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Siebzehntes Kapitel

Von dem Knall erwachten die beiden Bewußtlosen. Als Emanuel sich am Boden über Inge beugte, sahen sowohl Herr Willmar Bausch wie der Rittergutsbesitzer von List ihm, auf die Hüfte gestützt, dabei zu. Emanuel preßte den Arm Inges, anstatt ihn zu verbinden. Getroffen hatte er sie in den Arm, der ihm ausgestreckt den Befehl gab, sich daran zu erinnern, wer sie war, und vielleicht wollte ihre Gebärde ihn auch versichern, sie sei noch immer die Seine. Jetzt schienen ihre Lider geschlossen, und ohne ein Zeichen, daß sie ihn bemerkte, ließ sie ihn ihren Arm drücken und dabei schluchzen.

»Mensch! Verbinden Sie die Person doch endlich!« sagte Herr von List. Er stand dabei und hatte seine Entschlußkraft zum Teil schon zurück. Dem hilflosen Bausch, der sich noch nicht richtig auf den Füßen hielt, zeigte er die Tür, und beim ersten Wort, das Bausch über die ganze Angelegenheit rede, werde er verhaftet werden.

Bei Emanuel und Inge allein geblieben, berührte er den Knienden mit dem Fuß.

»Sie sind sich klar, daß ich jetzt alles mit Ihnen machen kann, was ich will?« fragte er. Es bedeutete aber im Gegenteil: ›Schweigen Sie in meinem und Ihrem Interesse über alles, was während der letzten halben Stunde hier im Hause geschehen ist. Nachdem Sie auch noch einen Mordversuch unternommen haben, ist das Geschäft nicht mehr zu retten. Ich verzichte auf die Erfindung, die ohnedies beim Teufel ist mitsamt Ihrem Ehmann, und ich zeige Sie nicht einmal an.‹ Dies bedeutete es in Wirklichkeit, wenn List behauptete, jetzt könne er mit Emanuel alles machen. Es war, was er Bluff nannte.

Er äußerte: »Die Rechnung für die Entfernung des Blutfleckes aus dem Teppich geht an Sie, mein Lieber. Im übrigen hauen Sie ab und nehmen Sie Ihre Braut mit.«

Er läutete dem Diener: »Der Herr wünscht seinen Wagen … Der Herr fährt ihn selbst«, setzte er schnell hinzu, »und niemand begleitet ihn, außer der Dame. Nach Storkow«, sagte er aus der Tür, »telefonieren Sie, daß die Übung abgeblasen ist.«

Emanuel wickelte um den verwundeten Arm sein seidenes Taschentuch, aber es war sofort durchgeblutet. Das Blut Inges rann ihm über die Hände; es war die unerträglichste Empfindung seines ganzen bisherigen Daseins. Er schrie mit einer Stimme, die rauh, roh und ihm unbekannt wurde, nach einem Handtuch. Als es aber zur Stelle war, hatte er inzwischen den größten Teil seines eigenen Hemdes herausgerissen.

List betrachtete sein Verhalten mit Gleichgültigkeit. Dagegen gab er zu verstehen, das Mädchen dürfe auf keinen Fall in ein öffentliches Krankenhaus gebracht werden. Er nannte die Klinik eines ihm befreundeten Arztes. »Natürlich haben Sie mich nicht zu erwähnen«, verlangte er und nahm sich vor, lieber selbst dort anzurufen. Er erwog auch gleich, ob er dem Arzt für die Kosten gutstehen sollte. Aber grade kam Inge mit Hilfe Emanuels vom Boden auf, und ein Blick über ihre Figur zeigte Herrn von List, daß er sich unnötigerweise einschalten würde. Wenn der kleine Industrieverräter nicht flüssig war, eine solche Figur hatte bestimmt noch andere Freier an Hand.

Auf Emanuel gestützt, erreichte Inge das Auto. Er setzte sie neben sich in der verzweifelten Hoffnung, auf dem Wege könnte sich etwas ändern in ihrer beider Verhältnis. Dann sprach er aber kein Wort, sah gradeaus und lenkte. ›Ausgeschlossen, daß es zu Ende ist‹, dachte er. ›Dummheiten können vorkommen. Dafür arbeite ich mich schon tagelang ab wie verrückt; hätte heute übrigens glatt erledigt werden können – bloß für sie, gar nicht einzusehen, wofür sonst.‹ Da seine Tat ihn tief ängstete, dachte er mit künstlichem Stolz: ›Wie hab ich das gemacht? Ich habe die hundertprozentige Überzeugung, daß es ihr gut bekommen wird. Energische Behandlung – sie brauchte das.‹

Aus einer Seitenstraße stürmte eine leere Taxe, die von Emanuel nicht rechtzeitig gesichtet war, fuhr seinen Wagen an und riß ihm einen Kotflügel weg. Auseinandersetzung zwischen den beiden beteiligten Führern, mehreren Unbeteiligten und einem Schupo. Inge versteckte unter der Decke ihren Arm, aus dem ihr das Blut über die Knie und die Füße hinablief. Sie fühlte sich schwächer werden, bedachte aber während des Zwischenfalls und auf der weiteren Fahrt: ›Es ist aus. Das war mal Em. Es ist doch immer wieder Falle. Wenn sie erst hysterisch werden! Jetzt bin ich auch noch angeschossen; einer mußte es schließlich machen, aber ich dachte, nicht Em. Bei ihm hatte ich doch noch mit dem höchsten Prozentsatz – oh, nicht hundertprozentig, aber ich hatte mir eingebildet, es könnte vorhalten. Schon wegen Margo: – wenn man erst so weit geht! Aber nicht zu machen. Für Margo freut es mich ja.‹

Hier waren sie schon an dem Hause der Klinik vorbei; Emanuel hatte nur noch auf die andere Straßenseite zu lenken, zu wenden und vorzufahren. Plötzlich neigte er den Kopf gegen Inge und sagte, atemlos flehend: »Verzeih mir! Ich tue es auch ganz gewiß nicht wieder.«

»Das wollen wir mal nicht so sicher hinstellen«, erwiderte sie kühl lächelnd und ließ sich herausheben.

Sie war erwartet worden; schon im Vorraum übernahmen zwei Pflegerinnen sie, und in demselben Augenblick wurde sie die Schwerkranke, deren Körper fremden Muskeln zu gehorchen hat und deren Wille nur stört. Sie gab ihn denn auch auf und überließ sich den Frauen, die sie zu Bett brachten; das enthob sie den peinlichen Schlußworten an Em. Er stand noch da, als der Arzt eintrat, wurde aber sogleich fortgeschickt, wie es mit List telefonisch verabredet war.

Von der Tür her, indes er schon hinausgedrängt wurde, verrenkte er sich angstvoll den Hals nach ihr. Fortstoßen den, der ihn hinderte, und vor ihr Bett hinstürzen! Ach, er tat es nicht. Ihr Arm, den er zerfetzt hatte mit eigener Hand, lag in den Händen Fremder, und geschlossen blieben ihre Augen. Was ihn aber zurückhielt, war nicht dies, sondern das Gefühl des Mißlungenen – ausgeschieden zu sein aus dem Wettbewerb, hier wie in Sachen der Erfindung. Nichts als fort und heimwärts in seinem Wagen – der wenigstens war bis auf den Kotflügel bis jetzt instand!

Inge hielt die Augen nicht so fest zu, daß sie nicht gewußt hätte: jetzt ist er noch da – und jetzt nicht mehr. Nicht mehr, nicht mehr! »Em!« rief sie, aber man nahm es für einen Aufschrei ihrer körperlichen Schmerzen. Zum erstenmal, seit er geschossen hatte, vergoß sie für ihn nicht nur ihr Blut, auch ihre Tränen.

Ihr verbundener Arm wurde hochgehalten von der Schlinge, die hinter ihrem Kopf an einer Stange befestigt war. Der Arzt hatte sie unter munteren Gesprächen verlassen, er gab sich noch als Lebemann; dann blieb aber nur die Pflegerin, und das Bild wechselte. Inge erfuhr allmählich, zuerst aus Mienen und Verschweigen, dann aus Zugeben, daß es auch schiefgehen könne. Ein solcher Arm war ganz kürzlich abgenommen worden.

Abgenommen – durchschnitten mit dem Messer, der Knochen zersägt, und übrig ein Stumpf, eine Frau und ein Stumpf! Keine Frau mehr! Ein Stumpf, keine Frau mehr! ›Ich werde nicht mehr dasein. Mitleidige Blicke – anstatt der verzweifelten, die sie jetzt machen, weil sie mich nicht haben können. Ich werde betteln müssen, damit einer mir sagt: Fräulein, für Sie könnte ich –; und es wäre gelogen, er geht nicht drei Häuser weiter, auch wenn ich ihm dafür alles gebe. Margo wird mir nicht mehr ins Gesicht sagen, was ich bin; denn ich habe nur noch das Gesicht, nicht mehr meinen Arm, und ich kann das nicht mehr sein‹ – hörte sie wie einen inneren Schmerzensgesang. Ihr Blick verlor sich in der Zimmerdecke. ›Ich werde nicht mehr dasein.‹

»Schlafen Sie jetzt!« ordnete die Pflegerin an, und Inge schloß die Augen. Hierbei dachte sie: ›Die Olle will Kaffee trinken gehen. Vielleicht wartet auch noch ein netter Krankenwärter auf sie. Mir redet sie Sachen ein, damit ich still bin! Quatsch, ich mir den Arm abnehmen lassen – kommt nicht in Frage. Lieber hau ich ab. Was denn! Sterben muß jeder; aber leben ohne Arm – nicht zu machen.‹ Der Entschluß stärkte sie sofort. ›Und sterben geht auch nicht so schnell. Wenn das nicht mal vorkommen dürfte, daß einer schießt, dann lohnt sich der ganze Betrieb nicht.‹ Sie dachte: ›die Liebe‹, verbesserte aber: ›der Betrieb‹.

Von hier ging sie zu zeitgemäßen Erwägungen über. ›Pappi soll nichts wissen, er liegt selbst. Komisch, wir haben beide einen Betriebsunfall gehabt. Wer finanziert nun meine Behandlung? Eigentlich die Krankenkasse; aber ich bin heute unentschuldigt aus dem Geschäft fortgeblieben, und wie komme ich überhaupt nach Berlin? Die Brüder kenne ich schlecht, oder sie zahlen nicht. Dann wäre es die Sache von Em. Wer hat denn geschossen.‹

Ein innerer Widerstand belehrte sie, daß dies falsch war. Nicht Em, grade er am wenigsten, sonst hätte er das Recht zurückzukommen. ›Ich würde telegrafieren: Schicke Kasse!, und er würde verstehen: Komme wieder! Verstände er es dagegen nicht, was würde dann erst aus mir‹, dachte die Unglückliche. Als sie aber bemerkte, sie könnte im Leben und mit geheiltem Arm dennoch unglücklich werden, nahm sie ihre Kraft zusammen. Zuerst glücklich sein! Sonst schämt man sich. Unglück ist das einzige, dessen man sich wirklich schämen muß. Mit Anstrengung und unter noch unbekannten Qualen ihres heiteren, starken Herzens machte Inge für immer einen Strich. Ihr Em war gestrichen.

Was übrigblieb, wurde ihr nicht schwer. Die Rechnung der Klinik ging natürlich an Brüstung. Der Junge war nicht ihr Typ. Er hatte heute zufällig Glück gehabt; verstanden hatten sie einander nicht. Sie glaubte daher an Brüstung auf keinen Fall, ob er nun boxte oder einen Laden aufmachte. ›Er kann noch froh sein, wenn er die Klinik bezahlen darf‹, fühlte sie und war gewiß, sich nicht zu täuschen. Dafür war er der Richtige.

Genauso deutlich empfand Inge, daß ein anderer Aussichten hatte, ihr näherzutreten. Vielmehr sie und der kleine Prominente waren im Grunde schon verabredet. Er zweifelte so wenig wie sie, daß ihnen gemeinsam ein Erlebnis bevorstand. Natürlich dachte er es sich kurz und ungetrübt durch Verbindlichkeiten, oder sie hätte ihn ganz falsch aufgefaßt. Sie beschloß mutig: ›Es kommt manchmal anders. Man hat auch mal wieder Glück.‹ Dabei griff sie wirklich schon mit ihrer freien Hand nach dem Tischapparat neben ihr. Sie hatte Fieber und überlegte, während sie den Hörer an das Ohr hielt: ›Wenn nun unten die Olle sich meldet? Ach, ich erzähle ihr, ich muß wegen Leben und Sterben meine Verfügungen über Geld treffen. Geld ist heilig, da zieht die schwerste Krankheit nicht mehr.‹ Indessen sprach in der Hauszentrale eine andere Stimme, und Inge verlangte die Nummer, die der Schauspieler ihr gegeben hatte.

»Da bist du!« rief er sofort. »Wer hat wieder mal die kommenden Ereignisse vorausgeahnt, liebes Publikum? Dein kleiner Liebling. Mit uns passiert heute abend noch was.«

»Es ist schon spät, ich liege im Bett.«

»Dahin gehörst du auch, aber in das meine.«

»Können Sie einen Augenblick ernst sein? Mich hat jemand angeschossen – ja, aber es ist nicht schlimm, eine leichte – eine leichte Quetschung«, sagte sie, weil ihr der Unfall ihres Vaters vorschwebte.

»Ei, ei«, machte der Kleine. »Aber wenn du dich das nächstemal quetschen läßt, bin ich dran.«

»Sie würden das nicht tun. Wenigstens habe ich den Eindruck.«

»Mußt du auch solche Quetscher in deiner Bekanntschaft haben? Solche Quetschtenöre? Solche talentlosen Quetschkartoffeln?« schrie er immer höher. »War das nun der Mann mit dem rauhen Wesen, dem ich schließlich Handfesseln anlegen mußte? Oder, halt, der Verrückte!«

»Keiner von beiden. Ein Zufall. Ich bin eigentlich unbeteiligt.«

»Na, na. Da kann ich nur schäkern. Du kommst immer zu solchen neckischen Zufällen. Gestern abend spät in dem Nest Dingsda denke ich an nichts Schlimmes, nur an den Blödsinn, den ich gaukeln will für die Eingeborenen, wer zieht sich da nackt aus und bringt mich ruckzuck zur Raserei?«

»Ich habe gar nicht gemerkt, daß es Sie angriff. Die anderen hatten auch nicht mehr an.«

»Das sind Nutten. Du bist meine Königin. Ich lieb dich, ich lieb dich!« sang er wild ansteigend.

»Schön!« bestätigte sie schwärmerisch.

»Ich bemerke, daß wir voneinander entzückt sind. Ich erhöre dich, das legen wir fest, das bleibt. Jetzt muß ich dich nur noch zu einer Diva machen.«

»Siehst du, mein Kleiner, darauf warte ich schon die ganze Zeit«, gab Inge offen zu. »Mal mußte das Geschäftliche kommen. Du glaubst doch, daß ich das Nötige dafür mitbringe?«

»Du bist bis jetzt die größte Gans, die mir vorgekommen ist. Du hast Schenkel und Sex-Appeal; ich traue meiner Zeit ohne weiteres zu, daß es damit allein zu machen ist.«

Inge hatte Fieber, ihre Fähigkeiten waren gesteigert; sie sang mit tiefer Stimme in das Telefon: »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt.«

»Das hättest du gestern noch nicht gekonnt. Wie wirke ich auf dich?«

»Unerhört. Wie heißt mein erster Tonfilm?«

»Verlaß dich auf mich! Ich habe meine persönlichen Gründe, meinen Einfluß für dich geltend zu machen. Dich soll die Direktion bezahlen, nicht ich. Von mir kriegst du nichts. Jede Frau, die kein Engagement mehr hatte, ist bei mir geflogen. Oh! Glaube nicht, ich spräche aus Zynismus so zu dir, Geliebte!«

»Ich weiß. Du bist sentimental.« Sie meinte es nicht ernst, aber er griff zu.

»Das ist es, das ist mein ewiger Fehler. Sonst läge ich bei meinem kleinen hübschen Talent noch viel weiter vorn. Man darf sich keine uneinträglichen Gefühle erlauben heutzutage. Fühlen dürfte ich überhaupt nur am Abend bei täglicher Gage. Statt dessen liebe ich deine weißgepuderte Nase und die oxydierten Haarwellen, die du schonend auf das Kissen gebreitet hast. Mich berauschen deine glatten, süßen Hände, die noch keine Kontrakte unterschrieben haben und, zu jeder Niedertracht jederzeit bereit, auf deinem aufregend gebauten Körper liegen, ich will nicht wissen, an welcher Stelle.«

»Aber Meister, mit der einen spreche ich doch. Die andere hängt in einem Verband über mir am Haken.«

»Da siehst du, wie das alles mich aufregt, Weib! Willst du die erste sein, die mir den Frieden bringt? Bedenke doch, wie lange ich noch jung bin und meine Spezialität den Leuten noch verkaufen kann. Wo für andere das reifere Fach anfängt, was erwartet dort mich, der jung bleiben oder abstinken muß? Eine Glatze und kein eigenes Auto mehr.«

»Die Arie!« sagte Inge verständnisvoll. Denn alles weitere wußte sie voraus. Ungesicherte Wirtschaftslage und Existenzangst – wie oft hatte sie die Worte gehört und selbst nachgesprochen! Grade hier war sie allerdings kaum darauf gefaßt gewesen … Er ließ sich nicht mehr aufhalten.

»Die Welt sagt: ein Prominenter, der sitzt als Schoßkind des Glückes in seinem großen Chrysler. Wenn die Welt wüßte! Doch wie es da drin aussieht, geht niemand was an«, sang er mit wahrer Empfindung.

»Mir werden die Augen feucht. Genug, Kleiner, solange ich gute Verträge habe, koste ich dich nichts oder nur mal die Schneiderin.«

»Und wenn du länger als einen Monat spazierengehen mußt, suchst du dir einen andern. Das wäre erledigt. Jetzt gute Nacht, mein Mädchen. Die Hähne krähen im Radio. Heute abend habe ich mein Herz sprechen lassen. Künftig hörst du von mir keine schwächlichen Sentimentalitäten mehr, nur sämtliche Gemeinheiten, die ich dir schuldig bin. Komm mal persönlich ran, wenn du wieder auf bist! Wozu das ganze Gemecker!«

Inge dachte, nachdem sie eingehängt hatte: ›Er ist klein. Das ist etwas Neues. Wie behandelt man das?‹

Genau dasselbe bemerkte ihre Schwester Margo, als an diesem Abend auf dem Flugplatz ihr Fahrgast erschien. Karl der Große, wie sie ihn nannten, war klein von Gestalt. Das kam ihr unerwartet. Natürlich hatte sie seit dem frühen Morgen, als Fritz Bergmann bei ihr anrief, hauptsächlich an die rätselhafte Persönlichkeit Karls des Großen gedacht.

Nach dem Gespräch mit Bergmann zog Margo sich schnell an, um ihre Chance nicht zu versäumen. Sie wußte, daß sie damit dem jungen Piloten die seine nahm; aber so ist die Welt. Übrigens konnte es für sie schlimm enden – selbst wenn sie schon genau gewußt hätte, was zu tun war. Es war nicht nur eine Chance, es war ein Wagnis.

Fritz Bergmann erwartete sie vor dem Flughafen, und in der Morgendämmerung kam Margo unbemerkt mit durch. Er führte sie in seinen Ankleideraum und legte ihr Kleidungsstücke hin, die sonst der Mechaniker des Flugzeuges trug.

»Den hab ich aus dem Wege geräumt, Frau Rapp. Sie fahren statt des Mannes mit. Wenn ich sage, daß Sie mitfahren. Sie starten natürlich allein mit dem Passagier.«

»Kommt er denn wirklich ganz ohne Begleitung?«

»That is the question«, erklärte Fritz Bergmann, glücklich über sein Englisch. »Er kann noch zwei Personen mitnehmen. Aber wie ich ihn kenne –«

»Wie kennen Sie ihn denn?«

»Gar nicht. Nie gesehen. Wer hat ihn schon mal gesehen? Nur von meinem Kameraden, der seine Maschine führt, weiß ich, daß er höchstens einen Sekretär und eine Schreibdame mitnimmt.«

»Keine Kollegen von ihm? Hohe Chefs?«

»Er hat keine Kollegen, und die hohen Chefs dürfen ihn gegebenenfalls von hinten besehen. Was denken Sie, Frau Rapp, sonst wäre es ja kein Erlebnis, mit ihm zu fliegen. Aber das ist es: er ist eine Nummer für sich.«

Margo erschrak, und hier begann sie inständiger nachzudenken. Sie sah im Geist einen einzelnen Mann kommen, einen Mann allein, einen unheimlich fremden Mann, und mit ihm sollte sie in die Luft steigen.

»Ich kann gar nicht fliegen«, murmelte sie.

»Doch, Sie können. Mein Unterricht war gut, wenn Sie auch noch keinen Führerschein haben. Lassen Sie sich durch nichts imponieren, Frau Rapp, dann können Sie fliegen.«

»Wann soll es losgehen?« fragte sie noch immer eingeschüchtert.

»Seine Sache. Hängt ganz von ihm ab. Wir haben morgens früh anzutreten, dafür ist es sein Privatflugzeug, und eine halbe Stunde vorher wird hier angerufen, daß wir bereit sein sollen.«

»Das kann wohl etwas dauern.«

»Manchmal dauert es etwas.«

»Und was tun wir solange?«

»Wir kontrollieren die Maschine. Das heißt, die ist in Wirklichkeit schon lange kontrolliert. Gleich nebenan haben Sie ein Badezimmer, Frau Rapp, erfrischen Sie sich nur! Ich gehe hinaus, bis Sie in Ihre Mechanikerkluft gestiegen sind. Nachher frühstücken wir. Ich darf doch mit Ihnen, Frau Rapp?«

»Wenn Sie das nicht mal dafür haben sollten, Bergmann.«

Sie aßen reichlich, denn Fritz Bergmann verlangte es. Er meinte, sie müßten Mumm in die Knochen bekommen für die verhängnisvolle Fahrt – Margo, weil sie fliegen sollte, aber erst recht er selbst, damit er den Mut fand, sich zu drücken. Er gab ihr keine Verhaltungsmaßregeln, die sie befangen gemacht hätten. Er betonte lieber, wie selten die immer fahrbereite Maschine ihres Passagiers benutzt werde und welches Glück sie beide hätten.

»Nehmen wir mal an, daß mein Kollege, der eigentlich das Privatflugzeug führt, heute bloß Krankheit vorschützt, weil er schon übermütig geworden ist bei seinem gesicherten Leben. Sie begreifen, Frau Rapp: ein Chef, der nie fliegt, entläßt mich auch nicht. Was kann mir noch passieren? Ich kann abstürzen; das ist immer noch besser, als die Existenz verlieren. Wenn mein Kollege diesmal hereinfallen sollte mit seiner sogenannten Krankheit –«

»Möchten Sie ihn beerben, Fritz«, schloß Margo voll Verständnis für alles, was wir tun und wünschen müssen.

Sie zeigten sich zusammen draußen. Mehrmals sah einer der Piloten, die Bergmann begrüßte, seinen Mechaniker aus der Nähe an. Woher er den kessen Jungen habe. Sei wohl ein Mädchen? Natürlich; warum sollen die nicht auch – nehmen einem das Brot überall weg, und grade in diesem Beruf nicht?

»Ich kann nichts dafür«, log Bergmann. »Persönliche Anordnung von oben. Die Herren haben manchmal Sorgen.«

Margo stand indessen abgekehrt; eifrig über die Maschine gebeugt, prüfte sie mit der Lupe einen kleinen Bestandteil. Der fremde Pilot verabschiedete sich von ihr mit einem höflichen Schlag auf ihre Rückseite.

»Wir wollen doch lieber wieder hineingehen«, schlug Fritz Bergmann vor. »Haben wir das Gemecker nötig?«

»Sehr richtig«, sagte Margo, und so holte er ihnen auch das Mittagessen in den Ankleideraum. Nachher ließ er sie allein, und sie schlief ein. Sie träumte, daß sie flog, und neben ihr auf dem zweiten Führersitz saß Emanuel. Sie waren wieder gut miteinander und wollten zusammen nach Hause. Sie waren wie früher, sollten es immer bleiben, und nichts lag zwischen ihnen und dem Glück als einzig dieser Flug.

Dieser Flug aber verlief abenteuerlich und voll von Zwischenfällen. Vor allem stiegen sie immer höher, Margo mußte dauernd volles Tiefensteuer geben. Sie hatte die Fähigkeit verloren, die Hand vom Steuer zu nehmen, um den Motor abzustellen. Sie wußte, das wäre der Absturz gewesen. Warum der Absturz, fragte sie selbst; aber in ihrem Traum folgte auf das Abstellen des Motors sofort und unweigerlich der Absturz, folgte der Tod, folgten die beiden Leichen derer, die doch zu Hause erwartet wurden von immerwährendem Glück.

Das alles erfuhr in ihrem Traum nur Margo allein, und sie verriet es nicht. Emanuel saß im Flugzeug neben ihr unwissend und leichtherzig wie je; sie ganz allein trug die Verantwortung für das, was geschah. Sie erlitt alle großen Qualen stumm, ihm ließ sie sein heiteres Gemüt … Daher lag sie auch auf dem Diwan, wo sie träumte, ganz ruhig und ohne das Gesicht zu verändern. Vielleicht ging der Atem schneller als in einem sorgenfreien Schlaf. Dies begriff auch Fritz Bergmann, als er eintrat, um sie abzuholen. Schnell weckte er sie auf und sagte ihr: »Los! Es ist angerufen worden. Ziehen Sie meinen Mantel über, setzen Sie meine Kappe auf! Dann gehen Sie allein zu der Maschine hinaus.«

»Ist es nicht doch besser, Sie kommen mit, Fritz?«

»Wenn ich mitkomme, Frau Rapp, dann können Sie das nicht tätigen, was Sie vermutlich vorhaben. Beim ersten Wort, das Sie an den Herrn richten, müßte ich als sein treuer Knecht Ihnen in die Fresse hauen. Seien Sie nicht böse, aber wir dürfen keine Zeit verlieren, daher werde ich deutlich. Gehen Sie jetzt?«

»Ja.«

»Ich habe den Motor schon auf Vollgas gelaufen und die Steuerorgane kontrolliert. Machen Sie das der Form wegen noch mal! Und gute Fahrt, Frau Rapp!« Er drückte ihr die Hand.

»Wie kommen Sie hier heraus, Fritz, wo man doch denken wird, Sie sind mit der Maschine auf dem Wege nach Berlin?«

»Das ist das wenigste.«

Da auch sie es im Grunde unwichtig fand, wie er sich aus der Sache zog, ging sie ihrer Wege.

Es wurde Abend. Große Sonnen glänzten von Masten herab um den ganzen Flugplatz, und leuchtende Röhren steckten ihn am Boden ab. Margo bemerkte sogleich, daß ihr Flugzeug jetzt Lautsprecher hatte, einen vor dem Sitz des Führers, einen in der Kabine. Sie waren nicht dagewesen und mußten in der vergangenen Stunde eingebaut sein. Margo hatte erwartet, sie werde mit beschriebenen Zetteln arbeiten müssen und trug sie fertig in der Tasche. Statt dessen hatte Fritz Bergmann den Sprechapparat angebracht. Er hatte sie selbst inzwischen schlafen gelassen; Margo wußte, daß es eine andere hätte rühren und ablenken können. Sie selbst war von jetzt ab nur Wille und Ziel.

Auf dem Flugplatz erschienen zwei Personen, eine dritte lief ihnen mit übertriebener Eile nach. Voran ging der Fahrgast – Karl der Große, wie alle ihn nannten, ohne ihn zu kennen. Margo sah, daß er klein von Gestalt war. Sie dachte, wie am gleichen Abend ihre Schwester Inge von dem prominenten Schauspieler: ›Er ist klein. Das ist etwas Neues. Wie behandelt man das?‹

Sein Chauffeur, der ihm die Decke und den Handkoffer nachtrug, überragte ihn, obwohl selbst nur mittelgroß, um einen Kopf. Margo hielt sich bei ihrer Betrachtung im Schlagschatten der Maschine. Sie hatte das Gefühl, daß die Kleinheit des Fahrgastes von Vorteil für sie sein werde. Als er nahe genug war, trat sie vor und legte die Hände an die Hosennähte, blieb aber im Schatten.

Die dritte, so eifrige Person war angelangt, sie stellte sich dem Fahrgast als ein Direktor vor. Der Fahrgast erwiderte ohne Höflichkeit: »Ich fliege privat.«

Es hieß klar, der Direktor könne gehen. Er versicherte gleichwohl, ohne daß er wagte, seinen Hut wieder aufzusetzen: »Wir stellen unseren zuverlässigsten Piloten zur Verfügung.«

Der Fahrgast erwiderte nichts. Das Wahrscheinlichste war für Margo, daß er von der Krankheit seines eigenen Fliegers nichts wußte, aber auch keinerlei Informationen wünschte – warum? Auch Trotz, meinte Margo. ›Er ist klein‹, bedachte sie.

Der Direktor nannte zweckloserweise sogar den Namen des Piloten: Fritz Bergmann. Entweder sah er schlecht, oder er machte stillschweigend mit Margo gemeinsame Sache, um nur nicht die Laune des mächtigen Passagiers noch mehr zu gefährden. Eine einzige Frage stellte er dennoch, sonst hätte sie dem Passagier auffallen können.

»Bergmann, wo ist Ihr Maschinist?«

»Dienstlich abberufen«, antwortete sie sinnloserweise, auf die Gefahr, daß der Fahrgast stutzte oder der Direktor ihn aufklärte. Ein kurzes Zögern trat wirklich ein. In diesem Augenblick, da sie so sehr daran interessiert war, ihren Passagier richtig zu sehen, wurde Margo klar, wo sie ihm hätte begegnen können: an der Volksuniversität, bei gelegentlichen Lehrstunden – als Träger einer völlig unbrauchbaren Weisheit, ›Paläontologie‹, dachte sie, ohne sich zu erinnern, was dies war.

Der große Kopf des kleinen Mannes hatte trotz Verbohrtheit und Unzugänglichkeit doch schließlich nur Stubenfarbe, eben das, was früher durchgeistigte Blässe hieß. Dieser Eindruck blieb, auch wenn seine Stirnwülste sich bedenklich zusammenzogen und sein Nußknackergebiß klappte. Er war ein überentwickelter Spezialist, sein Fach: zu herrschen – aber immer nur von einem unsichtbaren Punkt her; und augenscheinlich wußte er sich angesichts von Maschinen und angestrahlt von Beseg-Sonnen weder sachkundig noch entschlossen. Größer von Gestalt und seiner Muskeln gewiß, hätte er jetzt wahrscheinlich gesagt: Ohne Maschinisten starte ich nicht. Ihr seid wohl verrückt? Klein, wie er war, kehrte er Kälte und Trotz hervor.

»Ich wünsche keine Zeit zu verlieren.«

»Zu Befehl«, stieß der Direktor aus. Mit einem Blick des ohnmächtigen Mißtrauens über den fragwürdigen Piloten hin verzichtete er auf Erklärungen, Warnungen und alles, was den mächtigen Passagier aufhalten konnte. Zu seinem Unglück fiel ihm in letzter Minute doch noch eine Nebensache ein, die er für gut und unentbehrlich hielt.

»Dieser Pilot ist einmal sogar mit Flugbrand, aber ohne jeden Schaden für seine Fahrgäste gelandet.«

»Guten Abend«, knurrte hierauf Karl der Große unter Verzicht auf jede Form und stieg schon ein. Der Direktor räumte das Feld vermittelst Verbeugungen, die er mit Sprüngen nach rückwärts verband.

Margo auf dem Führersitz schnallte sich fest. Der stählerne Turm dort gegenüber zeigte ihr die Richtung, in der sie gegen den Wind zu starten hatte. Das Flugzeug mit ihr und ihrem einzigen Passagier stieg auf. Der Bodenscheinwerfer erhellte vor ihm her die ins Leere ansteigende Bahn.

Margo führte, ohne an sich zu zweifeln. Damit war sie vorher fertig geworden. Herzklopfen und die Unfähigkeit, die Hand vom Steuer zu nehmen – Absturz, Leichen und alle Qualen der Angst, das hatte sie geträumt und im Traum aus sich entfernt. Sie konnte fliegen, wußte es, dachte aber nicht weiter daran. Was sie allein beschäftigte, war ihr erstes Wort an den Passagier; davon klopfte ihr das Herz, sooft sie es innerlich aussprach. Nach einer langen halben Stunde sagte sie wirklich in den Lautsprecher:

»Wollen wir mal reden, mein Herr?«

Sie war in Verlegenheit wegen der Anrede. Exzellenz war nicht genug, Majestät außer Gebrauch. Übrigens wartete sie auf die Antwort vergebens. Sie hatte vorsorglich ihren kleinen Taschenspiegel in der Höhe ihres Auges angebracht; darin erblickte sie durch das Fenster, das ihren Raum mit der Kabine verband, sein Gesicht. War es erschrocken? Eher horchte es auf die sonderbare Annäherung mit einer Art Erfreutheit – als ob endlich etwas vorfällt, wenn schon zu lange alles glatt nach deinem Willen geht … Im Gegensatz zu seiner Miene, die er nicht beobachtet wußte, kam die Stimme schneidend scharf.

»Schweigen Sie!«

»Wenn Sie wünschen, mein Herr, sage ich nichts. Aber erstens sind meine Mitteilungen für Sie selbst nicht ohne Wert. Außerdem –«

Wie war Margo froh, daß der Propeller brauste und sie am nächtlichen Himmel in einen Apparat sprechen konnte – mit direktem Anschluß an höchste Mächte, denen wir aber doch lieber nicht ohne Schutz gegenüberstehen. Hier war sie in Deckung, war sogar Führer; und der mächtige Kleine brauchte sie für seine Sicherheit und sein Leben.

»Außerdem, wenn wir nicht reden wollen, mein Herr, gehe ich in elegantem Gleitflug nieder. Die Gegend kenne ich.« Sie hatte keine Ahnung. »Nur Gehöfte, meilenwert kein Telefon.« Sie wußte wohl, daß dies nicht vorkam, aber auch, daß der Paläontologe es ihr glauben werde. Notwendig mußte sie sich vor allem darauf einstellen, ihm die Gefahren seiner Lage ins Bewußtsein zu rufen. Dennoch verriet ihr ein Instinkt, daß sich noch anders, noch anders auf ihn wirken lasse.

»Sie kämen mit einer ganz bedeutenden Verspätung nach Berlin, mein Herr.«

Sie atmete nicht. Die erste Antwort erfolgte.

»Ist Ihnen klar, daß Sie von Ihrer Gesellschaft entlassen und von mir zur Verantwortung gezogen werden?«

»Ja.«

»Sie finden niemals wieder eine Stellung. Ihre Handlungsweise soll Ihnen demnach Geld bringen. Wieviel?«

»Ihre Auffassung, mein Herr, ist abwegig«, äußerte sie noch, aber hier sackte das Flugzeug in ein Luftloch. Bis alles wieder in Ordnung war, hatte er seine Frage vergessen. Ihr Glück war, daß er so selten flog.

»Sie können nicht führen!« Das verzerrte Gesicht, das dies hervorbrachte, erschien ihr im Spiegel.

»Ich habe allerdings noch keinen Führerschein. Aber das kommt nur daher, daß –«

Sie stieß einen Schrei aus, als ob schon wieder ein Zwischenfall bevorstände. Sofort zeigte sein Gesicht nicht mehr das vorige Erschrecken, dafür aber einen guten Teil Verwirrung und Neugier.

»Sie sind ja eine Frau!«

»Ja, und nur darum habe ich den Führerschein noch nicht bekommen.«

»Was machen Sie denn für Sachen. Fürchten Sie gar nicht, daß Ihnen etwas passiert?«

»Mir? Ich bin nicht wichtig. Aber dann verunglücken auch Sie, das wäre schlimmer. Daher seien Sie nur ganz ruhig, ich kann. Ich kann fliegen.«

Sie sprach klar, sachlich – und mit dem sicherer werdenden Eindruck, daß jetzt bei ihm das andere drankam, jenes andere, das sie vorausgeahnt hatte. Sein Gesicht im Spiegel wurde schüchtern anzusehen; er hatte ein menschliches Herz, und zuzeiten machte es ihm Verlegenheit. Es gehörte zu seinen Funktionen nicht, ein menschliches Herz zu haben. Immerhin wurde der Schade geringer, wenn er allein mit einer Frau, die offenbar verzweifelt war, den Nachthimmel entlangflog. Sie hatte sogar den Scheinwerfer abgestellt. Daher sagte er: »Wir wollen reden.«

»Ich weiß, daß es nur Ihr freier Wille ist.«

»Nein. Sie zwingen mich. Aber das will ich vergessen haben, wenn wir wieder unten sind. Ich werde sehen, ob ich auch, was Sie mir zu eröffnen haben, einfach vergessen kann«, schloß er mit Strenge.

»Nein, das werden Sie nicht können. Sie werden im Gegenteil noch oft daran denken, denn so etwas haben Sie noch nicht gehört; und werden auch gewisse Befehle geben …«

»Ich warte«, entschied er.

»Ich heiße Margo Rapp. Ich bin eine Angestellte des Konzerns.«

»Und Sie konnten wagen –?«

»Mein Vater ist der Oberingenieur Birk. Der hat wohl nicht genug gewagt, denn Sie haben ihn vergessen.«

Keine Antwort, denn so war es. Birk war vergessen am Sitz der Macht. ›Den konnten wir vergessen?‹ Der Fahrgast wunderte sich. ›Ein Entdecker und Pionier, noch aus dem heroischen Zeitalter der Technik.‹ Er begriff: ›War zu selbständig, sie haben ihn auf das tote Geleise geschoben. Nur einer kann ihn wieder vorholen. Ich.‹

»Nun ist etwas vorgekommen, das Sie unbedingt wissen müssen. Benutzen wir mal die einzige Gelegenheit«, sagte Margo.

»Einverstanden«, sagte der Passagier.

»Mein Vater hat eine weittragende Erfindung gemacht, ein Sprengmittel von äußerster Brisanz.«

»Die hätten Sie mir wahrhaftig auch unten vorführen können.«

»Ich denke nicht daran, Ihnen etwas vorzuführen. Es soll nur bis zu Ihnen dringen, daß ein armer Erfinder um das Ergebnis seiner langjährigen Geistesarbeit sofort beklaut wird von Leuten, die flüssiger sind oder die ihm schaden können.«

»Wer ist das in Ihrem Fall.«

»Vor allem der Konzern selbst. Wenn es auf Generaldirektor Schattich ankommt, dann zahlt der Konzern so gut wie nichts für einen unerhörten Sprengstoff, der in seinen Laboratorien hergestellt ist.«

»Das entspricht dem Gesetz. Ich habe nicht die Absicht, es zu ändern.«

»Schön. Aber andere umgehen es. Sehen Sie sich doch Schattich näher an! Wir wollen die Erfindung unseres Vaters nach dem Ausland verkaufen.«

»Industrieverrat!«

»Das ist uns bei der Gelegenheit genügend klargemacht worden. Das vergessen wir nie wieder. Aber meinen Sie, daß Ihr Schattich sich deswegen Zwang antut? Der ist keß, der Junge. Gleich eine eigene Gesellschaft will er gründen zur Ausbeutung der großen Sache, die er uns abjagt. Natürlich geht sie dabei auch dem Konzern durch die Lappen.«

»Das wird ihm ebensowenig gelingen wie euch.«

»Weiß ich. Ihre berühmte Kontrollabteilung. Ach! Hat die meinen Mann gehetzt, als er überhaupt nur irgend etwas herausholen wollte aus der großen Sache für uns kleine Leute! Die arbeitet für die Großen, und achten Sie mal drauf, wie viele Millionen Herr Schattich nächstens nach der Schweiz überweist! Dafür hat er seinen Freund List, der bekannte Großkaufmann Egon von List in Berlin. In dessen Haus haben sie auch meinen armen Emanuel gelockt – und grade jetzt haben sie ihn in Arbeit! Jetzt haben sie ihn vielleicht schon –!« Ihr schlugen die Zähne aufeinander, nur darum stockte sie, nicht wegen aufsteigender Tränen. Margo weinte nicht.

»Sie scheinen für Ihren Mann zu fürchten. Lassen Sie das nur, junge Frau. So sträflich setzt die Weltordnung denn doch nicht aus.«

»Meinen Sie? Wir können wohl nicht jeden Augenblick aus der Luft abstürzen? Und dabei führe ich hier wenigstens allein!« rief sie mit Empörung.

Dies Wort, dieser erschreckende Ton zwangen den kleinen, so mächtigen Mann jäh zur Einsicht. Ihm entrückt, gab es tatsächlich niedrige Kämpfe, Nöte, Verbrechen; er konnte sie weder ausschalten, noch jederzeit ganz beherrschen. Er mußte sich wohl herbeilassen, sie anzuerkennen und sie auszugleichen, wenn es sein konnte – die Gerechtigkeit herzustellen, soviel davon in seiner eigenen Weltordnung gelegentlich und ausnahmsweise einmal Raum fand.

»Sollte dieser Herr Schattich auch nur einen Teil Ihrer Anklagen wirklich gerechtfertigt haben, dann, verlassen Sie sich darauf, hat seine Stunde geschlagen.«

»Sie zweifeln noch! Wem wollen Sie denn glauben? Ihrer schönen Kontrollabteilung?«

»Ich bin auf meine Organe angewiesen. Wenn ich aber das Auge auf sie werfe, versagt keins.«

Sie dachte: ›Und so was regiert die Welt!‹

Laut sagte sie: »Jetzt, wo Sie alles wissen, kriege ich erst richtige Lust, Schluß zu machen und den Motor abzustellen.«

Nicht ohne das dunkle Gefühl, etwas verschuldet zu haben, bat er: »Nicht verzweifeln, junge Frau! Das Leben ist so groß. Was alles könnt ihr anfangen!«

»Wir wollen nicht. Wir haben allmählich gemerkt, es führt zu nichts. Und mein alter Vater?«

»Der soll in meine Nähe kommen. Das verspreche ich.«

Im Spiegel sah sie ihn lächeln.

»Soweit nach der Landung die Zugeständnisse noch gelten, die Sie mir hier oben abpressen.«

»Dann nehmen Sie mal jedenfalls Ihren Füllfederhalter vor! Notieren Sie sich! Ich heiße Margo Rapp –«

›Und bin eine Heldin‹, ergänzte unhörbar Karl der Große.

»Mein Mann, der unsere Erfindung verkitschen sollte, ist Emanuel Rapp, auch ein Angestellter des Konzerns.«

»Ich wußte nicht, wie viele pflichtvergessene Angestellte der Konzern hat.«

In seinem Gesicht war vielmehr zu lesen, daß ihm unbekannt geblieben war, wie viele Ängste – und wieviel Mut es gab.

»Meine Schwester Inge Birk arbeitet auch bei uns. Sie ist unbeurlaubt wie wir alle nach Berlin gefahren Emanuels wegen – nur, um ihn zu warnen, nur, um ihn zu warnen!« stammelte sie, zum ersten Mal mit erstickter Stimme.

»Das ordnen wir«, verhieß er, als wäre er schlechthin allmächtig.

Schließlich sagte sie: »Dann noch Fritz Bergmann, dem darf nichts geschehen. Er ist der Pilot, der Sie heute führen sollte, und mich hat er mit Ihnen fliegen gelassen.«

Wer hätte es gedacht, Karl der Große erwiderte: »Es war mir ein Vergnügen.«

Bald nachher landete das Flugzeug.

Der Werkmeister des Flughafens Tempelhof wurde auf Margo aufmerksam. Glücklicherweise erwartete ihren Passagier auch hier wieder sein Auto. Er befahl dem Chauffeur: »Mein Pilot sitzt neben Ihnen.«

Sie verlangte nach dem Hause des Herrn von List gebracht zu werden. Sie fand die Tür noch offenstehen, denn den Augenblick vorher war die verwundete Inge in Begleitung Emanuels davongefahren. Sie blickte in klaffend leere Zimmer, und der übelgelaunte Diener fragte sie, was sie zu dieser Zeit hier suche.

Margo kehrte um. Sie nahm den Autobus bis nach ihrem Bahnhof. Hier stellte sich heraus, daß für den Schnellzug ihr Geld nicht reichte. Sie mußte doch wenigstens einen Kaffee trinken. Dann wartete sie bis zum Morgen. Sie war mit Karl dem Großen hergekommen. Zurück fuhr sie vierter Klasse.


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