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Viertes Kapitel

Die Sonne war noch nicht ganz am Horizonte aufgegangen, als der Pater Cristoforo aus seinem Kloster in Pescarenico trat, um nach dem Häuschen hinaufzugehen, wo er erwartet wurde. Pescarenico ist ein Dorf auf dem linken Ufer der Adda, oder wir wollen sagen des Sees, wenige Schritte unterhalb der Brücke; eine kleine Häusergruppe, meist von Fischern bewohnt, und hier und da mit zum Trocknen ausgespannten Netzen und Garnen geschmückt. Das Kloster, dessen Gebäude noch heute steht, lag außerhalb, dem Eingange des Dorfes gegenüber, auf halbem Wege von Lecco nach Bergamo. Der Himmel war ganz klar, je höher die Sonne hinter dem Berge aufstieg, desto mehr sah man von den Gipfeln der gegenüberliegenden Höhen ihr Licht sich herniedersenken, wie um sich reißend schnell den Abhängen entlang und im Tale zu verbreiten; ein kühler Herbstwind streifte die welken Blätter von den Zweigen des Maulbeerbaumes und wehte sie einige Schritte weit von dem Stamme zur Erde. Rechts und links, in den Weinbergen, an den noch angebundenen Reben glänzten die in mannigfacher Schattierung rötlich gefärbten Blätter; und die frischbestellten Äcker stachen braun und scharf von den weißlichen, in dem nassen Tau schimmernden Stoppelfeldern ab. Der Schauplatz war heiter; aber jede menschliche Gestalt, die sich darauf bewegte, trübte den Blick und die Gedanken. Man begegnete unaufhörlich abgezehrten und zerrissenen Bettlern, entweder in ihrem Gewerbe ergraut, oder damals erst von der Not angetrieben, die Hand auszustrecken. Sie wandelten still an dem Pater Cristoforo vorbei, blickten ihn andächtig an, und wiewohl sie von ihm nichts zu hoffen hatten, denn ein Kapuziner nahm niemals Geld in die Hand, verneigten sie sich doch vor ihm aus Dankbarkeit für das Almosen, das sie im Kloster erhalten hatten, oder noch holen wollten. Der Anblick der einzelnen Arbeiter in den Feldern hatte, ich weiß nicht was, noch Schmerzhafteres. Einige warfen dünn und spärlich und wider Willen Samen aus, wie jemand, der etwas wagt, woran ihm allzuviel gelegen ist; andere führten mühsam das Grabscheit und wälzten die Scholle mit Unlust um. Das abgezehrte kleine Mädchen, das die junge, magere, dürre Kuh am Stricke auf der Weide hielt, gab fleißig acht und bückte sich geschwind, um ihr zur Nahrung für die Seinigen irgendein Kraut wegzustehlen, das, wie der Hunger gelehrt, die Menschen auch genießen konnten. Diese Eindrücke erhöhten bei jedem Schritte die Schwermut des Bruders, der schon mit dem bangen Vorgefühle im Herzen seines Weges ging, er werde irgendein Unglück zu vernehmen haben.

Aber warum nahm er sich Luciens so sehr an? Warum war er gleich auf die erste Nachricht so eilfertig aufgebrochen, wie auf einen Ruf des Paters Provinzial? Und wer war dieser Pater Cristoforo? Allen diesen Fragen ist zu genügen.

Pater Cristoforo aus *** war ein Mann, den Sechzigern näher als den Fünfzigern. Sein geschorenes Haupt, nach Kapuzinersitte nur in der Mitte von einem schmalen Strich Haare wie von einer Krone umgeben, erhob sich von Zeit zu Zeit mit einer Gebärde, die eine gewisse Unruhe und einen gewissen Hochmut durchscheinen ließ, doch senkte es sich sogleich in demutvoller Betrachtung. Der lange graue Bart, der ihm Wangen und Kinn bedeckte, hob noch mehr die erhabenen Formen des oberen Teiles des Gesichtes hervor, denen eine schon seit geraumer Zeit zur Gewohnheit gewordene Enthaltsamkeit weit mehr an Ernst beigelegt als an Ausdruck entzogen hatte. Zwei ausgehöhlte Augen waren meist zur Erde geneigt; blitzten aber zuweilen mit plötzlicher Lebendigkeit auf, wie zwei hitzige, von der Hand eines Kutschers gelenkte Rosse, die diese, wie sie aus Gewohnheit wissen, nicht überwältigen können, wiewohl sie einmal über das andere einen Sprung tun, den sie sofort mit einem tüchtigen Ruck ins Gebiß entgelten müssen.

Pater Cristoforo war nicht immer so und nicht immer Cristoforo gewesen; sein Taufname war Ludovico. Er war der Sohn eines Kaufmannes zu *** – diese Sternchen rühren alle von der Behutsamkeit meines Anonymus her – der in seinen letzten Tagen, da er sich zur Genüge mit Gütern versehen fand und nur diesen einzigen Sohn besaß, den Handel aufgegeben und angefangen hatte, als vornehmer Herr zu leben.

In seinem neuen Müßiggange begann dann ein großes Schamgefühl über all die Zeit, die er damit hingebracht, in dieser Welt etwas zu tun, ihm in die Glieder zu schlagen.

Von dieser Grille beherrscht, strebte er auf alle Weise, vergessen zu machen, daß er Kaufmann gewesen sei; er hätte gewünscht, es selbst vergessen zu können. Aber Kaufladen, Ballen, Journal, Elle kamen ihm immerdar, wie Banquos Schatten Macbeth, sogar während der Freuden der Tafel und des Lächelns der Schmarotzer ins Gedächtnis. Und es ist unglaublich, mit welcher Sorgfalt diese Armen ein jedes Wort vermeiden mußten, das auf den ehemaligen Stand des Gastgebers hätte anspielen können. Eines Tages, um nur ein Beispiel zu erzählen, eines Tages, gegen das Ende der Tafel hin, in den Augenblicken der lebhaftesten und reinsten Fröhlichkeit, da man nicht würde haben sagen können, wer vergnügter sei, ob die Gäste, daß sie die Schüsseln leerten, oder ob der Wirt, daß er sie hatte füllen lassen, stichelte dieser eben mit freundschaftlicher Überlegenheit auf einen der Tischgenossen, den stärksten Esser von der Welt. Auf den Scherz eingehend, erwiderte dieser, doch auch nicht mit der allerleisesten Bosheit, sondern recht eigentlich so harmlos wie ein Kind: »Ei, ich denke wie das Sprichwort: Manches, was der Kaufmann weiß, macht ihn darum doch nicht heiß.«

Er selbst ward auf der Stelle von dem Klange des Wortes, das ihm aus dem Munde gefahren, betroffen; er sah mit ungewissem Blicke den Hausherrn an, dessen Gesicht sich umwölkt hatte; einer wie der andere hätte gern die vorige Miene wieder angenommen; aber es war unmöglich. Die anderen Tischgäste überlegten, ein jeder bei sich, wie das kleine Ärgernis wieder gutzumachen, und etwas anderes aufs Brett zu bringen sei; aber indem sie überlegten, schwiegen sie still, und in diesem Stillschweigen wurde das gegebene Ärgernis desto anstößiger. Ein jeder vermied die Blicke der anderen; ein jeder fühlte, daß alle mit dem Gedanken beschäftigt waren, den sie verheimlichen wollten. Die Freude war für diesen Tag dahin, und der arme Unbedachte, oder um mehr mit Gerechtigkeit zu sprechen, Unglückliche, erhielt keine Einladung wieder.

Also verbrachte Ludovicos Vater seine letzten Lebensjahre in unaufhörlicher Angst, indem er immer fürchtete verspottet zu werden, und nimmer bedachte, daß verkaufen nicht lächerlicher als kaufen ist, und daß er das Gewerbe, dessen er sich damals schämte, doch so viele Jahre lang vor aller Welt unbedenklich ausgeübt hatte. Seinen Sohn ließ er im Geiste der Zeit, und so weit Gesetze und Herkommen es ihm gestatteten, vornehm erziehen; gab ihm Lehrer in den Wissenschaften und ritterlichen Übungen, und hinterließ ihn jung und reich, als er starb. Ludovico hatte ein adliges Betragen angenommen und die Schmeichler, unter denen er aufgewachsen, hatten ihn daran gewöhnt, sich mit großer Achtung behandelt zu sehen. Als er sich aber unter die Vornehmen seiner Stadt mischen wollte, fand er etwas ziemlich Verschiedenes von dem, woran er gewöhnt war, und er sah ein, daß, um in ihrer Gesellschaft zu leben, wie er gewünscht hätte, er nicht umhin konnte, eine neue Schule der Geduld und Unterwürfigkeit durchzumachen, immerfort den kürzeren zu ziehen und in jedem Augenblick etwas hinunterzuschlucken. Eine solche Lebensweise vertrug sich weder mit Ludovicos Erziehung noch mit seiner Natur. Er zog sich erbittert von ihnen zurück. Aber dennoch hielt er sich ungern von ihnen entfernt, denn es deuchte ihm, daß diese in der Tat seine Gefährten sein müßten; nur allein geschmeidiger hätte er sie gewünscht. Bei diesem Gemisch nun von Neigung und Haß, ohne vertraulich mit ihnen verkehren zu können, und doch willens, auf irgendeine Art mit ihnen zu schaffen zu haben, hatte er sich angelassen, in Pracht und Aufwand mit ihnen zu wetteifern, und machte sich also mutwillig Ungelegenheiten, indem er sich Feindschaft, Neid und Spott für sein bares Geld einkaufte.

Seine zugleich redliche, aber heftige Sinnesart hatte ihn dann mit der Zeit in einen anderen ernsteren Wettstreit verwickelt. Er empfand einen natürlichen und aufrichtigen Abscheu vor Bedrückungen und Mißbräuchen, einen Abscheu, der in ihm durch die Beschaffenheit der Personen, die deren täglich mehr verschuldeten, noch lebhafter wurde, weil sie eben diejenigen waren, die er haßte. Um alle diese Leidenschaften auf einmal zu beschwichtigen, oder ihnen zu frönen, ergriff er bereitwillig die Partei eines schwachen Unterdrückten, unternahm es, einen Übeltäter in Zucht zu halten, schlug sich in einem Zwiste ins Mittel, bürdete sich einen anderen auf; dergestalt, daß er nach und nach sich zum Beschützer der Unterdrückten und zum Rächer der Unbill machte. Das Amt war ein beschwerliches, und es stand nicht in Frage, ob der arme Ludovico Feinde, Anfechtungen und Sorgen hatte. Nächst dem äußeren Kriege war er auch noch unaufhörlich von inneren Widersprüchen geplagt, denn um eine Verpflichtung zu lösen, ohne von denjenigen zu sprechen, denen er nicht genügte, mußte er selbst vielfache Ränke und gewaltsame Mittel anwenden, die hernach sein Gewissen nicht billigen konnte. Er mußte eine gute Anzahl Raufbolde sich zur Verfügung gestellt halten und ebensowohl zu seiner Sicherheit, als um desto kräftigerer Hilfe willen, mußte er die Verwegensten, das heißt die Verruchtesten, unter ihnen auslesen und aus Liebe zur Gerechtigkeit mit den Schelmen leben. Und also hatte er mehr als einmal, sei es nun entmutigt von irgendeinem trübseligen Erfolge, oder von einer drohenden Gefahr geängstigt, verdrossen, immerdar auf seiner Hut zu sein, vor seiner Gesellschaft Ekel empfindend, mehr als einmal, für die Zukunft, um die Mittel zu seinem Unterhalte besorgt, die in Prahlereien und guten Werken von Tag zu Tag mehr zu Ende gingen, den Gedanken bei sich gehegt, Mönch zu werden; was zu jener Zeit der gewöhnlichste Weg war, auf dem man sich einem schlimmen Handel entzog. Aber, was vielleicht sein ganzes Leben hindurch eine bloße Absicht geblieben wäre, wurde durch ein Ereignis, das ernsteste, schrecklichste, so ihm jemals zugestoßen, zum Entschluß.

Er ging eines Tages durch eine Straße der Stadt, von einem alten Ladendiener begleitet, aus dem sein Vater einen Haushofmeister gemacht, zwei Bravi hinter sich. Der Haushofmeister, namens Cristoforo, war ein Mann etwa von fünfzig Jahren, von Jugend auf seinem Gebieter ergeben, den er auf die Welt hatte kommen sehen, und in dessen Solde und von dessen Großmut er lebte und seine Frau und acht Kinder erhielt. Ludovico sah einen gewissen Herrn von weitem nahen, der sich ein Gewerbe daraus machte, andere zu beleidigen und zu bedrücken, mit dem er nie in seinem Leben gesprochen hatte, der ihm aber herzlich feind war, und dem er dies von ganzer Seele erwiderte; indem es ja einer der Vorzüge dieser Welt ist, daß man hassen und gehaßt werden kann, ohne sich zu kennen. Dieser hatte vier Bravi hinter sich und kam mit stolzem Schritte daher, den Kopf aufgeworfen und den Mund zu Übermut und Verachtung verzogen. Alle beide gingen hart an der Mauer hin, aber Ludovico, wohl zu merken, mit der rechten Seite, und dies, einem Herkommen gemäß, gab ihm das Recht, – wie weit her holt man doch nicht das Recht! – von der besagten Mauer nicht abzugehen, um irgendwem auszuweichen, worauf man damals viel Gewicht legte. Der ihm Entgegenkommende aber hielt seinerseits dafür, dies Recht stehe ihm als einem Edelmanne zu, und Ludovico gebühre es, und zwar kraft eines anderen Gebrauches, Raum zu geben. Hierin also, wie in so vielen anderen Angelegenheiten, bestanden zwei einander widersprechende Gebräuche, ohne daß es entschieden gewesen, welcher von beiden der rechte sei, und dies gab denn ein jedesmal zu einem Kampfe Gelegenheit, wenn ein Starrkopf auf einen anderen von derselben Beschaffenheit stieß. Jene zwei kamen einander entgegen, alle beide dicht an der Mauer, wie zwei wandelnde Figuren in erhabener Arbeit. Sobald sie sich dann Stirn gegen Stirn einer vor dem anderen befanden, maß der dazu Gekommene, das Haupt zurückgeworfen, mit finsterer, gebieterischer Miene Ludovico und sagte mit einem derselben entsprechenden Ton der Stimme: »Weicht aus!«

»Weicht Ihr selbst aus,« erwiderte Ludovico; »es ist an Euch.«

»Euresgleichen gegenüber ist es niemals an mir.«

»Ja, wenn die Anmaßung Euresgleichen meinesgleichen als Gesetz gälte.«

Das beiderseitige Gefolge war, ein jedes hinter seinem Gebieter, stehengeblieben und blickte, die Hand am Dolche, zum Kampfe bereit, sich grimmig an. Die Leute, die des Weges kamen, zogen sich zurück und beobachteten von fern, was geschehen würde, und die Gegenwart dieser Zuschauer reizte die Ehrsucht der Widersacher immer mehr an.

»Aus dem Wege, du feiler Knecht! oder ich will dich einmal lehren, wie man sich gegen Edelleute zu betragen hat.«

»Ihr lügt, daß ich feil sei!«

»Du lügst, daß ich gelogen habe!« Diese Antwort war entscheidend. »Und wenn du ein Kavalier wärest wie ich,« fügte der Herr hinzu, »so wollte ich dir mit Degen und Mantel dartun, daß du der Lügner seiest!«

»Ein guter Vorwand, um die Unverschämtheit Eurer Worte nicht mit der Tat vertreten zu müssen!«

»Werft den Schurken in den Kot«, sagte der Edelmann, zu den Seinen gewendet.

»Laßt sehen!« sprach Ludovico, rasch einen Schritt zurücktretend und Hand ans Schwert legend.

»Verwegener!« rief der andere, seines ziehend, »ich werde es zerbrechen, sobald es mit deinem verächtlichen Blute besudelt ist.«

Also drang einer auf den anderen ein, und die Diener stürzten von beiden Seiten zur Verteidigung ihrer Herren. Der Kampf war ungleich, sowohl hinsichtlich der Zahl als auch, weil Ludovico viel mehr die Streiche zu vermeiden und seinen Feind zu entwaffnen als ihn zu töten suchte; dieser aber wollte seinen Tod auf jede Weise. Ludovico hatte bereits den Dolchstoß eines Bravo in den linken Arm und einen leichten Ritz in einer Backe davongetragen, und sein Hauptfeind warf sich eben auf ihn, um ihm den Rest zu geben, als Cristoforo, der seinen Gebieter in der äußersten Gefahr sah, mit dem Dolche auf den Edelmann losging. Dieser wendete seine ganze Wut gegen ihn und durchstach ihn mit dem Schwerte. Bei diesem Anblick stieß Ludovico, wie außer sich, das seinige dem Herausforderer in den Leib, der fast in einem Augenblick mit dem armen Cristoforo sterbend umsank. Die Rotte des Edelmannes ergriff, übel zugerichtet, die Flucht, als sie ihn am Boden sah, die Ludovicos, ebenso zerschlagen und zerkratzt, machte sich nach der anderen Seite davon, da es nichts mehr zu tun gab, und weil sie von der herzulaufenden Menge sich nicht wollte aufhalten lassen, und so befand sich Ludovico, inmitten eines Volkshaufens, mit den beiden jammervollen Gefährten zu seinen Füßen allein.

Wie ist es hergegangen? – Es ist einer. – Es sind ihrer zwei. – Er hat ihm ein Knopfloch in den Bauch gemacht. – Wer ist umgebracht worden? – Der Gewalttätige. – Ach, heilige Maria! welcher Graus! – Wer sucht, der findet. – Ein Augenblick rächt alles. – Auch mit dem ist's aus. – Was für ein Stich! – Das wird eine schlimme Geschichte werden. – Und der andere Unglückselige! – Barmherzigkeit, was für ein Anblick! – Rettet ihn, rettet ihn. – Er ist auch schlimm daran. Seht, wie ihm mitgespielt ist! über und über voll Blut. – Macht fort, armer Mann, macht fort! Laßt Euch nicht fangen.

Diese Reden, die sich in dem verwirrten Getöse des Gedränges vor anderen vernehmlich machten, drückten die allgemeine Stimmung aus, und mit dem Rate kam auch die Hilfe. Die Sache war nahe bei einer Kapuzinerkirche vorgegangen, einer, wie jedermann weiß, den Schergen und dem ganzen Gemisch von Dingen und Personen, das man Gerechtigkeit nannte, dazumal unzugänglichen Zufluchtstätte. Der verwundete Mörder wurde von der Menge fast sinnlos dorthin geführt oder getragen, und die Brüder empfingen ihn aus den Händen des Volkes, das ihnen denselben mit den Worten empfahl: »Er ist ein rechtschaffener Mensch, der einen übermütigen Schurken kalt gemacht hat: er hat es zu seiner Verteidigung getan, er ist bei den Haaren dazu gezogen worden.«

Ludovico hatte vordem noch niemals Blut vergossen, und wiewohl Mord und Totschlag in jenen Zeiten etwas so Allgemeines war, daß jedermanns Ohr sich gewöhnt hatte, davon sprechen zu hören, und jedermanns Augen, ihn zu sehen, so war doch der Eindruck, den er empfing, als er den durch ihn und den für ihn Getöteten vor sich sah, neu und unbeschreiblich; es war für ihn eine Offenbarung ihm noch unbekannter Gefühle. Der Fall seines Feindes, die Veränderung der Gesichtszüge, die in einem Augenblick von Drohen und Wut zu der Abspannung und feierlichen Ruhe des Todes übergingen, war ein Anblick, der mit einem Male das Gemüt des Mörders umwandelte.

Nach dem Kloster geschleppt, wußte er fast nicht, wo er war und was geschah, und als er wieder zum Bewußtsein gekommen, befand er sich in einem Bett der Krankenstube, unter den Händen des Bruder Wundarztes – die Kapuziner hatten für gewöhnlich einen in jedem Kloster – der ausgezupfte Fäden auf die beiden Wunden legte, die er bei dem Zusammentreffen erhalten hatte, und sie mit Binden umwand. Ein Pater, dessen Obliegenheit insbesondere war, Sterbenden Beistand zu gewähren, und der solche Dienste des öfteren auf der Straße geleistet hatte, wurde alsbald auf den Kampfplatz geholt. Wenige Minuten später wiederkehrend, ging er in die Krankenstube und sagte, zu dem Bette tretend, worin Ludovico lag: »Tröstet Euch, er ist wenigstens gut gestorben, und hat mir aufgetragen, um Eure Vergebung zu bitten und Euch die seinige zu überbringen.« Dieses Wort brachte den armen Ludovico wieder ganz zu sich und weckte bestimmter und lebendiger die Gefühle, die verworren seine Seele bedrückten: Schmerz um den Freund, Entsetzen und Reue über den Streich, den seine Hand geführt, und zugleich ein beängstigendes Mitleid mit dem Menschen, den er getötet hatte. »Und der andere?« fragte er beklommen den Bruder.

»Der andere war schon verschieden, als ich ankam.«

Unterdessen wimmelten die Zugänge und Umgebungen des Klosters von neugierigem Volke; als aber die Häscherschar anlangte, zerstreute sie die Menge und stellte sich in gewisser Entfernung von den Eingängen auf die Lauer, so daß niemand unbemerkt herauskommen konnte. Ein Bruder des Toten, zwei seiner Vettern und ein alter Oheim kamen, von Kopf bis zu den Füßen bewaffnet, mit einem großen Gefolge von Bravi auch dazu und schickten sich an, die Runde zu machen, indem sie mit dem Blicke und mit Gebärden drohender Verachtung auf jene Gaffer schauten, die nicht zu sagen wagten: es geschah ihm recht, was doch auf ihren Gesichtern geschrieben stand.

Kaum hatte Ludovico seine Gedanken wieder sammeln können, so berief er einen Bruder Beichtiger und bat ihn, Cristoforos Witwe aufzusuchen, sie in seinem Namen um Verzeihung zu bitten, daß er, wenn auch ganz gewiß unabsichtlich, die Ursache dieses Jammers geworden, und ihr zu gleicher Zeit die Versicherung zu geben, daß er die Sorge für die Familie auf sich nehme. Darauf seine eigene Lage bedenkend, fühlte er, wie jener Gedanke, Mönch zu werden, der ihm schon mehrfach im Sinne gelegen hatte, reger und ernster als je wieder auflebte; es schien ihm, Gott selbst habe ihm denselben eingeflößt und ihm ein Wahrzeichen seines Willens gegeben, indem er ihn unter solchen Umständen in ein Kloster gelangen lasse, und der Entschluß war gefaßt. Er ließ den Guardian rufen und eröffnete ihm seine Absicht. Er erhielt zur Antwort, man müsse sich vor übereilten Entschließungen hüten; wofern er aber dabei beharre, werde er nicht abgewiesen werden. Nunmehr, nachdem er einen Notar hatte kommen lassen, sagte er diesem eine Schenkung alles dessen, was ihm verblieb, und was noch immer eine schöne Verlassenschaft war, an Cristoforos Familie in die Feder, eine Summe nämlich, gleich einer nachträglichen Morgengabe an die Witwe und das übrige an die Kinder.

Ludovicos Entschluß kam seinen Wirten, die seinetwegen in keiner geringen Aufregung waren, eben recht. Ihn aus dem Kloster wegzuschicken und also der Gerechtigkeit, das heißt der Rache seiner Feinde preiszugeben, war ein Ausweg, an den gar nicht zu denken war. Es würde ebensoviel gewesen sein, als wenn man den eigenen Vorrechten entsagt, das Kloster bei allem Volke um sein Ansehen gebracht, sich die Ahndung aller Kapuziner auf Erden zugezogen, weil man das Recht aller verletzen lassen und sich gegen alle geistlichen Gewalten aufgelehnt hätte, die sich damals als Schutzherrinnen dieses Rechtes ansahen. Auf der anderen Seite war die überaus mächtige Familie des Getöteten mit ihrem starken Anhange zu dem Verlangen nach Rache angereizt und erklärte jedweden für ihren Feind, der ihr darin hinderlich wäre. Die Geschichte sagt nicht, daß der Getötete ihr etwa sehr leid getan, und ebensowenig, daß von der ganzen Verwandtschaft eine Träne um ihn vergossen worden; sie sagt nur, daß sie alle darauf brannten, den Mörder tot oder lebendig in den Klauen zu haben. Indem nun dieser das Kapuzinerkleid anlegte, legte er alle Dinge bei. Er tat gewissermaßen Buße, legte sich eine Strafe auf, bekannte sich, ohne es ausdrücklich einzugestehen, für schuldig, leistete auf allen Wetteifer Verzicht, war kurz und gut ein Feind, der die Waffen streckt. Die Verwandten des Toten konnten denn auch, wenn es ihnen gefiel, glauben und sich rühmen, daß er aus Verzweiflung und aus Furcht vor ihrem Zorne Mönch geworden sei. Und auf alle Weise durfte selbst der hochmütigste Beleidigte einen Menschen für hinlänglich gestraft halten, der dahin gebracht wurde, sich des Seinigen zu entäußern, sich das Haupt zu scheren, barfuß einherzugehen, auf Stroh zu schlafen, von Almosen zu leben. Der Pater Guardian erschien vor dem Bruder des Getöteten mit ungezwungener Demut, sprach, nachdem er ihm seine Achtung vor seinem erlauchten Hause und seinen Wunsch tausendfach beteuert, demselben in allem, wo es tunlich sei, zu willfahren, von Ludovicos Reue und Entschließung, gab mit Höflichkeit zu verstehen, daß die Familie damit zufrieden sein könne, und ließ endlich mit Feinheit und noch größerer Gewandtheit einfließen, daß es nun einmal, gleichviel, ob es jemand so gefalle oder nicht, also sei und bleibe. Der Bruder brach in Wut aus, die der Kapuziner verrauchen ließ, indem er von Zeit zu Zeit sagte: »Es ist ein nur allzu gerechter Schmerz.« Er erklärte, seine Familie werde auf alle Fälle gewußt haben, sich Genugtuung zu verschaffen; und der Kapuziner, was er auch dabei dachte, verneinte dies nicht. Am Ende verlangte er, schrieb als eine Bedingung vor, daß der Mörder seines Bruders diese Stadt alsbald zu verlassen habe. Der Kapuziner, bei dem dies bereits feststand, sagte, es solle geschehen, und ließ also den anderen glauben, wenn es ihm beliebte, daß dies ein Zeichen des Gehorsams sei; damit war alles abgemacht; die Familie zufrieden, der eine Obliegenheit abgenommen wurde; die Brüder zufrieden, die einen Menschen und ihre Vorrechte retteten, ohne sich irgendeinen Feind zu machen; die Verehrer der Ritterlichkeit zufrieden, die einen Handel in löblicher Weise geschlichtet sahen: das Volk zufrieden, das einen Menschen, dem es wohl wollte, aus der Verlegenheit gezogen fand und zu derselben Zeit eine Bekehrung anstaunte, und endlich und mehr als alle, mitten in seinem Schmerze, war unser Ludovico zufrieden, der ein Leben der Sühne und Dienstbarkeit begann, das die Übeltat, wo nicht wieder gut machen, so doch entgelten und den unerträglichen Stachel der Reue abstumpfen könnte. Der Verdacht, daß sein Entschluß der Furcht beigemessen werden dürfte, betrübte ihn einen Augenblick; aber sofort tröstete er sich mit dem Gedanken, daß auch dies ungerechte Urteil eine Züchtigung und ein Sühneopfer sein würde. So kleidete er sich mit dreißig Jahren in das Sackgewand, und da er nach dem Herkommen seinen Namen aufgeben und einen anderen annehmen mußte, so erwählte er einen, der ihn in jedem Moment an das, was er abzubüßen hatte, erinnerte und nannte sich Bruder Cristoforo.

Kaum war die Feierlichkeit der Einkleidung vorüber, so kündigte ihm der Guardian an, er habe sein Noviziat in ***, sechzig Meilen weit, anzutreten und morgenden Tages dahin abzugehen. Der Novize neigte sich tief und verlangte eine Gnade.

»Erlaubt mir, Pater,« sprach er, »daß, bevor ich mich aus dieser Stadt entferne, wo ich eines Menschen Blut vergossen habe und eine auf das äußerste gekränkte Familie verlasse, ich ihr wenigstens die Beleidigung wieder vergüte, ihr wenigstens meinen Kummer bezeige, den Schaden nicht ersetzen zu können, indem ich den Bruder des Getöteten um Vergebung bitte und ihm, so Gott will, den Groll aus der Seele nehme.« Dem Guardian deuchte es, daß eine solche Handlung, außerdem, daß sie an sich gut sei, dazu dienen werde, die Familie immer mehr mit dem Kloster zu versöhnen, und er ging geradeswegs zu jenem Herrn Bruder, ihm Bruder Cristoforos Verlangen zu eröffnen. Bei einem so unerwarteten Vorschlage empfand dieser, neben seinem Erstaunen, auch erneuten, obschon mit Wohlgefallen gemischten Unwillen. Nachdem er einen Augenblick nachgedacht, sagte er: »Er mag morgen kommen«, und gab die Stunde an. Der Guardian kehrte zurück und brachte dem Novizen die begehrte Erlaubnis.

Der Edelmann überlegte sich alsbald, daß, je feierlicher und geräuschvoller diese Unterwerfung wäre, desto mehr sein Ansehen bei der ganzen Verwandtschaft und dem Publikum steigen würde, so daß es, mit einer Redensart heutiger Zierlichkeit ausgedrückt, ein schönes Blatt in der Geschichte der Familie abgäbe. Er ließ in Eile bei allen Verwandten ansagen, sie möchten morgen mittag geruhen, sich bei ihm einzufinden, um eine gemeinsame Genugtuung zu empfangen. In der Mittagstunde füllte sich der Palast mit Herrschaften jedes Alters und Geschlechtes: Das war ein Gedränge und Getreibe durcheinander mit den großen Mänteln und hohen Federn, und hangenden Durlindanen, ein abgemessenes Gedrehe mit den gesteiften und gefalteten Halskrausen, ein verworrenes Geschleife mit den schnörkelreichen Schleppkleidern. In den Vorzimmern, auf Hof und Straße wimmelte es von Dienern, Pagen, Bravi und Neugierigen. Bruder Cristoforo sah die Zurüstung, erriet den Beweggrund und empfand eine leichte Aufregung; augenblicks darauf sagte er aber bei sich: »Schon gut; ich habe ihn öffentlich getötet, in Gegenwart so vieler seiner Feinde; wie der Schaden, so der Ersatz.«

Er schritt also mit gesenkten Augen, den Pater Begleiter zur Seite, durch das Tor jenes Hauses, quer über den Hof, durch eine Menge, deren Blicke ihn mit nicht eben höflicher Neugier maßen, stieg die Treppe empor und gelangte durch eine andere vornehme Menge hindurch, die für ihn eine Gasse bildete, von hundert Augen verfolgt, in die Gegenwart des Hausherrn, der, von den nächsten Verwandten umgeben, aufrecht inmitten des Saales stand, den Blick zu Boden gerichtet, das Kinn in die Höhe geworfen, mit der linken Hand das Heft des Schwertes gefaßt haltend und mit der rechten den Kragen des Mantels über der Brust zusammendrückend.

Es liegt zuweilen in Antlitz und Haltung eines Menschen ein so unmittelbarer Ausdruck, man möchte fast sagen ein Ausguß des innersten Wesens, daß bei einer ganzen Menge von Zuschauern nur ein einziges Urteil darüber stattfindet. Antlitz und Haltung Bruder Cristoforos sprachen allen Umstehenden deutlich aus, daß er aus menschlicher Furcht weder Mönch geworden, noch zu dieser Demütigung gekommen sei, und dies begann, ihm aller Herzen zu versöhnen. Sobald er den Beleidigten sah, beschleunigte er seinen Schritt, ließ sich auf seine Knie nieder, kreuzte die Hände auf der Brust und sprach, sein geschorenes Haupt senkend, diese Worte: »Ich bin der Mörder Ihres Bruders. Gott weiß, ob ich ihn auf Kosten meines Blutes Ihnen wiedergeben möchte; da ich Ihnen aber nur eine unwirksame, späte Abbitte tun kann, so beschwöre ich Sie, sie um Gottes willen anzunehmen.«

Aller Augen ruhten unbeweglich auf dem Novizen und der Person, mit der er sprach, aller Ohren waren gespannt. Als Bruder Cristoforo schwieg, erhob sich durch den ganzen Saal ein Gemurmel des Mitleids und der Achtung. Der Edelmann, der mit der Gebärde erzwungener Herablassung und unterdrückten Zornes dastand, kam durch diese Worte aus der Fassung und sagte, indem er sich zu dem Knienden hinneigte, mit bewegter Stimme: »Erhebt Euch. Die Beleidigung ... die Tat freilich ... aber das Kleid, das Ihr tragt, ... nicht das allein, sondern auch um Euretwillen ... Stehen Sie auf, Pater ... Mein Bruder ... ich kann es nicht leugnen ... war ein Kavalier ... War ein Mensch ... ein wenig übereilt ... ein wenig lebhaft. Es geschieht indessen alles nach Gottes Schickung. Sprechen Sie nicht mehr davon ... Aber, Pater, Sie dürfen nicht in dieser Stellung bleiben.« Und er nahm ihn beim Arme und hob ihn auf. Bruder Cristoforo erwiderte stehend, wiewohl mit gesenktem Haupte: »Ich kann also hoffen, daß Sie mir Ihre Verzeihung zugestanden haben? Und wenn ich sie von Ihnen erhalte, von wem sollte ich sie nicht erhoffen dürfen? Ach, wenn ich aus Ihrem Munde dieses Wort: Verzeihung! vernehmen könnte.«

»Verzeihung?« sagte der Edelmann. »Sie bedürfen ihrer nicht mehr. Indessen, da Sie es wünschen, gewiß, gewiß, verzeihe ich Ihnen von Herzen, und alle ...«

»Alle, alle!« riefen die Anwesenden einstimmig.

Das Antlitz des Bruders ging in dankbarer Freude auf, worunter jedoch noch eine tiefe, demütige Zerknirschung wegen des Übels durchschien, das keine menschliche Vergebung wieder gut machen konnte. Von diesem Anblick überwunden und von der allgemeinen Rührung mit hingerissen, warf der Edelmann Cristoforo die Arme um den Hals und gab und empfing von ihm den Friedenskuß.

Ein »schön!« »brav!« brach von allen Seiten des Saales los; alle bewegten und drängten sich nach dem Bruder hin. Unterdessen kamen Diener mit einer großen Menge von Erfrischungen. Der Edelmann trat zu unserem Cristoforo heran, der eben Miene machte, sich beurlauben zu wollen, und sprach zu ihm: »Pater, genießen Sie etwas, erweisen Sie mir diese Freundschaft.« Er schickte sich dabei an, ihn vor allen anderen zu bedienen; der Bruder trat jedoch mit einem gewissen herzlichen Widerstreben zurück, indem er sagte: »Dergleichen ist nicht mehr für mich, verhüte aber der Himmel, daß ich Ihre Gaben verschmähe! Ich bin im Begriff, meine Reise anzutreten: geruhen Sie, mir ein Brot bringen zu lassen, damit ich sagen kann, daß ich Ihrer Barmherzigkeit mich erfreut, Ihr Brot gegessen, ein Zeichen ihrer Vergebung erhalten habe.« Der gerührte Edelmann befahl, daß dem also geschähe, und es kam alsbald ein Haushofmeister in großem Staate, brachte auf einem silbernen Becken ein Brot und bot es dem Pater dar, der es dankend nahm und in seinen Korb steckte. Darauf Abschied nehmend, umarmte er von neuem den Hausherrn und alle, die ihm näher standen und sich seiner einen Augenblick bemächtigen konnten, und entzog sich ihnen mit Mühe. In den Vorzimmern hatte er zu kämpfen, um sich von den Dienern und sogar den Bravi loszumachen, die ihm den Saum seines Kleides, Strick und Kapuze küßten, und so befand er sich auf der Straße, wie im Triumphe getragen und von einem großen Haufen Volks bis zu einem Tore der Stadt begleitet, durch das er hinausging, seine Fußwanderung nach dem Orte seines Noviziats also antretend.

Der Bruder des Getöteten und die Verwandtschaft, die sich vorbereitet hatten, an diesem Tage die traurige Freude des Stolzes zu schmecken, waren anstatt dessen von der heiteren Freude des Verzeihens und Wohlwollens erfüllt. Die Gesellschaft verweilte noch einige Zeit mit ungewohnter Treuherzigkeit und Vertraulichkeit in Gesprächen, auf die niemand gefaßt gewesen war, als er dorthin gekommen. Anstatt genommener Rache, wieder vergoltenen Unrechts, erfüllter Schuldigkeiten war das Lob des Novizen, Versöhnung und Milde Gegenstand der Unterhaltung. Und einer, der wohl zum fünfzigstenmal erzählt haben würde, wie Graf Muzio, sein Vater, in dem famosen Falle verstanden hatte, den Marchese Stanislao, den jedermann als den Großsprecher kenne, der er sei, zurechtzuweisen, sprach dagegen von den Büßungen und der wunderwürdigen Geduld eines Bruders Simone, der vor vielen Jahren verstorben. Nachdem die Gesellschaft auseinandergegangen, ging der noch ganz aufgeregte Hausherr mit Erstaunen für sich durch, was er mit angehört, was er selbst gesagt hatte, und brummte zwischen den Zähnen: »Teufel von einem Mönche!« – wir müssen wohl seine eigenen Worte hierher schreiben – »Teufel von einem Mönche! Wenn er noch ein paar Augenblicke hier auf den Knien liegen blieb, so hätte nicht viel gefehlt, ich hätte ihn um Vergebung gebeten, daß er mir meinen Bruder ermordet.« Unsere Geschichte bemerkt ausdrücklich, daß er von dem Tage an etwas weniger jähzornig und ein wenig hilfreicher wird.

Pater Cristoforo ging seines Weges so getröstet, wie er es seit jenem entsetzlichen Tage noch nicht gewesen war, und sein ganzes Leben sollte der Aufgabe geweiht sein, diesen Tag abzubüßen. Dem Novizen war Schweigen auferlegt und er befolgte dies Gesetz ohne Anstrengung, ganz in den Gedanken an die Mühseligkeiten, Entbehrungen und Erniedrigungen versenkt, die er hätte erdulden mögen, um sein Verbrechen zu fühlten. Zur Stunde der Mahlzeit im Kloster kehrte er bei einem Wohltäter ein und aß mit einer Art von Wollust vom Brote der Vergebung; ein Stück sparte er indessen auf und tat es wieder in den Korb, um es darin als ein immerwährendes Andenken zu bewahren.

Es ist nicht unsere Absicht, die Geschichte seines Klosterlebens zu geben; wir wollen nur sagen, daß, indem er immerdar auf das bereitwilligste und sorgfältigste den Pflichten genügte, die ihm für gewöhnlich auferlegt wurden, zu predigen und Sterbenden beizustehen, er sich niemals eine Gelegenheit entgehen ließ, zwei andere Pflichten auszuüben, die er selbst sich zuerkannt hatte: Mißhelligkeiten auszugleichen und Unterdrückte zu schützen. Zu diesem Hange kam noch, ohne daß er sich dessen versah, seine alte gewohnte Art zu sein und ein Überbleibsel kriegerischen Sinnes, den die Demütigungen und Kasteiungen nicht hatten gänzlich auslöschen können. Seine Sprache war gewohntermaßen leise und bescheiden; aber wenn es sich um Gerechtigkeit oder bedrohte Wahrheit handelt, belebte sie sich auf einmal mit ihrem alten Ungestüm, das, mit einem feierlichen, durch häufiges Predigen entstandenen Nachdrucke vermischt und davon gemäßigt, dieser Art zu sprechen, eine seltsame Eigentümlichkeit verlieh. Sein ganzes Betragen wie sein Anblick gab einen langen Kampf zwischen einer hitzigen, leicht reizbaren Gemütsart und einem entgegen strebenden, meist siegreichen Willen kund, der stets auf der Hut war und durch höhere Beweggründe und Eingebungen geleitet wurde.

Ein Mitbruder und Freund, der ihn wohl kannte, hatte ihn einst mit jenen in ihrer natürlichen Bildung allzu ausdrucksvollen Wörtern verglichen, die manche, wie gebildet auch im übrigen, wenn die Leidenschaft überschwillt, verstümmelt, mit irgendeinem anderen Buchstaben aussprechen; Wörter, die in der Verkleidung dennoch an ihre ursprüngliche Nachdrücklichkeit erinnern.

Wenn auch ein unbekanntes armes Mädchen, in Luciens betrübtem Falle, Pater Cristoforos Hilfe angesprochen hätte, würde er ungesäumt herzugeeilt sein. In Ansehung nun aber, daß es Lucien betraf, kam er mit um so ängstlicherer Eilfertigkeit, als er ihre Unschuld kannte und bewunderte, ihrer Gefahren wegen schon gezittert, und über die schnöde Verfolgung, deren Gegenstand sie geworden, einen lebhaften Unwillen empfunden hatte. Zu dem allen gesellte sich noch, daß er ihr als das beste geraten, nichts zu entdecken und sich ruhig zu verhalten, so daß er nun fürchtete, der Rat könne irgendeinen traurigen Erfolg gehabt haben, und so kam denn zu der Bekümmernis aus Menschenliebe, die ihm wie angeboren war, in diesem Falle jene gewissenhafte Bangigkeit, die die Guten oftmals peinigt.

Derweil wir aber dabei verweilt haben, die Angelegenheiten des Paters Cristoforo zu erzählen, ist er angelangt und an der Tür erschienen, und sind die Frauen, indem sie den Griff der Haspel losließen, die sie sausend drehten, aufgestanden, und haben einstimmig gesagt: »Ach, Pater Cristoforo, sei gesegnet!«


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