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Zwölftes Kapitel

Im Arbeitszimmer wurde Nora erwartet, alle drei Versammelten waren sogar etwas in Unruhe. Die Kleine sagte zum viertenmal: »Ich verstehe nicht, Margo. Laß dich doch losmachen!«

»Nein, du verstehst nicht, Susi.«

»Ich auch nicht, Frau Rapp.«

»Sie auch nicht, Bergmann. Ich will sichergehen. Solange ich an Sigi gefesselt bin, habe ich mein Alibi.«

»Dafür, daß Sie hier nichts geklaut haben?« fragte Flieger Bergmann.

»Heißt er Sigi?« fragte Susi und untersuchte die Puppe. Ihre große Schwester bemühte sich, ihre Bewegungen so einzurichten, daß Susi von Sigi eine Ohrfeige bekam. Aber wenn man es wollte, ging es nicht. Er schlug vorbei.

»Etsch«, sagte die Kleine. »Aber er ist ein süßer Junge, ich würde ihn auch nicht loslassen.«

»Nicht dafür, daß ich hier nichts geklaut habe«, erklärte Margo. »Ich muß beweisen können, daß ich mit Schattich nichts habe. Er ist bösartig, er sagt einfach, ich habe ihm nachgestellt.«

»Die Alte hat dich doch schon gesehen.«

»Die hat in ihrer furchtbaren Aufregung vorhin überhaupt nichts gesehen. Sie ist hier durchgerast, sie wollte nicht hören, daß der Schlüssel zu der hinteren Tür auf dem Schreibtisch lag. Erst hat sie gerüttelt, ohne zu hören. Dann hab ich dir, Susi, gesagt, du sollst ihr den Schlüssel bringen. Sie hat die Tür nicht aufgebracht, sie war zu stürmisch. Du hast die Tür aufgemacht. Nun los, sie haut ab und widmet sich Schattich.«

»Ich möchte nicht in seiner Haut stecken«, sagte Fritz Bergmann. »Die Keile!«

»Es setzt keine Keile, Bergmann. Ich glaube, es setzt Schlimmeres.«

»Schießt sie?« Susi suchte schon den Ausgang. »Laß dich von Fritz lieber losmachen, Margo!«

»Bleibe mal hier! Du warst doch bei dem Einbruch so tapfer.«

»Da war auch Fritz dabei, und geschossen wurde nicht.«

»Ich weiß nicht«, meinte Margo. »Im Notfall hätte der Einbrecher natürlich schießen müssen.«

»Nein!« behauptete Bergmann. »Nein, Frau Rapp, das doch nicht.«

»Zeigen Sie mal, ob Sie keinen Revolver tragen«, verlangte sie, und plötzlich sah sie ihn an.

»Wie komm ich –? Was hab ich –?«

»Sie sind vertattert, das ist das gute Gewissen«, ergänzte Margo ruhig.

Die kleine Schwester verstand dies nicht; sie wollte noch immer Margo überzeugen, daß sie sich besser von Sigi losbinden lasse. Sie brachte vor: »Die Alte hat dich und Sigi ganz genau besehn – durchs Schlüsselloch, meine Liebe.«

»Frau Nora Schattich sieht durch Schlüssellöcher?«

»Wenigstens durch dieses. Ist das wahr, Fritz? Wie wir beide zu ihr kamen, rannte sie durch ihre knorke Zimmerflucht und paffte. Angezogen war sie, wie zum Großausgehen. Meine Herren! Bis die begriffen hat, wer wir waren und was wir wollten. Sie dachte wohl, wir wollten sie auf die Hucke nehmen. Dann kommt sie mit uns, als ob sie eine geblästert gekriegt hätte. Hier vor der Tür sagt sie zu mir: ›Kiek mal durch!‹«

Die Kleine öffnete und schloß jene Tür, sie machte den verstörten Gang der Dame, alles mimte sie. Ihre erfahrenere Schwester dachte: ›Bedeutet das nun ihre künftige Chance – oder vergeht es? Mir ist, als wäre im Leben das meiste von selbst wieder vergangen, bevor wir es uns richtig angeeignet hatten.‹ Etwas zog ihr die Brust zusammen, ohne daß sie ausdrücklich Emanuel meinte.

»Ich kieke auch«, sagte Susi weiter, »und sehe dich dasitzen und schreiben. Schattich diktierte. Konnte ich wissen, daß es Sigi war? Er machte es täuschend. Ich erzählte der Alten: ›Gnädige Frau, ich weiß nicht, was meine Schwester gehabt hat. Hier stimmt das meiste, sehen Sie selbst nach.‹ Aber das Aas spielt mit ihrer Perlenkette und will nicht ran. Auf einmal zischt sie: ›Schnell ins zweite Zimmer!‹ Erst als wir uns verzogen hatten, sag ich dir, hat das Aas gekiekt.«

Nora Schattich am Schlüsselloch! Der hundertjährige Stolz einer ganzen Klasse gebeugt und niedergetreten, Margo fühlte es. Sie war geeignet und begabt, manches zu erleben und ahnte es schon in dem, was eine andere erlitt. Eben darum hielt sie die Keile und den Revolver noch nicht für das Ärgste.

Inzwischen hatte Flieger Bergmann sich das Seine überlegt. Nahe bei Margo, sagte er leise, aber bestimmt: »Ich habe noch was auf dem Herzen, Frau Rapp.«

Sie antwortete nicht, sah ihn aber abwartend an. Er wandte sich daher nach Susi um.

»Moment mal, Kleine, ich hol dich aus dem zweiten Zimmer wieder ab.«

Sie ging auch. Was sie für Gesichter schnitt, war ihm gleich. Er hatte damit zu tun, wie er anfangen sollte. Er dachte: ›Warum nicht?‹

»Es ist etwas anderes, weshalb ich vertattert war, und das müssen Sie wissen, Frau Rapp«, sagte er in einem Zuge. Ihr dunkler Blick fragte: nun? Er mußte vorwärts.

»Sehen Sie, ich wollte schon immer mal zu Ihnen rauf, abends, wenn ich wußte, Ihr Mann war auf Tour mit Fräulein Inge.«

Wenn er darauf gerechnet hatte, dies werde sie richtigstellen wollen – sie schwieg weiter, er mußte vorwärts.

»Das müssen Sie mir lassen«, versuchte er, »ich hab mir bei Ihnen nichts herausgenommen. Wieso, das ist noch nicht heraus. Ich bin bei den Damen sonst anders. Ich habe Sie in mein Flugzeug eingeladen, dann hab ich Ihnen den Unterricht gegeben – alles umsonst, aber ich dachte mir was dabei, wie ich heute anstandslos zugebe. Aber Sie dachten sich nichts dabei«, ergänzte er sofort. »Soweit kenne ich Sie, Frau Rapp. Sie dachten sich nicht die Spur dabei. Einen Jungen wie mich können Sie nicht ernst nehmen. Wie? Das liegt Ihnen nicht.«

Angesichts seiner Dringlichkeit durfte sie nicht mehr stumm bleiben.

»Seit heute nehme ich Sie für voll«, äußerte Margo. »Bergmann, das ist komisch; Sie haben sich einen Auftrag geben lassen, den sollten Sie ausführen bei mir oben. Und das hatten Sie nötig, damit Sie sich endlich hinaufwagten.«

»Stimmt. Solch ein Auftrag macht mir sonst nichts aus. Unsereiner hat höhere Stellen hinter sich und geht auf sicher. Verdiene, wo dir keiner was kann, nicht wahr? Aber diesmal, Frau Rapp … Aber diesmal, Frau Rapp!«

Margo half ihm aus Mitleid.

»Sie dachten, ich wäre zu Hause und würde Sie überraschen?«

»Und dann hätte ich natürlich keinerlei Verantwortung übernommen für die möglichen Folgen.« Er gab sich um so gefährlicher.

Sie errötete, sagte aber: »Sie haben Ausdrücke wie eine Zeitung für Geschichten, die Sie sich bloß ausdenken und nie getätigt hätten.«

Er hielt die Stirn gesenkt und den Blick in ihrem: »Frauen wie Sie stoßen immer ganz nah an die tollsten Sachen – und merken es nicht«, schloß Flieger Bergmann, bewundernd sowohl wie entmutigt.

»Ist es jetzt nicht doch besser, daß ich hübsch fortblieb, als Sie gerade in der Stimmung waren, Gewalt zu brauchen, Bergmann? Dann könnten Sie jetzt nicht mehr so mit mir reden.«

Er – überaus lebhaft, mit blauem Blick: »Und könnte Ihnen auch meine tatkräftige Hilfe nicht anbieten, Frau Rapp. Meinen Sie, ich rieche nichts? Es stinkt doch nach Geld. Sie werden mal eine reiche Frau, wenn Sie auch vorher noch auf ernste Schwierigkeiten stoßen dürften.«

Sie fühlte, daß er sich gewählt ausdrückte ihr zu Ehren und weil er etwas Entscheidendes zu sagen vorhatte. Es kam auch.

»Sehen Sie, Frau Rapp, ich habe zuerst mal mitgenommen, was mir die andern verdienen ließen.« Nachgrade ging seine Erregung auch sprachlich mit ihm durch. »Nu bin ich für Sie zu haben mit meine Maschine, und wenn's 'n Kopp kost'. Ein Anruf von Ihnen, und ich sabotiere den ganzen Flugdienst. Ich mach, was Sie wollen, Sie sind die Befehlsstelle! Wenn der Fall eintritt, denken Sie dran!«

Er gab sich aus, wie sie wohl merkte. Er folgte einem Drang. Nur noch in Demut und wilder Unterwerfung konnte er seinen Vorteil finden; aber es berührte sie peinlich. Sie war froh, daß an der hinteren Tür gepoltert wurde. Nora Schattich stieß dagegen, ohne sogleich den Griff zu finden; denn ihr verschwamm alles. Bevor sie im Zimmer stand, hatte Bergmann es verlassen.

Sie stützte sich mit der Hand gegen die Wand. Sie hatte, um dort unten ihren Abgang zu retten, ihre vorläufig letzte Kraft verbraucht. Kaum daß ihre Sinne sich sammelten, sah sie jene junge Person dasitzen – noch immer dieselbe junge Person gegenüber der trügerischen Puppe. Der Anblick traf Nora, wie alles, was sie haßte: ihr eigenes Alter, die Tücke Schattichs und der Triumph des Lebens über sie selbst. Sie hätte weinen mögen, aber dies verhinderte ihr Stolz. Sie wurde auch nicht laut; sie überlegte bei ihren Worten, wohin sie traf; es kam herablassend, fast sanft.

»Sie sind ein kluges Kind. Sie warten hier in aller Stille, damit Herr Schattich sich überzeugen kann, daß Sie ihm treu sind. Inzwischen hat er sich allerdings umgestellt – auf Ihre Schwester Inge.«

Margo zuckte die Achseln. »Meine Sorge«, glaubte Nora zu verstehen und war ehrlich entrüstet.

»Sie haben einen Grad von Unmoral erreicht, liebe Kleine! Er soll Sie doch heiraten.«

»Aber gnädige Frau! Ihr ausdrücklicher Wunsch war, daß ich mit ihm nach Berlin gehe. Sie verlangten sogar noch mehr von mir, ich danke vielmals.«

»Kommt es Ihnen darauf wirklich noch an? Wer alles so geschäftsmäßig behandelt wie Sie – und Ihre Altersklasse! Ich machte einen Versuch mit Ihnen, Sie intrigantes Püppchen –«

»Ich habe nicht Ihre groben Knochen.« Margo ärgerte sich – was falsch war. Nora bekam dadurch eine Art Zärtlichkeit, die dennoch eisig klang; es wirkte lähmend.

»Ich erlaubte Ihnen alles, was nötig schien, damit Sie die Absichten Schattichs herausbrächten. Nun? Was plant er für Berlin?«

»Fragen Sie ihn doch, gnädige Frau! Vielleicht nimmt er Sie statt meiner mit?«

»Oh! Ich begleite ihn, sobald ich will. Ich habe ihn in der Hand – und ebenso Sie. Merken Sie es sich!« Nora wuchs. Auch redete sie immer flüssiger. »Sie wissen natürlich, was in Berlin geschehen wird. Darüber haben Sie sich mit Ihrem künftigen Mann verständigt. Ihr tätigt gemeinsame Geschäfte. Ich war geschäftlich nie mit ihm versippt. Ich weiß, mir werden Sie nichts verraten. Dagegen eröffne ich Ihnen –«

Nora sprach weiter, aber Margo verlor den Faden. Sie mußte daran denken, daß sie tatsächlich nichts erfahren hatte. Es sah auch nicht aus, als ob sie etwas anderes als falsche Versprechungen von ihm hören sollte. Er, sie beteiligen, wenn sie ihm das Sprengmittel auslieferte! Er, sie heiraten! … Margo hatte so viel berechnet. Inge dagegen, die ebenso ahnungslos wie nackend dasaß und sich das Gesicht beschmierte, erfuhr alles anstatt Margos, so verlief es. Margo wieder bekam eine völlig unverhoffte Hilfe von einem Mann, an den sie nie vorher gedacht hatte. Denn was Flieger Bergmann versprach, stand fest wie Eisenbeton … Indessen begann Margo zu verstehen, daß Nora Schattich ihr drohte.

Die Dame im großen Abendkleid verhieß, daß sie Margo erstens werde wegen Ehebruchs einsperren lassen, aber das sei noch nichts. Sie werde alle ihre Ansprüche gegen Schattich mit äußerster Rücksichtslosigkeit durchkämpfen.

»Leute wie ihn überschätzen die Gerichte. Ich werde mehr zugesprochen bekommen, als er wirtschaftlich verträgt – oder als er sich zutraut, denn er ist im Grunde ein Feigling, nur ich allein kenne ihn. Ich werde dafür sorgen, daß er unmöglich wird und daß er zusammenbricht. Dann, mein Schatz, stehen Sie da!«

Das vertrauliche Wort war ihr erster Siegesschrei.

Margo sagte: »Sie sind ganz schön gemein.«

Da schlug Nora sich auf die Brust und rief: »Gott sei Dank!« Sie senkte die Stimme und zischte: »Wer zwang mich, durchs Schlüsselloch zu sehen?«

Margo selbst bekam die Schuld – auch darauf war sie nicht gefaßt gewesen, obwohl es stimmte. Aber die anderen Abende, als Marietta hier bei Sigi gesessen und Nora auch schon das Schlüsselloch benutzt hatte? Davon war nicht die Rede. Im Gegenteil, ihr Haß auf Margo fand immer neue Gründe, Nora kam auf das Furchtbarste zu sprechen. Sie sagte auch dies wieder mit jener vereisten Zärtlichkeit, die Margo lähmte.

»Sie haben mir den guten Gedanken eingegeben, ihn umbringen zu lassen. Nannten Sie mir nicht sogar einen Mörder? Wenn ich es nun tue, mein Kind: merken Sie sich, daß ich in meiner Lage medizinisch wie juristisch außer aller Verantwortung sein würde – wenn meine soziale Stellung mich nicht ohnedies schützte.«

»Sie müßte man auf der Stelle hoppnehmen«, seufzte Margo schreckensvoll. Mit dieser gefährlichen Person hatte sie, warum nur, von Mulle gesprochen. Es mußte aus bloßem Eifer für die gute Sache, aber ohne ernste Absicht geschehen sein, dachte sie noch schnell zu ihrer Entschuldigung. Aber die andere äußerte schon: »Sie allein sind dann die Anstifterin.«

Der größeren Eindringlichkeit wegen sagte sie es über den Tisch zu Margo hingebeugt. Sie hätte es nicht tun sollen. Margo sah sich in ihrer Kraft und Besinnung bedroht. ›Sie hypnotisiert mich!‹ fühlte sie, und plötzlich machte sie Bewegungen, wie um sich zu befreien. Dies veranlaßte ihren Freund Sigi, wild um sich zu greifen. Nora geriet dabei in seinen Arm, auch sie verlor die Kaltblütigkeit und schrie. Sigi zerriß ihr das Kleid, er kratzte sie. »Halten Sie doch still!« flehte die Dame, aber Margo hatte alles satt, sie riß an den Fäden, es würgte sie, um so heftiger wurde auch Nora beengt von Sigi und seiner Umarmung. »Soll das mein Ende sein?« fragte sie, die Augen verdreht.

Noch rechtzeitig lockerte sich der Griff der Puppe, denn Margo hatte endlich alle Fesseln abgestreift, und das besänftigte Sigi, er ließ von seinem Opfer, er glitt zu Boden. Beide Frauen atmeten beschleunigt. In der Tür standen, gebannt von dem Gesehenen. Fritz Bergmann und die kleine Susi. Margo lief und stolperte zu ihnen hin. Nora röchelte: »Jetzt wieder die!« Sie fiel erschöpft in den nächsten Klubsessel.

Sie hatte die Augen geschlossen in der Hoffnung, während sie nicht hinsähe, werde sich manches bessern. Wirklich, Nora öffnete die Lider, und ein Teil der Erscheinungen war verschwunden, vom Eingang her starrte niemand mehr. Sie war allein im Zimmer – ungerechnet ein zusammengesacktes Kleidergestell, das elende Werkzeug der Schattichschen Ränke.

Die Erinnerung hieran machte, daß es im Kopfe der Beleidigten vollends klar wurde. Sie überblickte die Lage und ihre Pflichten gegen sich selbst. Sie sollte fortgeworfen werden, wie ein getragener Hut. Sie hatte Herrn Schattich einzig und allein als Trittbrett dienen dürfen bei seinem Aufstieg – aus der Unterwelt, aus der Gosse. Ihre Familie, ihr Geld im Dienst eines mittelmäßigen Abenteurers! Die Ihren waren hundert Jahre lang reich gewesen. Die Sorte Schattich rutschte schon beim nächsten Skandal mit ab, wie – wie die Puppe, von der er sich hatte vertreten lassen. ›Und die kann für ihn auch Reichskanzler sein!‹

Nora faßte Mut, ihre Stimmung hob sich durch die Bilder und die Übertreibungen, die ihr Geist fand, durch den getragenen Hut und den Mannequin als Reichskanzler. Sie faßte nach ihrem Halsband, um gewohntermaßen damit zu spielen, entdeckte aber, daß es zerrissen war. Vielleicht Egon von List, als sie ihn an die Wand stieß? Wo blieb Schattich! Sie hatte ihm einiges zu sagen; aber zuerst die Perlen! Hier waren Perlen verlorengegangen, und auch der Geist Noras beharrte unter Umständen bei dem Nächsten. Da erblickte sie zwischen den Fingern des besiegten Sigi ein Stück Silberflitter. Es war aus ihrem Kleid, der Bursche hatte es herausgefetzt.

Nora schloß, daß er auch die Perlen über den Teppich verstreut hatte. Sofort entschied sie, Schattich habe am Boden umherzukriechen und sie zusammenzusuchen. Wo blieb Schattich, sie hatte ihm einiges zu sagen. Keinen Augenblick länger konnte sie es bei sich behalten. Er mußte ihre Chancen kennen, mußte wissen, daß er in ihrer Hand war. Auf ihre Weisung kroch er. Oh! Es stand mit ihnen beiden jetzt nicht mehr wie seit dem Verlust ihres persönlichen Vermögens. Von heute abend ab nicht mehr! Einst hatte es genügt, daß seinesgleichen ihr Vermögen, uralten Familienbesitz, der Entwertung überließ, während der Raub an ihresgleichen neue, blutige Vermögen begründete, darunter seins. Das war genug, um seinen Typ herrschend zu machen, wobei der ihre veraltete.

»Ich bin veraltet, wie?« sprach sie laut aus. Sie wollte es einmal hören. Die neue Gesellschaft hatte sie es nur wortlos empfinden lassen, als sie die Frau des Reichskanzlers war. »Mit Recht!« sprach sie laut. »Ich habe mir eines Abends erlaubt, eine der offiziellen Damen an die Tage zu erinnern, als sie ihrem lieben Mann die sogenannte Menage eigenhändig hintrug, und er regierte grade. Sie haßten mich mit Recht. Ich führte literarische Unterhaltungen, mein Gott! Das allein zeigte den Abgrund. Aber ich beherrschte auch noch die Diplomatensprache der Kaiserzeit, wir hatten Gesandte in der Familie. Wie hätten die unwissenden Revolutionsgewinner mir meine Herkunft und Erziehung verzeihen können, selbst wenn ich die Vorsicht gebraucht hätte, mich anzuziehen, wie ihre Damen.«

Das Selbstgefühl Noras trug sie immer höher.

»Und der Botschafter, der mich heiraten wollte? Es hätte einen europäischen Skandal gegeben, im letzten Augenblick schreckte ich davor zurück. Übrigens hätte der Botschafter seinen Abschied nehmen müssen, denn ich war eine frühere Feindin seines Landes. Wozu dann der Zimt. Ich bin ein Opfer der Politik.« Dies erinnerte sie an noch älteres Mißgeschick. »In meiner Jugend, als der Flirt mit einem hochadligen Offizier zu nichts führen konnte, unterlag ich den Klassenvorurteilen. Glücklicherweise ist Schattich da, um mir für alles zu büßen. Er hat mir meine Jugend gestohlen.«

Nora war angelangt bei dem furchtbarsten aller Vorwürfe, ihn ließ sie nicht wieder los. Ihr Mann hatte die Schuld, wenn sie älter wurde. Von jetzt ab schlug ihr Haß nur noch haushohe Wellen. Seine Ordinärheit entsprach ihren Mißerfolgen, sein Geld ihren Jahren – und nichts, was nicht in ihrer Brust sich heranwälzte und hochging. Sie mußte aufspringen und wieder einmal umherlaufen, die Hände auf dem Rücken. Auch jener Prinz fiel ihr ein, er fehlte noch grade zu ihrem inneren Unwetter.

Einst war sie dem Prinzen vorgestellt worden während der großen Manöver. Ihr Vater kannte sogar den Kaiser! Als Frau des Reichskanzlers wollte sie den Prinzen heranziehen, ihn an sich erinnern und einen Ruhm erneuern, der ihr endlich nicht von dem Emporkömmling Schattich kam. Sie selbst durfte den Prinzen nicht einladen, ihr war nur erlaubt, ihm in einem befreundeten Hause zu begegnen. Es gelang auch. Die Dame des Hauses führte Nora Schattich durch die versammelte Gesellschaft dem Fürstensohn entgegen. Der hört ihren Namen; und während die Unglückliche noch im Hofknicks verharrt, sagt er laut zu seiner Umgebung: »Die Frau des Schiebers?« – Als sie aufkam, hatte er sich umgedreht; sie stand da – milde Seelen erklärten ihr, warum. Der Prinz hatte unlängst sein Gut verkauft, Schattich hatte sich als Vermittler eingeschaltet und um eine halbe Million zuviel verdient. Damals gehörte er natürlich noch nicht der Regierung an.

Nora lief durch das Zimmer wie gehetzt. Sie machte volle Beleuchtung; keine Helligkeit war blendend genug, wenn der Mann, den sie haßte, in den Bereich ihrer blitzenden Blicke trat … Grade dachte sie an den Glanz ihrer Augen, da sah sie in der vollen Beleuchtung am Boden gleich zwei Perlen schimmern. Nora hob sie auf und ging weiter – weniger schnell, aber immerhin tat sie vor sich selbst, als suchte sie nicht. Sooft sie wieder eine fand, nahm sie die Perle vom Teppich, wie abwesend. Das letztemal war das, was glänzte, nur eine Stecknadel. Genau hierbei trat Schattich ein. Nora kam eben noch hoch.

Schattich hatte einige Zeit verstreichen lassen, bevor er nachsah, was seine gefährliche Frau anstellte. Gern hätte er sie ihrem Schicksal überlassen und wäre beim Morgengrauen abgereist mit seinem Freunde List im Flugzeug, ohne Nora wiedergesehen zu haben. Herr von List mußte ihn daran erinnern, wessen eine Frau ihres Alters fähig sei. Nora konnte ihnen nachkommen, was unerwünscht war bei den Dingen, die sie vorhatten in Berlin. Trotzdem bestand Schattich darauf, zuerst noch mitzugenießen – das ausschweifende Fest seines Vereins zur Rationalisierung Deutschlands. Das sollte eine Nacht werden! Statt dessen beförderte Herr von List ihn mit Gewalt den Weg zu Nora. Er mahnte:

»Halten Sie sich gut! Wir können neue Schwierigkeiten nicht brauchen. Es würde mich wundern, wenn Ihre Frau sich nicht für die Erfindung interessiert und mit der Gegenseite zusammengeht. Das wird sie bei der Scheidung auch noch herausholen wollen.«

»Erpresser haben bei mir noch immer schlecht abgeschnitten«, versicherte Schattich. »In spätestens einer halben Stunde bin ich wieder hier, solange halten Sie mir das Nacktballett warm!«

»Sonst um sechs Uhr auf dem Flugplatz«, mahnte Herr von List, der Zweifel hegte. Sie waren angelangt, er empfahl sich plötzlich. Schattich stieß mit Wucht die Tür auf; Nora kam vom Boden hoch. Sie sagte ganz gegen ihre Absicht: »Willst du die Güte haben, mir einige Perlen suchen zu helfen?«

»Ich kann mir grade jetzt etwas Nutzbringenderes denken«, entgegnete er nicht ohne Hohn.

»Für dich?« fragte sie. »Das bezweifle ich. Das wahrscheinlichste ist, daß du ausgespielt hast. Krieche nur ruhig über den Boden, wie es dir zukommt. Als du um mich anhieltest, fielst du auf die Knie, was die kleinen Leute sich damals vielleicht leisteten.«

Faustschlag auf den Schreibtisch – und wer dastand vor der Erschreckten, war der Staatsmann in ganzer Größe, grade greift er zum roten Portefeuille und droht dem Reichstag mit Auflösung!

›Er hat einen Domkopf‹, stellte sie zu ihrer Ermutigung fest. ›Er hat ihn immer gehabt. Seinesgleichen haben alle einen Domkopf.‹ Im Geiste erblickte sie eine ganze Galerie von Führern der Wirtschaft und des Staates. Bei allen verjüngte sich derselbe kahle Schädel nach oben und lag als unnötig hohes Gewölbe unter der vollen Beleuchtung.

»Zur Sache!« ordnete er an. »Es handelt sich nicht um deine geistvollen Urteile.«

»Dann also um die der Gerichte!«

»Mit denen verhandle ich hintenherum. Mach dir keine Hoffnung, der Ertrag deines Unternehmens wird mäßig sein. Du suchst dir für deine Scheidungssache ein Jahr aus, wo du glaubst, daß ich geschäftlich weit vorn liege. Du irrst. Wenn es darauf ankommt, bin ich mittellos und kann es beweisen. Meine geschiedene Frau kommt in eine Pleite hinein.«

Er tat, als hätte sie Grund, zu erschrecken, während sie diesmal doch nur schwieg und mit den Augen blitzte.

»Etwas anderes ist es, wenn wir uns gütlich auseinandersetzen«, sagte er beruhigend. »Dann könntest du auf alle Fälle deinen Lebensstandard aufrechterhalten.«

Dies war eins der Worte, die er erst spät gelernt hatte, und man merkte es, wenn er sie gebrauchte. Wäre es jedem anderen entgangen, seine Frau paßte auf.

»Nicht, daß ich überhaupt einsähe, warum wir beide uns trennen müssen. Dein Ärger über mein kleines Fest – nun ja, du durftest nicht in Anspruch genommen werden; und da du doch dahintergekommen bist, liegt ein Organisationsfehler vor. Das gebe ich zu.«

Hier stieß sie mit dem Fuß an die Puppe Sigi, die sofort ihre Lage veränderte. Sie hatte mit eingezogenen Beinen auf der Seite gelegen; jetzt kippte sie auf den Rücken, dehnte sich mit Genuß und hängte den Kopf schief. Ihr mondänes Gespenstergesicht war auf Schattich gerichtet; er konnte weitersprechen, Sigi hörte zu.

Nora ihrerseits ließ sich hinter dem Schreibtisch nieder. Sie breitete über die Lehnen ihre Arme, die noch schön waren, und legte den Kopf in den Nacken. Ihr Blick weilte, sooft sie es für besser hielt, an der Zimmerdecke; senkte er sich aber auf Schattich, dann fühlte Schattich ihn fallen. Er selbst fand keine Gelegenheit, sich zu setzen. Seine Haltung wurde immer undankbarer, er stand hier wie der Angeklagte. Ein Belastungszeuge war dabei namens Sigi. ›Wie komme ich dazu, mich zu verteidigen‹, dachte Schattich; aber er strengte sich wirklich an.

»Du natürlich wirfst mir im Grunde nicht nur das kleine Fest vor, sondern den Verein zur Rationalisierung Deutschlands, dem ich es gebe. Nichts, was ich für meine Karriere tue, hat deinen Beifall. Ich kann nur annehmen, daß meine Erfolge dir unerwünscht sind, was ich pervers finde. Ich weiß, ich soll vornehmer sein. Sogar meine Geschäfte sollen vornehmer sein – als ob eigens für mich Geschäfte erfunden werden könnten, die kein Betrug sind. Was willst du denn? Betrug ist das Gesetz des Lebens, wollen wir einmal ganz aufrichtig sein!«

Der letzte Satz schien ihm glücklich, in einer seiner Aufsichtsratssitzungen wäre er brauchbar gewesen. Die Dame, die ihn hochmütig und dumm mit anhörte – Schattich verachtete sie. Auch fühlte er mit Genugtuung, daß sie unsicherer wurde. Ihr Blick war an der Decke.

»Lag nie anders!« rief er. »Deine verehrte Familie, was hat sie ihrerseits getan? Betrogen hat sie, sonst war sie hinten nicht hochgekommen. Bloß damals schobt ihr in aller Ehrbarkeit. Wir machen uns nichts mehr vor. Ihr richtetet euch auch gleich für hundert Jahre ein. Wo sind dann wir! …«

Hier fühlte er ihren Blick fallen. Dies Geständnis hätte er nicht machen dürfen. Daher verlor er die Geduld.

»Deutschland ist in Not«, behauptete er stark. »Da kommt es auf Männer an. Der Zusammenschluß aller aufbauenden Kräfte – das willst du nicht verstehen. Du wirfst mir vor, daß ich nicht in moderne Stücke gehe.«

»Auch in alte nicht«, sagte sie unvermutet. Wenn sie gar nichts sagte, schien es unnötig, grade dies auszusprechen. Nur deshalb stutzte Schattich; er fragte sich, was sie alles meinte. Ach! Er wußte aus langjährigen Wiederholungen, sie meinte das zwanzigjährige Zusammenleben mit ihm, das Opfer ihrer Jugend, ihrer Klasse. Sie wollte sagen: Du hast mich ausgesogen, dich an mir großgefressen, jetzt bin ich von dir abhängig und auf dem Abstieg …

»Ja, ja – Gesetze des Lebens«, bekräftigte er laut als Antwort auf ihre Gedanken, die nachgrade fast auch seine eigenen waren. »Wo Menschen sind, sind Geschäfte, und das gute Geschäft kann immer nur einer machen.« – ›Auch der nicht‹, hörte er darauf.

Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen und hörte sie schon antworten, ohne daß sie aber wirklich den Mund öffnete. Es war nicht nötig zwischen den beiden älteren Leuten, wirklich zu sprechen. Der Mann war sogar im Nachteil, weil er sich dazu hergab … Er hörte: ›Auch der nicht. Wie lange machst du es denn noch? Deine Niere ist nicht mehr richtig, das wissen nur dein Arzt und ich.‹

Als sie ihm diesen Schlag stumm versetzt hatte, stand sie auf. Sie hatte gespürt, daß ihr Gesicht fleckig wurde. Es kam von der krampfhaft beherrschten Erregung, dem Hin und Her des Kampfes, bald Demütigung, bald ein Teilsieg. Außerdem lag es an ihrer Haltung auf dem Schreibsessel, die Arme rückwärts gedrängt, der Kopf im Nacken. Das hob ihre Büste heraus, und Nora saß hoheitsvoll da; aber sie wurde fleckig.

Sie stellte vor dem großen Spiegel ihr Gesicht wieder her, gegen Schattich wendete sie ihren ganz entblößten Rücken, ihr Glanzstück. Damit triumphierte sie über ihn, seinen schwachen kleinen Bauch und seinen Domkopf in der vollen Beleuchtung. Tatsächlich überraschte sie ihn durch den Spiegel, wie er sich den Schweiß wischte. Er war dafür in einen Sessel gerutscht, hinter dem Schreibtisch halb verkrochen lag er. Einen Augenblick wünschte sie sich, ihn weniger gut zu kennen; dann hätte sie ihn eher bemitleiden können.

Schon näherte sie sich ihm wieder – nicht Mitgefühl leitete sie, sondern Mißtrauen; denn natürlich schwang er sich jetzt gleich mit frischen Kräften aus der Versenkung und griff an. Der Mann wieder fühlte die eiserne Notwendigkeit, weiter vorzugehen, immer weiter. Wenn er ihr Zeit ließ, sie war imstande, nahm den großen Briefbeschwerer aus falschem Marmor und warf ihn nach ihm! Seine Angst war echt; im Grunde aber fürchtete er nicht den Briefbeschwerer, sondern was sie alles von ihm wußte – ihre Voraussicht jeder seiner Regungen. Nicht auszuhalten! Aufgesprungen, und der Zeuge Sigi bekam einen Fußtritt, daß er durch das ganze Zimmer flog. Fortan saß er aufrecht an der Wand, aber sein Gesicht war nach hinten verdreht, er konnte nicht mehr zusehen.

Schattich stand wieder da, wie schon einmal nach seinem Faustschlag auf die Tischplatte.

»Wir verlieren unsere Zeit, die Verhandlungen drohen sich festzufahren. Ich bedauere unendlich, aber für unsere freundschaftliche Einigung, meine Liebe, habe ich genau gerechnet noch sechzehnzweidrittel Minuten.«

Nicht einmal hierauf antwortete sie laut. Sie betrachtete seine Nägel. Die Faust stemmte sich gegen die Tischplatte und kehrte ihr die manikürten Nägel zu. Sein Typ, und diese Pflege! Mehr als einmal wöchentlich opferte der Geschäftsmann die Zeit nicht, und die Häutchen wuchsen wieder, indes der Lack noch brüchig erglänzte. Sie fand es schlechthin furchtbar.

»Laß das doch ganz!« stöhnte sie verzweifelt.

»Was? Du bist verrückt. Es handelt sich um deine Zukunft.«

»Was du mir davon gelassen hast!«

»Schrei gefälligst nicht! Deine Stimme war schon immer das, was abfiel.«

»Gegen dein Rednerorgan«, ergänzte sie. »Du bist ausgeschrien, mein Freund. Wer tippt auf dich noch. Egon von List? Dem traust du?«

»Jetzt kann sie plötzlich reden. Von den sechzehndreiviertel sind dreiviertel schon weg. Hier schreibst du.«

Er schob ihr Papier hin. Er selbst legte die Hände auf den Rücken und schritt vor dem Schreibtisch hin und her. Die dankbarere Rolle schien endgültig in seine Hände übergegangen.

»Du bestätigst mir in zwei Zeilen, daß ich dir dein in die Ehe mitgebrachtes Vermögen mit einem Viertel aufgewertet habe und daß du an mich keine weiteren Ansprüche stellst, fertig. Unter dieser Bedingung willige ich in die Scheidung, meinetwegen lasse ich mich für den schuldigen Teil erklären.«

Er warf einen Blick auf sie. Das war der Blick, der nur noch von Macht weiß und eine ganze Ordnung der Dinge verteidigt. Ihr wurde es kalt – da sagte er auch schon: »Du willst nicht? Dann Kampf; und ich versichere dir, daß ich der Stärkere bin.«

Sie sagte – und mit Staunen und Abscheu lauschte sie selbst, wie sie es aussprach:

»Die Hälfte!«

»Ein Viertel!«

»Dann verlange ich im Prozeß das Ganze, lasse aber die dreifache Ziffer bekannt werden und untergrabe deinen Kredit.«

»Es gibt auch Nervenheilanstalten«, sagte er und blieb schroff vor ihr stehen. Beide hörten, indes sie einander im Auge behielten, die Uhr ticken. ›Keine Zeit, keine Zeit, du sollst mich nicht aufhalten, stirb! Mein ist der Rest des Lebens, und kratzte ich mir ihn aus deinem Grabe.‹ Beide standen fahl und starr.

Der Mann schlug zuerst den Blick nieder. Dabei traf er auf dem Teppich noch eine der verlorenen Perlen. Er hob sie auf und legte sie vor die Frau hin.

»Abgesehen davon, bin ich galant.«

Sie stürzte wortlos aus dem Zimmer.


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