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Sechzehntes Kapitel

Das erste, was Emanuel bemerkte, war die geschlossene Tür des Wintergartens. Wie gut, daß er den Schlüssel in der Tasche trug! Der Vorhang bedeckte nur eine kurze Strecke zu beiden Seiten der langen gläsernen Wand. Dahinter war es jetzt dunkel, Licht lieferten natürlich die Häuser in den umliegenden Gärten; aber er berechnete sofort, ob es ihm genügen würde, wenn er etwas übereilt von hier aufbrechen mußte. Der große Salon, den er betreten hatte, zeigte dagegen volle Beleuchtung.

Der riesenhafte Tisch stand ihm noch genauso im Wege. Er versuchte, einen seiner Flügel zu umfassen, aber daran hinderte ihn sein Führer Ehmann. »Bitte hier, lieber Freund«, sagte Ehmann und stellte ihn über den Tisch hinweg den beiden anderen Typen vor. Der eine knurrte auf englisch, der zweite schwieg überhaupt. Ehmann übersetzte dennoch, was sie meinten.

Emanuel hörte noch nicht zu, er überlegte: ›Nur zwei? Dabei kann es nicht bleiben. Das sieht nicht nach Schattich aus. Wo steckt mein Freund Schattich? Habe ich hier eine Tür übersehen?‹

»Vor allem setzen wir uns«, ordnete Ehmann in zwei Sprachen an, und er richtete es so ein, daß Emanuel den Rücken dorthin wendete, wo er nichts entdecken sollte.

Emanuel wurde endlich darauf aufmerksam, daß einer seiner Gegner von ihm verlangte, er möge seine Erfindung einfach gleich auf den Tisch legen. Er antwortete darauf mit harmlosen Lachen, während er sich aber den Typ genauer ansah. Es war der kleinere, gedrungenere, englisch war er bestimmt. Fragender Blick auf Ehmann neben ihm; denn hatte sein Freund nicht vermutet, die Leute könnten ihm schon begegnet sein? Möglich; aber wo? Hinsichtlich des Längeren, Älteren verneinte er die Frage unbedingt. Der war ihm nicht vorgekommen. Dabei hatte Bausch, der rüstige Vierziger, sich nur etwas grau gemacht, einige Schatten auf sein Gesicht gelegt, und die Schultern trug er hinaufgezogen; das war alles.

Emanuel betrachtete ihn und auch Williams mit voreingenommenen Blicken; er wollte an sie glauben. Wohl sah er die Unterhändler für Agenten Schattichs an, aber sie blieben darum doch Unterhändler und sogar fremde. Sie konnten durch ihn selbst gewonnen werden und seine Partei für die aussichtsreichere halten. Er verzweifelte keinesfalls, sie auf seine Seite zu ziehen.

»Meine Herren, ich bringe Ihnen eine Sache von vierzig Millionen«, begann er munter – und bot für den Älteren der beiden auch gleich seinen Jugendreiz auf, er lächelte ihm auffordernd in die Augen. »Nun glauben Sie doch wohl selbst nicht, daß ich die Sache greifbar mit mir umhertrage – in meiner hinteren Hosentasche«, scherzte er. Humor! Vielleicht, daß Humor es schaffte!

Zu seinem Schrecken standen beide wortlos von ihren Plätzen auf. Ehmann erklärte ihm: »Sie wollen die Verhandlung abbrechen, wenn sie deine Bombe nicht zu sehen bekommen.«

»Aber meine Herren! Die Bombe ist da und wird sich freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Sie besteht aus drei Decken, Samt, Platin und Glas, von außen nach innen gerechnet. Das Glas enthält, was Sie wünschen.«

Die beiden setzten sich zögernd wieder hin.

»Ich bitte einfach um Ihr Angebot«, sagte Emanuel und nahm eine nachlässige Haltung ein, immer bedacht auf Verführung des Älteren. Von dem anderen erhoffte er nichts.

Bausch blieb dem auch wirklich nicht unzugänglich, es überraschte ihn selbst. Seine Tochter war erwachsen, sein Geschäft stand vor dem Absterben; er hatte es nötig, seinem Gefühlsleben eine neue Wendung zu geben; hier kündigte sie sich noch undeutlich an.

»Ich will Ihnen keine unnützen Schwierigkeiten machen, junger Mann«, sagte Bausch auf englisch; Emanuel verstand die Worte nicht. Aber sie waren sicher entgegenkommend. Übrigens gab er Ehmann ein Zeichen, es betraf die große Platte mit belegten Brötchen und die Karaffe mit Portwein. Beides wartete auf dem langen Tisch in weiter Ferne, und da die Gegenstände trotz der auffordernden Blicke Emanuels nicht von selbst näher kamen, sann er schon seit einiger Zeit auf einen Handstreich. Jetzt brachte Ehmann ihm nicht nur, was er begehrte, er übersetzte auch die ausdrückliche Aufforderung des älteren Engländers. Emanuel sollte mit ihm anstoßen, und während des kleinen Imbisses sollte er sich klarwerden, ob ein offenes Spiel nicht doch das beste für ihn wäre.

Er dachte hierüber nicht nach, er schlang nur. Den ganzen Tag hatte man ihn absichtlich ohne Nahrung gelassen, er hielt sich nicht für verpflichtet, Rücksichten auf den guten Ton zu nehmen. Er stürzte mehrere Gläser hinunter, und als er zum zweitenmal mit Bausch anstieß, erkannte er ihn.

Es kam daher, daß bei ihnen beiden der Wein einigen Widerstand beseitigte. Bausch ließ sehen, wer er war, um dem Knaben besser zu gefallen. Emanuel sträubte sich nicht länger gegen die Einsicht, daß dies kein Engländer war. Es war der Ehmannsche Schwiegervater, ein Opfer der Wirtschaftskrise und nicht grade geeignet zur Mitwirkung bei einer Sache von vierzig Millionen. Trotz allem aber ließ Emanuel keineswegs von seiner Hoffnung; im Gegenteil, sie verstärkte sich, weil er jetzt den einen der Unterhändler wenigstens untergebracht hatte. Bausch konnte hier um so ernstere Aufträge vertreten, je geheimnisvoller er sich gab; denn im Grunde blieb bei dieser Gelegenheit jeder besser maskiert. Genaugenommen, war Bausch auch nach der Meinung Emanuels ein ausgemachter Schwindler und höchstwahrscheinlich gekauft von Schattich samt List. Dem widersprach nur die Hoffnung; aber sie wog das ganze Wissen wenigstens auf. Wer war sein zweiter Gegner? Das schien schwerer zu finden. Emanuel aß und trank schon langsamer, er sprach auch dabei.

»Ein faires Spiel war es nicht, mich auszuhungern«, äußerte er. »Ich trete hier schließlich zum Boxkampf an.«

Bei dem Wort vergaß er zu kauen. Im Sportpalast gestern – dort mußte er den Menschen gesehen haben! Jetzt brauchten nur noch einige Bilder hervorzuspringen, und der Trainer war entdeckt. Emanuel erschrak, seine Verfolger hatten einen Boxer zugezogen, um ihn sicherer k. o. zu schlagen. Sogleich aber entschloß er sich, seinerseits bedenkenlos vorzugehen. Seine Verfolger hatten alle zusammen nur ein Gesicht – mit den Zügen seines Feindes Schattich! Wenn der sich zeigte! Ach, wenn doch Schattich in Reichweite kam!

Im Zimmer nebenan sagte Herr von List mit der Uhr in der Hand: »Die Geschichte dauert bis jetzt fünfzehn Minuten, und genau zehn davon frißt der Bursche. Lieber Freund, Ihre Leute beziehen wohl Stundenlohn?«

»Ich denke, wir lassen die Sache sich ruhig abwickeln«, meinte Schattich, so nervös er auch war. »Zu nachdrücklicherem Vorgehen bekommen wir noch immer Gelegenheit.«

List klemmte das Monokel ein und faßte den Freund ins Auge.

»Herr Schattich! Wo befindet sich die sogenannte Bombe? In der Tasche des jungen Mannes? Er leugnet es.«

Schattich öffnete hinter seinen runden Brillengläsern die erstauntesten Augen, sie täuschten halbwegs sogar seinen Freund List; er vertagte sein Mißtrauen.

»Wo denn sonst?« fragte Schattich fast ganz unschuldig. Aber seine feste Überzeugung war im Gegenteil, daß die Bombe infolge des Einbruchs in der Rappschen Wohnung seinem »Neger« Ehmann zugefallen war. Ehmann hatte sie natürlich in Sicherheit gebracht; und dies vorausgesetzt, war Schattich stark genug, das ganze, ihm von seinem Freunde List aufgezwungene Abkommen über die Rechte an der Birkschen Erfindung – ja, in diesem Punkte war er stark genug, es einfach umzuwerfen. Fragt sich nur, wie sonst die Machtverhältnisse lagen. Hierin bestanden die inneren Sorgen Schattichs.

Seinen Freund interessierte allein die Technik der Vorgänge. In seiner straffen Haltung ging er über den Teppich und faßte zusammen, was er angeordnet hatte.

»Im Garten habe ich sichere Leute aufgestellt, zwei Fachmänner, die nicht lange reden, bevor sie handeln. Ihr kleiner Dummkopf verläßt sich darauf, daß er die Schlüssel zum Gewächshaus und Garten in der Tasche trägt. Er wird laufen, wohin er laufen soll. Nachdem der Junge zum Schweigen gebracht ist, landet er mit Hilfe von vier kräftigen Armen pünktlich in seinem eigenen Wagen.«

»Vor das Haus, auf die Straße wollen Sie ihn schaffen?«

»Sein Wagen hält längst nicht mehr dort. Er steht in meiner Garage, und sie hat ihren zweiten Eingang im Garten. Er sitzt kaum drin, wird losgefahren, und in Storkow –«

List unterbrach sich.

»Das ist mein Landsitz. Ich habe eine Schwäche, sogar ich habe eine: das Wild von Storkow. Ich schieße es nicht, ich verbringe Tage auf dem Anstand, um mit den Tieren zu leben.«

›Da haben wir's‹, dachte Schattich. ›Er ist auch nur sentimental.‹

»Während der dumme Junge in Storkow hinter vergitterten Fenstern nach Herzenslust essen und trinken darf, ziehen wir nicht nur unser Geschäft auf, wir versichern uns auch der Zustimmung des Erfinders Birk.«

»Ich bin neugierig, wie Sie es machen wollen.«

»Von Ihnen selbst weiß ich, daß er den Knaben liebt. Meinetwegen. Ich liebe mein Wild. Er wird ihn wiedersehen wollen, wie? Ich garantiere Ihnen, daß er auf seine Erfindung glatt zu meinen Gunsten verzichtet.«

»Das nenne ich Organisation«, bestätigte Schattich; er rieb sich die Hände – freute sich aber einzig und allein, weil die Bombe im Besitz Ehmanns war.

»Ich höre gar nichts mehr«, erklärte List, der lauschte. »Verabredet war, daß Ihre Jungen ihm das Ding gleich hier abnehmen. Sie rühren sich nicht; es ist nicht zu sagen, mit was für Material Sie arbeiten, lieber Freund. Ich werde Befehl geben müssen, daß meine beiden Angestellten aus dem Garten hereinkommen und sich den Patienten persönlich abholen.«

»Wir haben auch noch den Schauspieler.«

»Richtig. Sein Auftritt fehlt noch.«

Jemand kratzte verstohlen an einer inneren Tür, der Diener erschien. Er meldete, daß der Schauspieler soeben fortgegangen sei. Dagegen säßen oben zwei fremde Personen.

»Ich habe sie eingeschlossen«, versicherte der Diener.

Emanuel draußen am Verhandlungstisch faßte nach seiner Waffe, sie war für Schattich. Sie war nicht für den erbärmlichen Bausch, der gewiß innerlich zitterte und bebte. Sie galt auch nicht Ehmann, der zwar seinen Freund, aber dafür auch wieder die anderen verriet, und nicht einmal dem bezahlten, abgelohnten Boxer war sie zugedacht; jeder lebt, wie er kann. Nur ein einziger quälte und verfolgte Emanuel, verhinderte ihn, reich zu werden, stellte Margo nach, dang Mörder und kaufte Inge. Denn Inge war von ihm gekauft, sie hatte Emanuel verlassen und hatte gegen ihn gearbeitet. Der Einbruch war ihr Werk. Mit ihrem Wissen und Einverständnis saß der, dem sie Leben und Existenzwert gewesen war, hier seinen Feinden ausgeliefert!

Er griff sich an die Stirn, die anderen wußten nicht, was ihm einfiel. Er hatte aber vergessen, wen er haßte, Schattich oder Inge. Dachte er des einen Wesens, verschwand das andere. Er schloß die Augen: da blieb dennoch Inge zurück.

Nun war sie weit vom Schuß, und Schattich, seine Anwesenheit angenommen, fand sicher nicht den Mut, seine Deckung zu verlassen. Emanuel aber sah das Ende seiner Geduld herankommen, sein Blut und seine Selbstachtung drängten ihn loszuschlagen. Der Gegner hatte recht gehabt: offenes Spiel war das beste für ihn. Er konnte nur noch wenige Augenblicke an sich halten – und gleich keinen einzigen mehr. Erklärten jene sich nicht? Dann er. Ein Sprung auf den Tisch – er griff von oben den Boxer an. Williams war anfangs fassungslos, der Junge hätte es inzwischen leicht gehabt, sich auf der anderen Seite hinunterzuschwingen, durch das Gewächshaus zu flüchten, den Garten zu erreichen. Bausch und Ehmann waren nur darauf bedacht, ihm nicht zu nahe zu kommen. Aber sein Rückzug, so sorgfältig er ihn vorher gesichert hatte, jetzt kam er ihm gar nicht in den Sinn, der Junge schlug auf Williams ein. Da tat Williams etwas Sonderbares. Er drückte seinen Angreifer auf dem Tisch in die Knie; sobald er wollte, konnte er es; – und er sagte ihm ins Ohr: »Mensch, mach keinen Quatsch!«

Sein Deutsch verblüffte Emanuel dermaßen, daß er sich von den Händen des Trainers ruhig wieder auf den Fußboden setzen ließ, genau dort, woher er gekommen war. Er hob sogar seinen Stuhl auf, denn der war umgefallen. Bausch getraute sich zu seinem Platz. Ehmann, der sich abwartend verhielt, bemerkte: »Ein kleines Mißverständnis. Interessenkämpfe wollen nun einmal durchgefochten werden.«

In der folgenden Stille überwog bei Ehmann das Gefühl, daß er endlich etwas tun müsse. Seine Rolle während der bisherigen Verhandlungen war blaß gewesen. Andrerseits schien der letzte Zwischenfall auf eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses hinzudeuten; Williams benahm sich nicht eindeutig. Dem trug Ehmann Rechnung, er erhob die Stimme.

»Ich stehe hier als Vertreter meines Freundes Rapp. Niemand«, sagte er silbenweise und meinte die Herren Schattich und List hinter der Wand, »nie-mand, wiederhole ich, wird mir die Ansicht verübeln, daß mein Freund Rapp zunächst einmal verdienen muß. Ich schlage den Herren eine Option vor.«

»Der wird verrückt!« rief Herr von List so laut, daß wenigstens die scharfen Ohren Ehmanns etwas ahnten wie eine Drohung. Ihm wurde schwül; aber aufrecht erhielt ihn ein Gedanke: ›Macht, was ihr wollt, der Stärkere bleibt der Konzern.‹ Es kam ihm nicht darauf an, er sagte: »Zweimal hunderttausend sind zu erlegen, bevor wir weiterverhandeln.«

Hierfür konnte nunmehr Schattich die Erfindung an sich bringen und sie, wohlverstanden, nach Abzug seiner Provision dem Konzern ausliefern. Er brauchte sich nur auf seine Pflicht zu besinnen. Der Konzern bekam die Erfindung nicht ganz umsonst, das ging nicht mehr infolge des Umfalls des Trainers, aber noch billig genug. Auch Emanuel durfte froh sein; zweifellos legte er seine Bombe jetzt lammfromm auf den Tisch. Ehmann suchte den Ausgleich für alle; nur rechnete er aus Unkenntnis nicht mit den vorliegenden Maßnahmen des Herrn von List, mit jenem, Schattich aufgezwungenen Vertrag und allem, was auf Rittergut Storkow vor sich gehen sollte. Das hatte der sonst Umsichtige nicht aufgespürt. Wie konnte Ehmann so leichtfertig hinweggehen über die entschlossene Natur des großen Geschäftsmannes!

Egon von List war aufgewühlt und, wie immer in solchen Fällen, nur noch eisiger.

»Herr Schattich, Sie haben mich betrogen. Ihr Agent geht gegen mich vor. Wenigstens weiß ich jetzt, daß er und nicht der andere die sogenannte Bombe bei sich trägt.«

Schattich erbleichte, er starrte rundäugig in die Luft.

»Um so schlimmer für Sie, Herr Schattich. Ich werde mir zu helfen wissen. Unsere Freundschaft ist abgeschlossen, wenn auch nicht Ihr Konto. Das durchaus nicht.«

»Ich kann Sie nur bezahlen, List, wenn ich Reichsbankpräsident werde«, sagte Schattich unverschämt, denn was war hier noch zu verlieren.

»Das wird bestimmt ein Würdigerer!« entschied sein ehemaliger Freund, und Schattich fühlte auf einmal seine Beine zittern.

Auch wenn der Unglückliche noch etwas hätte vorbringen wollen – im großen Salon brach schon wieder ein entsetzlicher Krach aus. Eine Stimme, die in dem Kreis neu war, verlangte überaus scharf nach einem gewissen Rapp: alle erhoben schreiend Einspruch, aber das brutale Organ setzte sich durch.

»Alle Anwesenden sind verhaftet, ich bin der Polizeikommissar.«

Herr von List öffnete die Tür, gleichgültig, wer ihn sah. Auch Schattich spähte mit hindurch. Ein Mann mit weißblondem Kopf, den sie nicht kannten, hatte den Befehl übernommen.

»Niemand rührt sich, oder ich mache von der Waffe Gebrauch. Hier wird Industrieverrat verübt. Dageblieben! Das Haus ist umstellt.«

Dies galt für Bausch und Ehmann, die verschwinden wollten. Plötzlich warf der zweite Engländer, der, den sie Williams nannten, sich auf seinen älteren Kollegen und streckte Bausch mit einem Faustschlag bewußtlos hin. Auch dem Agenten mit dem doppelten Spiel, Ehmann, wie der Mensch hieß, hatte Williams dieses Schicksal zugedacht; aber Ehmann lavierte geschickt hinter den Möbeln, er war nicht zu fangen.

Der breitschultrige Weißkopf bekümmerte sich um den Hauptverbrecher Rapp, er fesselte ihn. Brüstung machte es im Ernst, so gut er konnte, denn er hatte Emanuel nach seiner Tasche greifen gesehen und fürchtete ein Unglück. Die Handschellen schlossen in der Hast nicht richtig; aber Brüstung hielt ihm die Arme fest. Williams jagte inzwischen nach Ehmann … List öffnete die Tür weiter.

Er stellte fest, daß hier ein großes Geschäft verlorenging, oder er rettete es noch mit eigener Hand. Der Gegner war in der Mehrheit, er behauptete das Feld so gut wie allein. Wenn Williams den gewandten Ehmann doch noch erwischte, List war nach allem darüber aufgeklärt, deshalb werde noch lange nicht er selbst die Bombe fassen. Außerdem mußte er, um mit Ehmann und seinem Verfolger in Fühlung zu kommen, erst noch den falschen Kommissar beiseite räumen. List zweifelte mit keiner Regung, daß der neu Aufgetretene genauso Maske war, wie sein Freund, der Schauspieler, es gewesen wäre. Dieser hier aber – Egon von List täuschte sich niemals darüber, wer gegen ihn stand. Er besann sich nicht, er warf seinen Rock ab und trat zum Kampf an.

Brüstung ließ Emanuel los, er empfing den Gegner, der nicht zu verachten war; er merkte es auf den ersten Blick. Sie kämpften eine ganze Minute, dann erst deckte Egon von List den Boden. Brüstung hatte ihn der Kürze wegen mit einem Leberschlag bewußtlos gemacht. Jetzt lag List quer vor den Füßen des armen Bausch, der zur Zeit auch keine Eindrücke mehr hatte.

Ehmann war geflüchtet. Nur die Minute lang, bevor der Boxkampf zwischen List und Brüstung sich entschied, war Williams abgelenkt worden, aber sie hatte Ehmann reichlich genügt. Obwohl das Gewächshaus ganz nahe war, hütete er sich, die Richtung des Gartens einzuschlagen; Ehmann roch, was ihm dort gedroht hätte. Er stürzte in die Halle hinaus – und hatte Glück; die Haustür war unverschlossen. Jemand machte den Versuch, ihm zuletzt noch den Weg zu verlegen – Williams, wieder Williams. Er mochte Ehmann nicht, weil er für andere keinen berechtigten Grund sah, daß sie ihre Verträge brächen. Die Wildheit, mit der er hinterhersetzte, riß auch Brüstung mit; er schloß sich der Verfolgung an. Beide liefen auf die Straße – und mochten nur laufen. Darin schlug Ehmann sie.

Der große Salon enthält in diesem Augenblick zwei Bewußtlose und den jungen Emanuel Rapp, sonst niemand.

Emanuel aber steht und zielt nach Schattich. Er hat seinen Feind, seinen schlimmsten Feind erblickt in einer Öffnung der Wand, die ihm so plötzlich vor Augen tritt wie der Verhaßte. Seine Hand ist an der Waffe, bevor er es beschlossen hat. Der Revolver erhebt sich von selbst, sogleich wird er in der Höhe jener Brust sein. Emanuel denkt nicht: er fühlt Abscheu, und wenn er danach fragen würde, glaubt er in Verteidigung zu handeln. Dies ist ein schrecklicher Verfolger; in der unbegreiflichen Öffnung der Wand gibt er sich endlich preis. Langsam sucht die Waffe den alles entscheidenden Punkt.

Schattich sieht genau, daß es ernst ist, und er fühlt sich wie jemand am Rande des Lebens. Das Leben macht in ihm noch Sprünge; wechselnde Entschlüsse, Ausflüchte, die Angst, der Haß, alles ist noch da, überschlägt sich, alle Antriebe arbeiten gegeneinander, und gebannt verharrt der Mann, das Auge auf dem vorrückenden Tod, der Ewigkeiten durchmißt in Sekunden … Er hätte sich ducken und die Tür zuwerfen sollen zwischen sich und dem Mörder: – zu spät, vorbei! Auch die Bewegung, die er noch versucht, wird vergeblich sein; er tastet nach dem Lichtschalter. Ihm ist eingefallen, was List gesagt hat: von hier aus läßt sich der Salon verdunkeln. Seine Hand trifft indes gleich zwei Vorrichtungen, an denen sie drehen kann, und sofort erlischt die Beleuchtung überall, hinter ihm im Zimmer, vor ihm im Saal. Die Mündung der Waffe war, als es dunkel wurde, grade richtig eingestellt.

Der schweißgebadete Schattich könnte jetzt sich einschließen und verstecken, er könnte entkommen, denn er ist unsichtbar. Erstaunlicherweise behält er seinen Standpunkt in der offenen Tür. Ebenso erstaunlich: Emanuel Rapp schießt trotzdem nicht. Wohl weiß er vor sich den bewegungslosen Schattich, aber hinter sich ahnt er etwas anderes, eine fremde Regung, einen neuen Vorgang. Er hört nichts, hat auch nicht das Gefühl, als drohe ein Angriff. Eher eine Mahnung – ja, eine furchtbare Mahnung sucht den Weg zu ihm. Sein Herzmuskel klopft dumpf, er läßt die Hand mit dem Revolver sinken. Im Rücken überläuft es ihn kalt, er wendet sich der langen Glaswand des Gewächshauses zu. Ohne es zu wollen, tritt er dabei zurück und nähert sich Schattich. Sie stehen fast nebeneinander, Emanuel einen Schritt vor. Hier ist es völlig dunkel. Draußen liefern entferntere Gärten noch einiges Licht; daher fällt auf die große Scheibe der Schatten von Gewächsen … Im Haus beginnt eine Uhr zu schlagen.

Eine menschliche Gestalt erscheint auf der Glaswand; sie wird schwach sichtbar hinter dem Vorhang in der Ecke links; hat sich aber verdichtet und an Körperlichkeit gewonnen, als die unbedeckte Mitte der großen Scheibe erreicht ist. Man erkennt sie, schon erkennt man sie. Zuerst glitt sie über die Schatten der Pflanzen hin, ohne daß deshalb ein Blatt schwankte. Jetzt verdrängt sie ganze Zweige. Sie hält bei der Tür an, sie versucht, sie zu öffnen. Es scheint, daß es nicht geht, obwohl der Eingang doch unverschlossen ist, oder daß die Anstrengung ihre Kräfte übersteigt. Sie neigt den Kopf gegen die Scheibe, um hier hereinzuspähen.

Unverkennbar ist er es. Sein langer Schädel ist es, es ist die vereinzelte Haarsträhne, die ihm bei der Arbeit und im Winde über die Stirn fällt. Als er um die Ecke links kam, ging er noch unbeteiligt und sah über alles hinweg – was seine Haltung für täglich ist und ihn nicht beliebter macht. An der Tür arbeitet er vielmehr gespannt, mit alleräußerster Anspannung sogar, überzeugt von dem, was er tut, aber eigentlich unter Überschreitung seiner Kräfte. Das wird ganz deutlich, als es ihm endlich dennoch gelingt, die Tür aufzubringen. Er tritt ein, dringt wirklich in den Raum – ist aber sichtlich schon erschöpft, während das Schwerste ihm noch bevorsteht. Er strebt um den Tisch zu dem Jungen hin, soll hingelangen, setzt auch alles, was er kann, dafür ein – kommt aber nicht vorwärts. Seine Füße bewegen sich vergeblich, der Tisch scheint immer länger zu werden, je weiter er ihn umgeht. Endlich hält er an, neigt sich in Richtung des Jungen vor und erhebt einen Arm.

Er hat den Weg nicht vollbracht, und auch seine Stimme hat niemand vernommen. Er hat nicht einmal mit den Augen sich verständlich machen können; alle seine Züge sind tiefer Schatten, nur eine Wange hell umrandet. Dafür vermag er einen Arm zu erheben, die Hand schwebt weit geöffnet vor ihm her, in befehlender Haltung. Emanuel wagt nicht wegzublicken, sonst sähe er dies nicht mit an. Jene Hand schwebt näher, sie neigt sich zu ihm aus einer freien Höhe, wie von einer hohen Brücke. So ist die Gebärde, indes die Füße steckenbleiben. Emanuel weiß sich ergriffen und besiegt. Er weiß sich nicht gerettet. Aber der Revolver entfällt ihm, und über sich selbst gebeugt, bedeckt er sein Gesicht.

Emanuel entblößt es wieder, als er bemerkt, daß es um ihn hell wird. Schattich hat alles Licht wieder eingeschaltet. Beide erkennen aneinander, daß sie das Gleiche erblickt haben. Beide wenden das Gesicht nach der Glastür – die jetzt offensteht. Der sie geöffnet hat, ist fortgegangen, ohne sie zu schließen. Währenddessen fällt der letzte Schlag der Uhr. Alles ist geschehen, solange im Hause eine Uhr schlug.

Dem selbstvergessenen Schattich kam plötzlich wieder zum Bewußtsein, neben wem er hier noch immer verweilte. Der Mensch konnte jede Minute verrückt werden, wie schon einmal, und aufs neue nach der Schußwaffe langen. Ein Satz – Schattich warf die Tür des kleineren Zimmers hinter sich zu und entzog sich allen ferneren Zwischenfällen.

Statt seiner, wer betrat von der Halle her den Verhandlungssaal? Inge. Sie kam, weil bald fünf Minuten verstrichen waren, seit Brüstung ihr droben auf der Galerie gesagt hatte: »Warte hier!« Sie war ungeduldig, sie wollte wissen, was geschah. Nun geschah aber, daß Emanuel auf sie schoß.

Als ihr Em sich nach dem Revolver bückte, erhob Inge ihren rechten Arm – genau wie vorhin ein anderer. Ihre Bewegung hatte dieselben Teile, nur fügten sie sich viel schneller zusammen. Die Hand Inges schwebte nicht, sie schnellte von ihr fort. Nicht schnell genug, noch nicht schnell genug! Ihr Em schoß los.


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