abzunehmen, daß er in eine empörte Stadt gelangte, und dies ein Tag der Eroberung sei, wo nämlich ein jeder nach Belieben und Kräften zugreift und mit Prügeln bezahle. Wie sehr wir nun auch wünschen möchten, unseren armen Gebirgsbewohner eine gute Rolle spielen zu lassen, so zwingt uns doch die historische Treue, zu sagen, daß seine erste Empfindung dabei Wohlgefallen war. Er hatte so wenig Grund, mit dem gewöhnlichen Laufe der Dinge zufrieden zu sein, daß er sich geneigt fühlte, zu billigen, was denselben, gleichviel wie, verändere. Und im übrigen auch lebte er, der kein über seinem Zeitalter stehender Mann war, der gewöhnlichen Meinung oder der leidenschaftlichen Ansicht, daß der Brotmangel von den Aufkäufern und Bäckern erregt worden, und hielt gern jeden Weg für recht, auf dem ihnen die Nahrungsmittel aus den Händen zu reißen wären, die sie, jener Meinung nach, unbarmherzigerweise der Hungersnot eines ganzen Volkes vorenthielten. Dennoch nahm er sich vor, sich nicht in den Tumult einzulassen und war froh, auf dem Wege zu einem Kapuziner zu sein, der ihm eine Zuflucht und guten Rat gewähren würde. Unter solchen Gedanken betrachtete er mittlerweile die neuen Eroberer, die mit Beute beladen erschienen und legte den kurzen Weg zurück, der ihm noch übrig war, um das Kloster zu erreichen.

Wo sich jetzt der schöne Palast mit der hohen Galerie erhebt, war damals und noch vor nicht vielen Jahren ein kleiner Platz und am Ende desselben die Kirche und das Kloster der Kapuziner, mit vier großen Ulmen davor. Wir wünschen nicht ohne Neid denjenigen unserer Leser Glück, die diesen Zustand der Dinge nicht gesehen, das will sagen, die noch sehr jung sind und keine Zeit gehabt haben, viel dumme Streiche zu begehen. Renzo ging gerade auf die Pforte zu, schob das halbe Brot, das er übrig hatte, wieder in den Busen, langte den Brief hervor und hielt ihn in der Hand bereit und zog die Glocke. Es öffnete sich ein Pförtchen, das vergittert war und zeigte sich das Antlitz des Bruders Pförtner, um zu fragen, wer da sei.

»Einer vom Lande, der dem Vater Bonaventura einen dringenden Brief vom Pater Cristoforo bringt.«

»Gebt her,« sagte der Pförtner und steckte die Hand durchs Gitter.

»Nein, nein,« sagte Renzo, »ich habe ihn in seine eigenen Hände zu übergeben.«

»Er ist nicht im Kloster.«

»Lassen Sie mich ein, so will ich ihn erwarten,« erwiderte Renzo.

»Folgt meinem Rate,« versetzte der Bruder, »und geht und erwartet ihn in der Kirche, Ihr könnt indessen dort ein wenig fromm sein. In das Kloster darf für jetzt niemand.«

Dies gesagt, verschloß er das Pförtchen wieder.

Renzo blieb mit seinem Briefe in der Hand verdutzt stehen. Er tat etwa zehn Schritte nach der Kirchentür zu, um den Rat des Pförtners zu befolgen; aber dann dachte er vorerst doch noch einmal nach dem Aufruhr hinzusehen. Er ging über den kleinen Platz weg, trat an den Eingang der Straße, und mit über der Brust verschränkten Armen blieb er stehen, um links hin nach dem Innern der Stadt zu schauen, wo das Gewühl dichter und lärmender war.

Der Strudel ergriff den Zuschauer.

– »Wir wollen doch ein wenig zusehen« – dachte er; zog das Brot von neuem hervor und brach, kauend, dahin auf. Derweil er unterwegs ist, gedenken wir möglichst kurz die Ursachen und Anfänge der Zerrüttung zu erzählen.


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