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Zehntes Kapitel

Margo kam endlich ihren Berufspflichten nach, sie ging zum Chef.

»Sie lassen mich warten«, bemerkte Schattich schlechtgelaunt. »Wo ich für den Sonntag doppelt zahle!«

»Kommt nicht in Frage, Herr Schattich. Aber, sehen Sie, Ihr Brief an den Präsidenten von I. G. Chemikalien war Falle. Der Herr ist verreist.«

»Das konnte ich nicht wissen.«

»Sie sind ein falscher Fuffziger.«

»Beim Theater muß man falsch sein«, gab er zu, »und ich spiele mein ganzes Leben lang Theater. Das will meine Frau nicht einsehen. Die verlangt bürgerliche Gediegenheit. Das war mal. Das konnte ihr Großvater zum Teil noch, ihr Vater hat damit schon Pleite gemacht.«

»Mit Ihren Familiengeheimnissen kann ich nichts anfangen.«

»Ich habe Geld im Ausland. Interessiert Sie das mehr? Mädel, ich bin verrückt nach dir. Keine Dummheit ist mir zu groß.«

»Auch nicht wahr.«

»Ich habe schon mal ein Mädchen gefangengehalten, bis es nachgab«, berichtete Schattich und versuchte, zu blicken wie der Machtmensch, den er darstellte. Margo lachte darüber.

»Aber Sie werfen schon nicht mehr den Tisch mit Akten um – wenigstens nicht meinetwegen. Um dagegen die Erfindung zu bekommen, würden Sie einen Mord begehen.«

»Ich will Ihnen etwas sagen, sie ist von meinem alten Freund Birk, und ich habe ihm noch immer alles weggenommen. Ich muß ihm auch seine letzte Chance wegnehmen.«

Sie begriff, daß es mit ihr dasselbe sei. Er wollte sie hauptsächlich als Tochter Birks haben.

»Es ist nicht Eigennutz, es ist Ehrgeiz. Verstehst du? Dich aber wäre ich imstande zu beteiligen. Du darfst es mir diesmal glauben, ich bin reif, von dir geneppt zu werden. Du bekommst mich zur rechten Zeit in die Finger, verstehst du?«

»Ich höre immer beteiligen. Woran? Meinen Sie die Erfindung, wer ist dann Ihr Abnehmer?«

»Laß das meine Sorge sein. Ich gründe natürlich selbst die Gesellschaft zur Ausbeutung der Erfindung. Willst du Beweise? Gleich nachher ist eine Sitzung – hier unter uns, im großen Saal.«

Margo war nahe daran gewesen, ihm einiges zu glauben. Die Erwähnung des großen Saales, in den sie gerade heute einen Blick geworfen hatte, stieß alles um.

»Schluß«, entschied sie. »Wenn Sie mir nichts zu verbergen haben, nehmen Sie mich doch mit nach Berlin!«

»Ob ich dich mitnehme! Chloroformiert, wenn es sein muß! Ich glaube sogar, du wirst gleich dort bleiben.«

»Ich bin verheiratet.«

»Ich auch. Das läßt sich alles anders drehen. Mit meiner Frau bin ich fertig – und was tust du noch bei dem kleinen Angestellten.«

»Sie könnten es schieben, daß er aufsteigt.«

»Das möchtest du wohl. Du willst wohl die Zweite bleiben, wo du die Erste sein kannst? Ich werde dich heiraten.«

Dies kam leise, seine Stimme versagte, er atmete mit Mühe. Wenn seine Worte nicht ehrlich waren, echt war die Begierde; an ihr ließ sich auch bei größter Vorsicht nicht mehr zweifeln. Margo prüfte in aller Ruhe, was sich daraus machen ließe.

»Seit wann war Ihre Frau nicht in Ihrem Berliner Haus?« fragte sie, wie ein Arzt, der die Angaben des Patienten aufnimmt.

»Das will ich dir sagen, Puppe. Schon, seit ich nicht mehr an der Spitze der Reichsregierung stehe.«

»Das kann doch mal wieder vorkommen?«

»Todsicher. Erstens sind es immer dieselben. Außerdem haben wir den Verein zur Rationalisierung Deutschlands.«

»Dann taucht Ihre Frau wieder auf.«

»Erst recht nicht. Mein Wiederaufstieg hängt sogar damit zusammen, daß sie verschwindet.«

Margo versuchte mit Glück, in ihrer Miene alles abzustellen, was ihre Eindrücke verraten konnte. Er stieß mit dem Fuß seinen Stuhl zurück, er ging, die Hände auf dem Rücken, vor ihr auf und ab. Bei jedem dritten oder vierten Schritt schwenkte er den Kopf nach ihr, sie mußte sich weiter beobachten.

»Ich liege ganz vorn«, stieß er aus. »Mich können sie gar nicht umgehen. Ich weiß wohl, die Karre läuft auch ohne mich. Was einer macht, kann der andere ebensogut. Wir sind alle derselbe Mist. Aber ich habe zu viele in der Hand, ich bin von Natur und durch Übung ein Menschenbehandler.«

Er bohrte sich den Zeigefinger in die Schläfe, er blickte vielsagend, und Margo versuchte, verständnisvoll auszusehen. ›Faule Sache‹, dachte sie beklommen, ›Menschenbehandler – dann sieht er mir etwas an. Dann sieht er, daß ich ihn an seine Frau verraten habe und daß ich ihm Mulle auf den Hals hetze!‹

Aber da sagte er grade: »Dich bekomme ich mit der linken Hand herum, Puppe. Du arbeitest ohne Aussicht auf Erfolg für deinen kleinen Angestellten – wie brauchbar wirst du erst sein für mich – wo es sich lohnt.« Er machte Pausen, blieb dabei stehen und faßte sie ins Auge. Margo dachte: ›So siehst du aus. Deine Frau hat kein Geld mehr, das ist das Ganze.‹ Laut sagte sie: »Ich kann Sie verstehen. Ein Schattich geht kaltlächelnd über Leichen. Als Sie Ihre Frau heirateten, brachte es Sie vorwärts. Jetzt hält Ihre Frau Sie auf.«

»Wir verstehen uns«, bestätigte er. »Es ist sonderbar, wie gut ich mich mit der heutigen Jugend verstehe. Ich muß meiner Zeit voraus gewesen sein betreffs Sachlichkeit.«

»Von einem bestimmten Jahrgang ab seid ihr weich«, stellte Margo fest. »Aber es gibt Ausnahmen«, behauptete sie – einzig überzeugt, wie er heraushörte, von der hier gegebenen Ausnahme.

»Ich hasse die Unsachlichkeit« – er hob sich auf die Zehen. »Wenn sie sich aber erst als Kulturgut aufspielt, dann kann ich ordinär werden«, schloß er und plumpste auf die Absätze. »Lange genug hab ich meiner Frau die überlegene Kultur geglaubt; heute sage ich: Deutschland ist in Not, da kommt es auf Männer an.«

»Sie sind einer«, warf Margo ein.

»Meine Einstellung ist zeitgemäßer, die Frau soll mich –« Margo hörte ruhig zu, wie er das Wort zu Ende sprach.

»Du nimmst mich wenigstens, wie ich bin«, sagte er und hatte hierin recht.

»Mich will die Frau verachten«, sagte er mit Augenzwinkern. »Die soll sich wundern und nicht mehr wissen, ob sie 'n Junge oder 'n Mädchen ist.«

Er wurde, wer weiß warum, spaßhaft.

»Schatzimausi, wir landen zusammen eine Sache.«

Da er ihr, bevor sie ausweichen konnte, einen Kuß ins Gesicht versetzte, wurde ihr die Sache, die er landen wollte, verdächtig. Indessen beschwichtigte er.

»Im Augenblick will ich nichts weiter. Keine Zeit. Dringende Konferenz. Ich muß hinunter in den Saal. Mein Verein kommt auch. Dabei finanzieren wir gleich deine Erfindung, und du bekommst von mir eine neue Handtasche.«

Er war durchaus nicht ohne wirkliche Komik; fast wurde er sympathisch, nun er seinen Menschen nackt zeigte. Er schlich umsichtig durch das Zimmer – zuerst nach der Tür.

»Noch sieht sie nicht durchs Schlüsselloch.«

»Wer? Frau Schattich?« Margo war dennoch verblüfft.

»Natürlich. Wußtest du das nicht? Die Alte horcht an den Türen. Auf meine Konferenzen hat sie es besonders abgesehen. Wenn ich meine Konferenzen außerm Hause tätige, fährt die Alte mir in Lebensgröße dazwischen. Seitdem ich alles hier mache, kann sie nur noch hinterm Schlüsselloch hocken.«

Margo dachte. ›Dazu werden sie ältere Leute‹, oder etwas Ähnliches; es wurde ihr selbst nicht klar, sie war zu erstaunt.

Er sprang rund und behende zu einem Safe mit der Büste Bismarcks. Margo hatte immer gedacht, die letzten Staatsgeheimnisse Schattichs müßten dort verwahrt liegen. Schattich zauberte einen Schlüssel herbei, der Safe war nicht einfach zu öffnen. Inzwischen plauderte er noch.

»In den Konferenzsaal kann sie nicht kieken. Die innere Treppe ist oben und unten abgeschlossen.«

›Aber den Schlüssel hat Marietta‹, dachte Margo.

»Bloß hier kann sie reinsehen. Deswegen hab ich was erfunden. Ich erfinde auch. Bin ich 'n aufgeweckter Kopf?«

Damit zeigte er ihr, was er aus dem Safe hervorbrachte: einen Mannequin.

»Er hat ein doofes Gesicht, aber von hinten bin ich es.«

Tatsächlich, die Glatze des Staatsmannes war nachgeahmt.

»Halt ihn mal, Mariechen!« befahl er und zog sich aus. Weder ihm noch ihr fiel es auf, aber wahrhaftig hatte er im Handumdrehen seinen Anzug herunter und bekleidete damit die Puppe.

»Setz ihn hinter den Schreibtisch auf meinen Platz. Mariechen!« befahl er. Sie gehorchte, sie bemühte sich sogar, dem falschen Schattich die gewohnte Haltung des richtigen beizubringen.

»Quatsch, Mariechen«, hörte sie ihn sagen, und als sie sich umwendete, stand er schon im Abenddreß.

»Du bist ja gar nicht mehr Mariechen«, murmelte er. In seinem selbstvergessenen Eifer mußte er wohl plötzlich geglaubt haben, noch immer helfe die Zofe Marietta ihm bei seinen Heimlichkeiten.

»Nun setz dich mal selbst. Du bist 'n Luder, wir können uns verstehen. Setz dich!« befahl er und wies auf den Sitz gegenüber dem seinen. Hierauf legte er ihr Schlingen um. Es waren sehr leichte Fäden; im Schatten, wenn man jetzt die große Beleuchtung abdrehte, blieben sie kaum noch sichtbar. Aber es waren viele, und alle verbanden sie mit der Puppe, die ihr gegenübersaß. Margo konnte jedenfalls nicht aufstehen, ohne die Fäden zu verwirren oder zu zerreißen und die Puppe umzuwerfen.

»Schreib mal was!« verlangte Schattich. Sofort bewegte auch die Puppe den Arm, wie um zu schreiben.

»Meckere mal!«

Sie erhob das Gesicht, und der falsche Schattich schien mit ihr reden zu wollen, wie sie mit ihm. Der echte war zufrieden.

»Es klappt wieder mal. Organisation muß man im Griff haben. Na Wiederschaun, bleib mir treu!« Damit wollte er den Rücken drehen. Margo rief erschrocken. »Sind Sie verrückt geworden?«

»Nee. Aber hier bin ich fertig. Jetzt kommt mein Verein dran. Daß du deine Sache gut machst, Süße! Wenn du merkst, daß die Alte kiekt, dann nimmst du sofort Diktat auf. Von draußen sieht es aus, als ob ich persönlich dasitze und quassele. Kann überhaupt nichts vorkommen.«

»Und wie lange soll das dauern?«

»Länger als bis morgen früh kommt nicht in Frage. Denk an die Beteiligung, halte durch! Auch der Young-Plan muß getragen werden.«

Jemand kratzte an der inneren Tür. Schattich wuchs plötzlich, er veränderte sich in einem erstaunlichen Grade. Das runde, behende Männchen war verschwunden, der große Geschäftsmann stand da. Kein ulkiges Gesicht mehr, ein verlängertes, gehärtetes, gebleichtes. Jetzt sah er aus, als ob die Leichen, über die er auf alle Fälle stieg, ihn nicht mal mehr zu einem Witz veranlassen könnten. Die Pflicht über alles, so ging er durch die Mitte ab. Margo, die ihn kaum wiedererkannte, wendete nichts mehr ein.

Indessen saß sie an diesem großen Schreibtisch einer Puppe gegenüber. Hinter Schattich war die Tür zugefallen, weiter hin hörte sie noch eine zweite schließen. Sie erinnerte sich, daß auf jener Seite der große Saal lag – hinten nach dem Park hinaus; und durch zwei Stockwerke reichte er bis zur Wohnung der Dame Nora. Bevor die Tür zuschlug, hatte sie auch Stimmen gehört. Jetzt war es merklich still, und nur die Puppe sah sie an.

Margo dachte: ›Bin ich denn doof?‹ – und machte eine Bewegung, um aufzustehen. Der Ruck war zu stark für die Puppe, sie schwankte und griff mit einem Arm, wie nach Beistand. Margo mußte lachen. Die Gestalt tat ihr leid. Sie setzte sich wie vorher, und die Puppe folgte ihrem Beispiel. Hiervon war Margo befriedigt. Sie fand die Sache gut gemacht. Wenn sie ihr Gegenüber ansah, hob auch dieses den Kopf; neigte sie selbst sich aber vor, als ob sie schreiben wollte, dann stützte die Puppe sich auf die Armlehne und vollführte mit der Hand kleine Kreise, wie um zu diktieren. Von rückwärts und durch das Schlüsselloch mußte es täuschend aussehen. Richtig, ein Spiegel nahe der Tür zeigte ihr die genaue hintere Ansicht eines fleißig arbeitenden Schattich. Die einzige Lampe verdunkelte das Bild absichtsvoll. Von ihr selbst war nichts zu erkennen; hier konnte Margo, Marietta oder jede andere sitzen. Man sah das Papier und die schreibende Hand. Es schien ein Mechanismus, weniger menschlich als die Puppe.

Als Margo die geschicktesten Züge der Fäden herausgefunden hatte, benahm sich die Puppe, als ob sie lebte. Margo lachte und wollte ihr auf den Arm klopfen. Was geschah? Die Puppe zog ihn zurück. Hier überlief es Margo. Nochmals versuchte sie aufzustehen; dabei gerieten die Fäden durcheinander, die Puppe kam vom Stuhl hoch und fuchtelte. Margo fürchtete einen Griff um ihren Hals und schrie.

In dem abgeschlossenen Zimmer hatte ihre Stimme keinen Widerhall, ebensogut hätte die Puppe schreien können. Margo schämte sich, sie beschloß, nie wieder den Kopf zu verlieren. Zu diesem Zweck blickte sie ihrem sonderbaren Gesellschafter fest ins Gesicht. Er war ja gar nicht doof! Schattich hatte ihn unterschätzt. Er sah nicht wie Schattich aus; aber es war nicht nötig, auch noch von vorn wie Schattich auszusehen. Um so besser, entschied Margo. Statt dessen hatte er das Verwischte, gewollt Unechte, das den Mannequins mitgegeben wird, damit nicht ein anziehendes Gesicht ablenkt von dem Behang, auf den es ankommt. ›Süße Leiche‹, dachte Margo mehrmals, denn so sah das Ding aus – eine süße Leiche, etwas vom Engel, etwas vom Geist. Um sich nur nicht zu fürchten, behielt Margo ihn unverwandt im Auge, wer wurde da aus dem Jungen? Emanuel.

Ihr Emanuel sah sie an. Nicht der von heute nachmittag, kein gereizter, geschäftlicher, kein Emanuel, der grade daher kam, wo er eine andere geliebt hatte. Sondern der vom vorigen Jahr. Ach, erst voriges Jahr? Süße Leiche, etwas Engel, etwas Geist. Einst so sehr geliebt, vor kurzem ganz mein. Margo träumte, daß es so geblieben wäre. Sie sah den schönen Anfang wieder.

Kurgarten mit Tanztee, der Lautsprecher meldete grade einen großen Kurssturz an der Börse; es war die herrlichste Musik, die Margo je gehört hatte! Denn dabei stieg er aus seinem Auto, und sie liebte ihn gleich. Er war mit zwei Freunden, Mulle und Ehmann, wie sie erfuhr. Alle drei betitelten einander Direktor und Diplomingenieur, aber wenigstens zwei von ihnen waren arbeitslos, wie sich herausstellte. Den Wagen hatte Ehmann durch Beziehungen, und auch nur heute … Da Margo ihm entgegensah, als wären sie verabredet, ging er gradeswegs an ihren Tisch.

Die anderen kamen mit und übernahmen Inge, Emanuel sah nur Margo. Sie tanzten. Nicht gefühlvoll hingegeben tanzten sie, sondern mit solcher technischen Vollkommenheit wie bei einem Wettbewerb. Es war auch wirklich ihre Bewerbung um das Glück. Margo fühlte noch heute, wie sehr es damals um das Ganze ging – während des Tanzes. Sofort nachher hatten sie wieder Sinn für Cocktails, Flirt und die Räubergeschichten der drei Direktoren. Sie tanzten noch oft zusammen damals, aber gleich beim ersten Mal hatten sie einander erkannt, endgültig in Anspruch genommen, und alles war entschieden.

Einmal verschwanden sie gemeinsam von der Tanzfläche hinter die Büsche des Kurgartens. Hier schenkte sie ihm den ersten Kuß. Er hatte gewartet, bis sie von selbst an seiner Brust lag, dann aber wurde er dringlicher. Sie wußte auch schon, daß sie ihm nachgeben – und in ihrem ganzen Leben nur für ihn, für ihn es tun würde. Inzwischen war aber ihr Vater im Garten erschienen, sie wurde gerufen.

Als der Junge erfuhr, wer ihr Vater war, verschwand sein Monokel in der Tasche, er bat sie, um des Himmels willen alle seine Titel zu vergessen, und er suchte noch mehr dem Oberingenieur als seiner Tochter zu gefallen. Merkwürdig, die Wirkung trat augenblicklich ein – bei Birk wie bei Margo; und nie sollte sie aufhören. ›Kann ich es mir anders denken?‹ träumte Margo gegenüber der Puppe, mit der sie Fäden verbanden. ›Daß ich ihn nicht mehr liebte?‹ … Da bemerkte sie erst, daß das sonderbare bleiche Gesicht im rechten Auge einen Einschnitt hatte, und daraus stand eine halbe Scheibe hervor, es sollte ein Monokel sein. Auch das trug er hier wieder. Margo weinte.

Er trug es nur in gehobenen Zeiten und wenn er großen Eindruck machen wollte. Für den kleinen Angestellten lohnte es nicht, auch nicht für den Gatten der Sekretärin. Heute abend hatte er es wahrscheinlich wieder eingeklemmt, denn er ging groß aus mit seiner neuen Freundin. Nach dem Sportpalast kam sicher die Bar, und wohin führte er Inge dann? Ihre Schwester! Er nahm vor ihren Augen ihre eigene Schwester, und Margo fühlte, daß sie ihn dennoch weiter lieben mußte. Sie vermochte nichts gegen ihr Herz, das endgültig entschieden hatte. Sie beweinte ihre Ohnmacht – die Puppe gegenüber ahmte nach, wie ihr Nacken zuckte. Aber das sah Margo nicht.

Sie wußte, nicht einmal ihr Vater half ihr, wenn sie um Emanuel kämpfen mußte. Er war für den Jungen. Er liebte ihn noch nachsichtiger, ja, verzweifelter als sie selbst, weil er ja alt war. Und er liebte Inge, weil sie dem Jungen gefiel. Diese beiden hatten doch früher gar nicht aufeinander geachtet; aber die Laune, die Emanuel plötzlich mit Inge zusammenwarf, war stärker und furchtbarer als alles, was die Natur Margos wissen konnte. Sie ahnte nur und ergab sich – wenigstens in dieser abseitigen Nachtstunde gab sie allen Widerstand auf und träumte dahin, gegenüber einem halb verwischten Gesicht. Süße Leiche, etwas Engel, etwas Geist.

Margo träumte, die Erfindung wäre nie gemacht worden. Dies war das erste. Inge und Emanuel wären sonst nie so schrecklich zusammengeworfen worden. Das Sprengmittel hatte zuerst sie alle selbst zerrissen. Sie jagten dahin und litten große Begier. Die innere Bewegung wurde unerträglich, durch den Sinn Margos tobte nochmals der ganze heutige Tag, und wie sie hatte kämpfen müssen mit Inge, Emanuel, Ehmann, Schattich und seiner Frau – alles, weil sie und der Junge reich werden wollten. Nehmen wir nun selbst an, sie wurden reich. Emanuel aber liebte Margo nicht mehr? … Konnten dann sie und er sich freuen, wie sie sich einst gefreut hatten? … Sie träumte, die Erfindung wäre nie gemacht worden. Fast hätte sie die Geldlosigkeit vorgezogen, wenn das Leben dennoch Freude brachte.

Sobald es ihr bewußt wurde, schämte sie sich. Sie nahm sich vor, ihre Pflicht zu tun, ob es sie und die anderen glücklich machte oder nicht. ›Zuerst muß man reich werden. Man muß Auftrieb haben. Man darf nicht überaltern, dann ist es zu spät. Nehmen, alles mitnehmen, was greifbar ist! Inge hat recht, der Junge hat recht.‹ Margo erinnerte sich rechtzeitig, daß sie zum Glück doch keine Träumerin war, sie mit ihrer Stumpfnase. Nicht aus Romantik, sondern zu höchst genau überlegten Zwecken saß sie hier – hatte sich mit Fäden an die alberne Puppe binden lassen. Auch die sollte ihr noch Dienste leisten.

Sie wollte handeln. Das Telefon stand in Reichweite; Schattich hatte vergessen, es zu entfernen. Sie faßte nach dem Hörer. Eine Bewegung der Puppe schien sie daran hindern zu wollen, Margo streckte ihr einfach die Zunge aus. Indessen fiel ihr ein, daß sie nicht wußte, wie Nora Schattich zu erreichen sei … Dort hinten gingen wieder Türen; ein Stimmengeschwirr brach aus und wurde abgeschnitten. Die Gesellschaft, die Schattich seiner Frau verheimlichte, war zahlreicher und lauter geworden. Vielleicht, daß der geschäftliche Teil der Konferenz jetzt überging in den kessen. Platzte Nora dazwischen, wer weiß, was sie alles beisammen gefunden hätte! Da Margo sie nicht selbst anrufen konnte, beschloß sie, es zu Hause zu versuchen.

Ach so, die waren im Sportpalast. Margo ließ die Hand auf dem Apparat, ohne abzuheben. In der halben Minute, die ihre Hand dort ruhte, sah Margo den ganzen Sportpalast: die Menge auf den Tribünen, den Ring mit den Kämpfenden. Einer der Kämpfenden war Brüstung, in der Menge auf einer Tribüne erschienen ihr alle anderen, an die sie dachte. Ihr Scharfblick und ihre Gabe der Berechnung arbeiteten zusammen mit all ihrer Leidenschaft, damit das Bild vollständig und klar wurde. Vielleicht wirkten in der Tochter Birks auch Kräfte der Seele, die ihr Vater endlich bei sich festgestellt hatte; ihr aber waren sie noch unbekannt.

In ihren Ohren war ein Getöse, als wäre sie mit dem Sportpalast durch Radio verbunden gewesen. Das bedeutete Händeklatschen, sie unterschied auch Zurufe, ohne den Namen des Siegers zu verstehen. War es Brüstung? Nein, der Lautsprecher nannte einen anderen. Gleich darauf verkündete er die beiden nächsten Gegner, Julio Alvarez und Bruno Brüstung.

Hier begann der Beifall auf Tribüne sieben. Ernst Birk hatte angefangen. Er war entschlossen, bis auf das Äußerste einzutreten für seinen großen Freund, schlug gewissenhaft in die Hände und war bleich unter seinen zusammengewachsenen Brauen. Emanuel und Inge machten mit – vielmehr, sie klatschten aus persönlicher Genugtuung, weil sie den möglichen Sieger unter ihren festen Bekannten hatten. Ein großer Teil des Publikums ging mit. Als Ehmann dies bemerkte, beteiligte er sich weniger vorsichtig. Er saß auf der anderen Seite Emanuels und hatte die Augen überall. Soeben war neben Ernst auch die kleine Susanne zu bemerken gewesen. Es mußte ein Irrtum gewesen sein, oder wo war sie hingekommen?

Zwei Jupiterlampen schienen grell auf den Ring. Da die ungeheure Halle sonst nur wenig beleuchtet wurde, bewegte die Menge der Zuschauer sich wie im Rauch, wurde selbst zu Rauch; vorübergehend ballte er sich hier oder dort, und aus dem verdichteten Herd einer Seelenerregung schlug eine Flamme.

In den Ring stieg ein Riese. Unter dem weißen Licht wuchs er zu furchtbaren Massen. Sein Chefsekundant nahm ihm sogleich den Mantel ab. Langsam drehte er sich und zeigte der Menge seine Muskeln. Sie sahen, daß er etwas wie ein Mulatte war, diese Europäer bejubelten ihn gleichwohl mit Selbstentäußerung. Er sollte hundertzwanzig Kilo wiegen. Übrigens hatte er ein Gesicht wie ein Stück Vieh, jetzt in der Ruhe wirkte es noch gutmütig. Als er seinen Gegner erblickte, fletschte er die Zähne. Es sah nicht einladend aus, bedeutete aber wohl grade ein Zugeständnis an unsere Höflichkeit.

Brüstung kletterte nicht massig über das Seil, wie der andere. Mit einem Sprung stand er da – schien selbst überrascht und zeigte dennoch vor allem Haltung. Durch einen Blick auf den Riesen gab er zu erkennen, daß er sich klar sei, was ihm bevorstehe. So fürchterlich hatte er sich Alvarez nicht gedacht. Jetzt kam es auf gute Haltung an.

Dies glückte ihm auch. Von ganz oben riefen sie: »Hoch Weißkopf!« Denn die Leute unter der Decke kannten ihn und seine weißblonden Haare. Sie sagten beifällig: »Er war mal Schupo.« Er sollte für sie und als einer der Ihren kämpfen. Die Amateure vorn im Parkett dachten sachlicher. Sie sahen auf das Gewicht des Fremden und auf den Meistertitel, den er schon führte. Bei ihnen, wahrscheinlich auch bei den Punktrichtern dort unten vor dem Ring, war beschlossene Sache, daß der andere Junge ihm den Titel nicht entreißen würde. Hierin bestand hingegen nicht die Sorge der Damen.

Die Damen auf den guten Plätzen waren teils in Begleitung erschienen, manche auch allein und aus eigenstem Antrieb. Diese beurteilten mit ihrer besonderen Sachkenntnis die beiden grell und ohne Vorbehalt sichtbaren Körper, Höchstleistungen der männlichen Rasse. Sie maßen und erkannten die überwältigende Kraft des Nackens, den vollendeten Aufbau der Muskeln an Armen und Schenkeln, die ehern abgeteilten Wölbungen des Brustkorbes und auch den Inhalt der lächerlichen Höschen. Bei Brüstung war das Höschen weiß, bei Alvarez schwarz, aber das machte den Damen nichts aus. Die Frage und der Vorgeschmack waren nur das Blut. Über welchen der beiden geölten Manneskörper sollte heute das Blut fließen? Wer steckte mehr ein? Wer blutete mehr? Womöglich beide gleich viel! – hofften manche. Andere hätten lieber den bronzenen oder lieber den weißen überrieselt gesehen von verhängnisvollen Bächen.

Die Gegner verließen, mit ihren Handschuhen versehen, jeder seine Ecke. Ernst Birk schrie schon wieder: »Hoch Brüstung!« Diesmal ging niemand mit, Inge zog erschreckt und unzufrieden seine klatschenden Hände auseinander. Ernst sah sie erbittert an. Seinem Schwager Emanuel, der sich vorneigte, sagte er: »Sei doch nicht so feige!«

»Was willst du denn«, antwortete Emanuel. »Dein Brüstung hat ja schon ein furchtbares Ding sitzen.«

Ernst schwieg betreten. Er mußte sehen, daß Bruno taumelte. Ein unheilvoller Lärm kam auf; jeder, der einem Anfänger den längst bewiesenen Erfolg und das schwerste Gewicht vorzog, bekundete es laut. Bruno indessen war ein einziges Mal überrascht worden und nicht wieder. Fortan nahm er den Kopf weg, der andere schlug jedesmal ins Leere. Er tänzelte; Bruno Brüstung, ein doch schwerer Mann, wurde ganz leicht und gewissermaßen verlockend. Er scherzte den Riesen herbei, der folgte ihm, wollte zuschlagen und ging mit dem Kopf von selbst in die Faust des Klügeren. Die Freunde Brüstungs lachten und gaben an. Auch die Sachlichen gestanden, daß der kunstvollere Kampf auf Seiten des noch unberühmten Boxers war.

Die erste Runde hatte als Erfolg, daß Bruno noch immer tänzelnd in seine Ecke kam; was es ihn kostete, zeigte er nicht. Alvarez dagegen suchte merklich erstaunt seinen Platz auf, saß dann breitbeinig hingewälzt, mit den Armen auf den Seilen, ließ sich Wasser einflößen und spie es prustend wieder aus. Die meisten schwuren auf seinen Sieg, aber er fing an, unsympathisch zu werden.

Brüstung wurde einfach von seinem Trainer und Sekundanten am Nacken und an den Schultern massiert. Ernst sagte zu Inge: »Dem siehst du doch an, daß er siegen muß.«

Sie zuckte ungeduldig die Schultern und sah weg. Um so eingehender beobachtete Ehmann den Vorgang – beide, den Mann, der aufgefrischt wurde, und seinen Gehilfen. Ihm kamen dabei neue Gedanken. Ehmann schnaubte vor Unruhe, bis Emanuel ihn fragend betrachtete.

»Ein K. o. ist drin«, behauptete Ehmann darauflos.

In der zweiten Runde schien er recht zu bekommen. Brüstung hatte sich entschlossen, unbedenklicher vorzugehen. Erst einmal tat er einen verbotenen Schlag. Er hatte das Glück, daß der Ringrichter sich irrte. Der Ringrichter, der angespannt und in Hemdärmeln die Kämpfenden umkreiste, glaubte an einen Genickschlag, jedenfalls verwarnte er Brüstung ausdrücklich wegen Genickschlags. Dies genügte, damit droben unter der Decke ein Sturm ausbrach. »Schiebung!« schrien sie, und das Geschrei griff um sich. »Schieber Stiepe!«

Ringrichter Stiepe war abgehärtet gegen Volksstimmungen, andererseits kannte er das Wesen der Autorität. Es bestand darin, daß man nie nachgab, aber das nächste Mal genau umgekehrt handelte. Er hatte sich längst überzeugt, daß der Schlag Brüstungs den Mulatten nicht im Nacken, sondern hinter das Ohr getroffen hatte. Um so gleichgültiger behandelte er den Widerspruch; aber einen Augenblick später unterbrach er den Kampf nochmals, weil Alvarez sich an seinem Gegner anhielt. Das Publikum pfiff den Mulatten aus. Wer nicht pfiff, war doch einverstanden. Stiepe seinerseits betonte durch stolze Haltung, daß er nicht der Menge, sondern sie ihm gefolgt war.

Die Kämpfenden waren beide aus der Fassung. Brüstung zweifelte, warum gepfiffen wurde, Alvarez hingegen geriet in Wut. Es gelang ihm, bei Brüstung einen Körpertreffer anzubringen. Hierauf preßte er den unaufmerksamen Jungen an die Seilbank und schlug zu – eine ganze Weile lang. In dieser Lage half es nichts mehr, daß Bruno den Kopf wegnahm; er steckte ein bis zu dem Zeichen, das die Runde beendete. Man sah erst jetzt, wie stark er blutete.

»Noch zwei Schläge, und er hätte gelegen«, behauptete Ehmann. »Ich hatte recht, es ist ein K. o. drin.«

Emanuel fragte: »Machst du keinen Quatsch?« Bitter bemerkte er: »Das sind nun die beiden stärksten Fäuste, auf die ich mich im Bedarfsfall verlassen hätte.«

Ehmann ging darauf nicht ein, er warf nur einen schnellen Blick auf seinen Freund. Hiermit hatte er unwiderruflich festgestellt, welche starken Fäuste Emanuel in Berlin verteidigen sollten gegen seine zahlreichen Feinde. Diese Worte Emanuels, die um sieben Uhr gefallen waren, hatten Ehmann seither unaufhörlich beschäftigt. Jetzt waren sie für ihn wertlos geworden, denn Brüstung, der hier sicher unterlag, kam überhaupt nicht mehr bis Berlin. Für alle Fälle behielt Ehmann seinen Sekundanten im Auge. Es schien ein Engländer.

Inge sah Brüstung bluten und wie er dann gesäubert und erfrischt wurde. Sie hatte dafür nicht die gleichen Gefühle wie viele andere Damen, die sich ganz ihren Eindrücken hingeben konnten. Mit dem Siege oder der Niederlage Brüstungs stand für sie viel auf dem Spiel. Inge wandte sich in beginnenden Nöten an ihren Bruder Ernst.

»Ich hoffe doch, er schneidet nicht zu schlecht ab?«

»Bruno? Wenn dir sonst nichts fehlt. Siehst du nicht, daß alle für ihn sind? Natürlich ist der andere stärker. Aber darauf kommt es nicht an. Die Stärke Bruno Brüstungs –«

Ernst bewegte seine Hand über die Tribünen hin. Sonst sagte er nichts.

Der Kampf begann wieder. Auch diesmal griff Brüstung an. Er hatte seine Schmerzen überwunden, auf einiges Getänzel kam es ihm nicht an, und ehe jemand es sich versah, landete er auf dem Riesen einen Kinnhaken. Freudengeschrei aller, die Alvarez taumeln sahen. Sie sollten diesmal nicht lange jubeln. Der Mulatte hatte seine Sinne schon wieder beisammen, gleich darauf schwankte im Gegenteil Bruno. Der Liebling des Volkes fiel. Er lag. Er lag auf der Seite mit eingezogenen Beinen. Der Ringrichter zählte. Bei drei hätte Bruno aufstehen können, aber er ruhte sich aus. Der Mulatte hielt zähnefletschend der Wut der fremden Menge stand. »Acht«, hatte Stiepe gerufen, da erhob sich Bruno. Er wurde mit Bravo empfangen; überhaupt ließ die Mehrheit von jetzt ab jeden Anspruch auf Unparteilichkeit fallen. Wer es sich merkte, war Stiepe.

Brüstung tat noch unsicher – tat nur so, ließ Alvarez kommen, wich aber höchst geschickt aus, und schon fuhr seine Faust gegen das Auge des Gegners. Das war verboten, aber es war seine Chance. Jedem ist eine Chance gegeben, fühlten alle, die feststellten, was geschehen war. Auch Stiepe hatte nichts auszusetzen. Dem Mulatten war ein Lid zerrissen, Blut lief ihm über das Gesicht, er sah nur schlecht und verfehlte mehrmals seinen Gegner. Er selbst steckte ein – noch einen Kinnhaken, noch einen. »Er hat ein Glaskinn!« bestätigten freudig die Kenner. Vielleicht unter den erhaltenen Schlägen, aber sicher unter den feindlichen Wünschen aller brach der Riese nieder.

Er fiel auf den Rücken. Brüstung vorhin war noch im Fallen auf seine Selbstachtung bedacht gewesen und hatte nur vorläufig dagelegen wie durch einen Zufall, dem er im Grunde überlegen war. Alvarez lag auf dem Rücken in ungeheurer Länge und Breite. Die ganze Masse war einfach verunglückt, unumwunden zusammengebrochen, und kein Anzeichen bestand, daß sie nochmals aufkam. Dennoch erhob sich auch Alvarenz in aller Ruhe, sobald Stiepe »acht« gezählt hatte. Hörte er erst jetzt den Beifall? Der Liebling Bruno mußte, indes sein Gegner lag, einen dankenden Rundblick versenden, so dringlich huldigten sie ihm. Kaum kam denn auch der Gefallene hoch, empfing Bruno ihn nach Gebühr. Dem Riesen verdunkelte Blut das Gesicht, überdies machte der Beifall ihn dämlich; denn jeden Schlag, den er einsteckte, begleitete Jubel. Dennoch bekam auch Bruno das Seine. Ihm ward an diesem Abend das Nasenbein verbogen. Der blinde Riese keilte auf ihn los, ohne zu zielen, aber an ein sicheres Auge war ebensowenig für Bruno zu denken. Sie bluteten, prügelten, hakten sich ineinander fest und wurden getrennt von Stiepe, der ausschließlich Alvarez verwarnte. Hier ertönte das Zeichen.

Jeder der beiden erreichte beschwerlich seine Ecke und krachte mit vollem Gewicht auf seinen Hocker nieder. Nur mußte unter Alvarez auch noch das Stühlchen einbrechen, dies Mißgeschick entschied über ihn vollends. Er wurde ausgepfiffen. Ihm machte es nichts mehr. In schamloser Hingabe an ihren Zustand ließ die nackte, triefende Muskelmasse sich pflegen.

»Erledigt!« sagte Emanuel.

»Warum?« fragte Inge. »Sieh mal Brüstung an!«

»Oh, Brüstung, der nützt jede Chance aus, der ist nicht doof, der vertritt unsere Zeit!«

»Er schnappt bloß nach Luft«, wandte sie ein.

Sie war unzufrieden mit dem Begeisterten. Ihn hatte es unwiderstehlich erfaßt im Angesicht des Erfolges. Er wünschte zu Beginn nicht übertrieben stark den Sieg seines guten Bekannten; es schien zuerst nicht nötig, daß Bruno auch Inge mit hinriß. Nachgrade war dem Jungen dies gleichgültig. Der Verlauf der dritten Runde hatte ihn, wie alle seinesgleichen, mit Erregungen beglückt – ach, jene acht Minuten bei Inge auf dem Bett im Krankenhaus, jene Minuten verschwanden, sie verblaßten, sie wurden alt. Der Boxkampf ist das Höchste, vor Lieben geht für den Jungen das Boxen sowieso; und in dieser Minute bewegt es ihn mit Ausschluß alles anderen, in dieser Minute, dieser Minute. Es bewegt ihn mitsamt allen seinen Zeitgenossen. Auf dem Bett waren die anderen nicht dabei, aber man empfindet mehr, wo viele sind. Der Blick des Jungen streift auf dem Wege zu Brüstung über seine Freundin hin – nicht hungrig, nicht wie über einen sicheren Wert: eher abschätzig.

Inge fühlt es. Sie erwidert damit, daß sie nach Emanuel verächtlich die Schulter zuckt und gleichfalls nur Sinn für Brüstung zeigt. Aus Zorn und um nicht hinter den Ereignissen zurückzubleiben, erkennt sie an, daß sie falsch gehandelt hat oder doch unvollständig. Sie hätte nicht Emanuel wählen sollen, sondern Brüstung. Vielmehr, sie wird sich zu Brüstung wenden, eines Tages, vielleicht bald … Beide, Inge und der Junge, wissen schon hier, daß sie sich geirrt haben. Sie werden einander noch wieder begehren, aber dann kommt ein Nächster.

Weil dies schon feststeht, kann das schöne Paar, dem alles erfüllt ist, sich doch nicht freuen. Beide denken: ›Nun wollen wir zusammen durchgehen nach Berlin. Machen wir auch. Nur nicht zurückzucken! Die große Sache ziehen wir nun doch mal zusammen auf, es ist zu viel Geld drin, und auch sportlich ist es Klasse. Ich bleibe fest auf durchgehen.‹

Hiermit beachteten sie einander wieder. In ihren Mienen stand dabei nicht mehr viel von den Gedanken, durch die sie zeitweilig auseinandergerissen waren. Er legte die Hand auf ihr Knie, und sie nahm seinen Arm.

Die vierte, fünfte und sechste Runde vergingen damit, daß die Kämpfenden einander ermüdeten bis zu einem unwahrscheinlichen Grade. Die Zuschauer zählten laut, wie oft jeder fiel; von jetzt ab nahmen sie es humoristisch, sogar ihr ungerechter Beifall blieb aus. Andrerseits hatten sich die Damen, die deshalb hier waren, am Anblick von Blut schon übersättigt, ihr Bedarf war im Grunde nicht groß; das Weitere langweilte sie. Allgemein griff Langeweile um sich. Wohin wäre es noch gekommen, hätte nicht Brüstung, als Alvarez wieder einmal stürzte, sich wie von unwiderstehlichem Drang bezwungen einfach neben ihn gelegt. »Bravo!« rief eine einzelne Stimme, es war Ernst Birk. Der Anblick hatte aber für alle etwas Versöhnliches.

Stiepe zählte sehr langsam. Nach »acht« unterbrach er sich ganz. Er hatte so gut wie das Publikum begriffen, daß die beiden freiwillig nicht wieder aufstehen würden. Nur seine ausgedehnte Pause nötigte sie dazu; nach einem Zucken der Körper, das wie Verabredung aussah, stellten beide sich wankend und in alles ergeben auf die Füße. Matte Anerkennung. Abbruch des Kampfes, die Punktrichter berieten ihren Spruch, der Lautsprecher verkündete ihn. Unentschieden.

Auch gut. Wer den Gegnern, wie sie davonhumpelten, noch nachsah, mußte bemerken, daß es nicht darauf ankam, ob einer geschickt oder ein Riese war. Er mochte jede Chance wahrnehmen oder blind und furchtbar dreinhauen, mochte als Europäer bewußt und elegant kämpfen oder auftreten wie die Naturkraft anderer Erdteile. Zum Schluß war das eine wie das andere dahin, und weiter als bis zur Erschöpfung ging es nicht.

Dies war indessen nicht die Erkenntnis derer, die um jeden Preis ihren Bruno feierten. Ernst Birk behauptete, bei einem so viel schwereren Gegner sei ein Unentschieden das höchste Erreichbare und Bruno Brüstung stehe als der wahre Sieger da. Selbstverständlich werde er in Berlin mitkämpfen. Hier folgte eine letzte geräuschvolle Huldigung für Bruno. Sie befeuerte den Boxer so weit, daß er beim Verlassen des Ringes nicht durch die Seile kletterte, wie er schon vorgehabt hatte, sondern sie im Sprung nahm.

Nur Ehmann hatte ein heimliches Auge nicht auf den Helden des Tages, einzig auf seinen unscheinbaren Helfer. Der junge Engländer legte seinem Schützling den Mantel um, ein prachtvoller bunter Mantel, der den Damen gefiel. Ehmann kam hoch und drängte aus der Sitzreihe. Er war erstaunt über den Ausgang des Kampfes und hatte es eilig. Der junge Engländer folgte dem Abgehenden über die Seile, da ließ Ehmann sich von einer menschlichen Welle dorthin tragen, wo er den Engländer treffen konnte. Für alle Fälle wollte er ihm hinsichtlich Berlins zwei Worte stecken – eine Warnung, so weit war Ehmann entschlossen zu gehen. Die Gelegenheit sollte ergeben, ob es zu einem Vorschlag und einem Zusammengehen kam … Der tätige und einfallsreiche Ehmann wird seinen Weg finden; inzwischen schrillte die Glocke. Schon Schluß der Pause und der nächste Kampf?

Margo im Zimmer Schattichs, Margo, die alles sah und hörte, hatte im Ohr den Klang einer Klingel. Für sie war Pause, Ehmann untergetaucht, Ernst kaufte Bier, Emanuel und Inge warteten durstig auf seine Rückkehr. Margo empfand, daß die beiden einander nichts zu sagen hatten außer Bemerkungen über die noch bevorstehenden Boxkämpfe. Wozu dies, und wozu alles, was sie getan hatten? So empfand Margo. Liebe war es nicht, und es war nicht Freude. Sie hätten es nicht nötig gehabt, auch taten sie es nur, um schnell vorwärtszukommen und mit ihrem Leben, wie mit dem leichtesten Gepäck, nur in Bewegung zu sein, was gespannt sein heißt, nie aber an einem Ziel, wo man sich einmal freuen kann. ›Wir haben nicht gelernt, uns zu freuen‹, empfand Margo. Es wurde ihr Thema.

Plötzlich erschrak sie. Das Läutewerk rasselte, es war nicht im Sportpalast, es war hier im Zimmer – das Telefon, auf dem sie die Hand hielt. Wie lange schon? Ihre Hand war nicht im geringsten ermüdet. Das Läuten hatte sicher grade erst angefangen, als sie auch schon erschrak. Vielleicht hatte es sogar begonnen in demselben Augenblick, als sie die Hand an den Hörer legte, und länger als diesen Augenblick hatte alles, was sie sah und hörte, nicht gewährt … Margo hob ab.


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