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Achtes Kapitel

Aber Emanuel war schneller. Im Aufzug hinunter und aus der Haustür, bevor Ehmann die vier Treppen hinter sich gebracht hatte. Der Junge wartete, gedeckt durch einen Pfeiler, beim Eingang des Monbijou-Parkes, er sah den anderen nach der Autohaltestelle hinübergehen, ließ ihn abfahren und nahm dann selbst einen Wagen.

Es war das erste Mal im Leben, daß er einem Mann folgte, und es setzte ihn im Grunde genauso in Erstaunen wie der Verfolger, der sich vor kurzem um ihn selbst bemüht hatte. Indessen überwog die Tatkraft. Wohin wollte Ehmann? … Jedenfalls brachte er Emanuel weitab vom Weg nach dem Krankenhaus, der elegante Westen war das Ziel – Blauenberg sogar, das Villenviertel der reichsten Zweihundert. Emanuel ahnte die Wahrheit, noch bevor die andere Taxe anhielt vor dem Palais des Präsidenten von I. G. Chemikalien.

Einen Augenblick erkannte der Junge alles. Ehmann, der jetzt dort drinnen über seinen Besuch bei Emanuel Bericht erstattete, war selbst am Apparat gewesen, als Emanuel aus der Central-Bar mit dem Privatsekretär des Präsidenten gesprochen hatte. Ja, Ehmann persönlich hatte den Privatsekretär gespielt – beim ersten Satz war seine Stimme noch unverstellt gewesen. Er und kein anderer hatte auch jenen Verfolger gemacht in den Seitengassen der Parkstraße. Dieselben Auftraggeber, die ihn dorthin geschickt hatten, erwarteten von Ehmann jetzt den Sprengstoff; seine Bemühungen, ihn zu erlangen, waren deutlich.

Im nächsten Augenblick hingegen bezweifelte der Junge dies alles. Nicht wegen der Abenteuerlichkeit der Vorgänge; Abenteuerlichkeit und Alltäglichkeit kannten für den Jungen keine festen Grenzen – sondern, weil Ehmann dieselbe Einstellung zu den Tatsachen des Lebens hatte und ebenso wie Emanuel unbedingt reich werden wollte. Wenn grade dies den Freund hätte warnen können, beschwichtigte doch wieder seine Sympathie den Verdacht. Je bedenkenloser Ehmann sich sonst gab, um so verläßlicher schien dem Jungen seine Freundschaft. Das Gefühl des Jungen unterschied zwischen dem Ehmann, der wie aus einem Film stammte, und dem Ehmann für den täglichen Gebrauch.

Vor allem mußte Margo unrecht haben, denn Emanuel stand gespannt mit Margo, und Ehmann war bestimmt anders, als sie glaubte. Sie machte Schwierigkeiten bei der Verwertung des Sprengmittels – warum? Landesverrat – von wem kam das, wer hatte sie informiert? Margo hielt zu Schattich!

Dem Jungen wurde heiß. Aus Eifersucht vergaß er Inge, Nora Schattich, die eigenen Dummheiten und sogar seine Leidenschaft. Er sah im aufgeregten Innern nur noch das Bild Schattichs mit Margo; fast hätte er halten lassen, sein Anfall kam grade am Heumarkt. Er widerstand mit genauer Not und fuhr weiter, der Zeitpunkt seiner Verabredung war ohnehin überschritten.

Als er durch die Gänge des Krankenhauses eilte, trat grade sein Schwager Rolf aus dem Zimmer des Arztes. Er zeigte sich ganz damit einverstanden, daß sein Vater Besuche empfing.

»Geh zu ihm, bring meinetwegen Geschäftsfreunde mit! Der Vater liegt zu viel allein. Seine Verletzung ist nicht bedeutend genug, daß er deshalb tagelang seinen Gedanken überlassen bleiben darf.«

»Das ist ja schrecklich!« bestätigte der Junge. »Tagelang denken!«

Rolf sagte: »Ich habe Anzeichen, daß er depressiv wird. Er spricht von übernommenen Verantwortungen, die er nicht tragen könne.«

»Was heißt Verantwortung«, warf der Junge hin.

»Man behält sie, solange der Patient noch Chancen hat«, erklärte der Arzt.

»Es heißt überhaupt Chance – statt Verantwortung«, schloß der Junge.

Emanuel eilte weiter, dabei kam er vorbei an einem Zimmer, in dem Inge saß. Er sah sie nicht, nur sie ihn durch die wenig geöffnete Tür. Sie wartete dort schon lange, lange auf die Pflegeschwester, die sie zu ihrem Vater brächte. Als sie herkam, war es ein Uhr mittags; ihr Vater hatte gegessen oder wenigstens zu essen bekommen, dann sollte er schlafen und hatte vielleicht nur dagelegen. Sein Zustand sollte sich verändert haben, etwas war eingetreten, das die Wärterin der Tochter nicht sagen wollte. »Sie werden schon sehen«; – aber inzwischen wartete Inge in dem kahlen, unbewohnten Krankenzimmer, und Männer kamen vorbei, um sie anzusehen.

Es waren Kranke, sie warfen Blicke der Sehnsucht nach dem blühenden Mädchen – erschienen mit bleichen Gesichtern im Türspalt und entglitten auf Filzschuhen. Ihr fiel es nicht ein, zu schließen; sie hatte Gedanken wie diese: ›Wenn ich nun in dem Tennisturnier Meisterin geworden wäre, hätte mir das alles nicht passieren können. Ich führe nichts durch, und immer gebe ich nach, aber diesmal – Emanuel, das ist ein richtiges Unglück. Er sieht das noch gar nicht. Was denkt er sich, wie es kommen soll mit Margo – und mit uns!‹

Ein Kranker, dem es schon besser ging, faßte Mut, trat ein und tat, als hätte er in dem Zimmer etwas zu suchen. Kein Gegenstand fand sich vor, den er mit einiger Wahrscheinlichkeit hätte in die Hand nehmen können; daher bückte er sich lautlos hinter ein Tischchen und begehrte versunken das schöne Geschöpf, das ihn nicht sah. Sie dachte in ihrer großen Angst: ›Wie Margo mich genannt hat bei der Brücke, wirklich, das bin ich. Und es ist nichts zu machen. Wer könnte mir helfen? Ich werde zu Papa gehen, er wird gut mit mir sein, das ändert nichts daran. Vielleicht stirbt er, und wir alle werden vom Konzern entlassen wegen des Skandals!‹

Das Verlangen des Kranken war, schon durch seinen geschwächten Zustand, nicht entfernt so stark wie die Lebensangst des Mädchens. Er fühlte selbst, daß hier auf keinen Fall ein Zugang bestand, und schlich hinaus. East gleichzeitig eilte Emanuel vorbei. Inge dachte grade: ›Wir alle werden entlassen‹ – und wunderte sich nicht im geringsten, daß ihr Schicksal körperlich auftrat. Es war zugegen, wo immer sie saß und wartete.

Emanuel wurde aufgehalten in seinem Lauf durch eine Pflegeschwester, die ihn fragte, ob er der Herr sei, der bei Herrn Oberingenieur Birk erwartet werde. Auch der andere Herr sei schon da, ziemlich lange sogar. Infolgedessen öffnete der Junge die Tür etwas stürmisch; der neben dem Bett Sitzende wandte sich um mit verschobenen Schultern, in einer Art von Schutzhaltung; es war Schattich.

Emanuel erblickte Schattich und keinen andern. Der Junge war weder erschrocken noch auch nur erstaunt: diesmal nicht. Er glaubte nicht sogleich, daß es ernst gemeint sei! Schattich saß dort offenbar scherzweise oder durch bloßen Zufall. Dem widersprach allerdings sein anzügliches Lächeln und daß er sich nach dem ersten Schrecken herausfordernd zurechtrückte. Seine Miene sagte: Mich hattest du nicht erwartet.

Emanuel fand blitzschnell ein Verfahren, um dies zwar zuzugeben und sich dennoch zum Herrn der Lage zu machen. Er schlug sich auf beide Schenkel und rief: »Kuckuck!«

Schattich, nicht sofort angepaßt, sprang auf seine kurzen Beine, allem Anschein nach wollte er böse werden. Ein Blick auf seinen alten Freund Birk stimmte ihn um, er bediente sich lieber seiner klar gegebenen Überlegenheit.

»Wenn Sie vom Herrn Präsidenten der I.G. Chemikalien einmal wieder etwas wünschen, junger Mann, kommen Sie gleich zu mir! Ich verständige mich mit dem Herrn Präsidenten meistens leichter als Sie.«

Wie er »meistens« betonte, diese dick aufgetragene Unangreifbarkeit stellte den Jungen vor die Wahl, auf der Stelle zusammenzubrechen oder mit den Fäusten über den Menschen herzufallen. Sein Schwiegervater sagte ihm durch eine Reihe von Armbewegungen, daß er vom zweiten dringend abrate. Birk arbeitete sich hinter dem Rücken Schattichs ab, als ob er niemals eine schwere körperliche Verletzung erlitten hätte, besonders aber nicht erst gestern. Ohne Worte gab er dem Jungen lebhaft und sinnfällig zu verstehen, er sei ein Esel und könne gehen. Den Schattich übernehme Birk selbst.

Emanuel ließ es sich nicht zweimal sagen. Er öffnete die Tür, die er kaum erst geschlossen hatte, und fand sich draußen auf dem Gang – noch immer nicht verwundert. Hier war etwas schiefgegangen – zum nächsten! Das Auftreten Schattichs anstatt eines erwarteten Verhandlungsgegners war kein Problem zum Nachdenken, es war eine Tatsache, die einfach neue Entschlüsse ergab. Emanuel erkannte nur im Augenblick noch nicht, welche. Er sah nach der Uhr: drei Uhr zweiundzwanzig … Da wurde sein Name geflüstert.

Inge! Sie zog die Tür, hinter der sie stand, ein wenig näher an sich, Emanuel glitt hindurch, und sie selbst schloß wieder. Sie sahen einander in die Gesichter, die auf einmal außerordentlich schön geworden waren und Größe atmeten, wie im Kampf mit einem ausgebrochenen Sturm. Sie maßen einander, erkannten einander, packten einander an. Sie ergriffen Besitz ohne Zärtlichkeit, sie taten das Unvermeidbare. Sie hatten es nicht gesucht. Dort stand das Bett bereit – ein Bett für Kranke, die unbekannt hier aufeinander folgten, Bett ohne Gesicht, ohne Lockung, sie rissen einander daraufhin, sie rissen einander die Kleider auf, sie hätten einander aus den Leibern die Gedärme gerissen, um mehr zu halten und ihres Besitzes sicher zu sein.

Sie litten, indes sie genossen. Die Lust war ihnen nicht tief genug, und wenn sie darin scheiterten und vergingen! Sie drangen ein, drangen ein und empfingen, blieben aber Oberfläche und Haut. Sie suchten mit ihren Fingern aneinander, sie wußten nicht, was noch. Sie stöhnten in ihre sich öffnenden Münder, schrien zu den Bewegungen ihrer Körper und bedeckten dabei mit einer Hand die Augen. Es war ein Krankenhaus, Operierte stießen ringsum Schmerzenslaute aus; diese Geräusche der Lust verschwanden darin, wie zugehörig.

Sie kamen nicht dazu, einander zu bewundern; die ganze Zeit blieb ihre Begierde zu groß. Die eine unterschied undeutlich eine Brust, die nicht die ihre und aus unbekannten Gründen genau, genau für ihre gemacht war. Der andere fühlte ihre Brüste, keinem anderen Stoff der Welt vergleichbar, an sich gepreßt und fühlte etwas wie die zunehmende Weiträumigkeit ihrer beiden Körper. Die weißen Achselhöhlen seiner Geliebten, ihre geschwungenen Schultern, das kleine Stück gewölbten Fleisches zwischen Schulter und jeder der Brüste, alles wuchs mit dem Genuß – verschwamm, bekam die helle Farbe von Sternenlicht, verwandelte sich aus Fleisch in einen Glanz und eine Sonne.

Indessen sagte Schattich am Bett Birks: »Wenn ich an die Wirtschaftslage denke, wird mir schwarz vor Augen.«

Schattich, der Emanuel so mühelos aus dem Felde geschlagen hatte, neigte dennoch zur seelischen Unruhe. Der Anblick seines alten Freundes bestimmte ihn mit. Er hing an der Gewohnheit, seinen alten Freund in schlechten Verhältnissen anzutreffen; nur durfte Birk nicht sterben. Schattich sah ungern seinen Altersgenossen den Mut verlieren, ihm selbst fielen sofort alle Möglichkeiten des Abstiegs ein.

Nach der Flucht des Jungen versank Birk im Bett und schwieg.

»So warst du aber noch nie, alter Freund«, bemerkte Schattich. »Da kann einem doch ganz bange werden. Dich hat die Sache glatt umgeworfen. Ja, wenn zu dem täglichen Kampf um die Existenz mal ein ungewöhnlicher Schlag kommt – Das ist meine ewige Angst.«

Er wartete auf ein Zeichen des Mitgefühls, sprach aber auch weiter, ohne es empfangen zu haben.

»Du liegst immer noch besser, meine Sorgen hast du nicht. Die katastrophale Wirtschaftslage kann mich von heute auf morgen ausschalten. Ich verstehe nur zu organisieren; aber wo es nichts mehr zu organisieren gibt –? Du, alter Freund, paßt im schlimmsten Fall dabei auf, wie deine Leute Abzugsröhren legen. Die werden wohl noch eine Zeitlang gebraucht werden.«

Er hatte seine Guthaben auf ausländischen Banken augenblicklich fast ganz vergessen. Voll aufrichtiger Besorgnis folgte er dem Blick Birks. An der Wand gegenüber dem Bett hing ein Kruzifix, von dem der Kranke die Augen nicht wandte. Schattich seufzte auf.

»Das auch noch. Ich hätte mit dem Pfarrer von Sankt Stefan nicht anbinden dürfen wegen des Glockengeläutes. Er hat den Bürgermeister für sich auf Grund der Wahlen. Er läutet ruhig weiter, und ich muß in meinem Bett wehrlos zuhören, aber das ist das wenigste. Die städtischen Behörden werden mir auf den Hals gehetzt, sie nehmen Stellung gegen uns, im Konzern bekomme ich es zu hören. Ich bin gefährdet, alter Freund, ich bin gefährdet!« sagte der große Mann gepreßt, ja tragisch.

Sein Monolog ward ihm unerträglich – ihm, der doch gern allein sprach.

»Was denkst du dir, alter Freund?« fragte er flehentlich. Birk sah ihn endlich an. Sein Gesicht drückte Spannung zusammen mit Scham aus – das Gesicht eines Jungen, der einen Streich vorhat; und dabei war es seit gestern so sehr gealtert.

»Man soll es nicht tun«, äußerte er.

»Was soll man nicht tun?«

»Auch ich dachte an Sankt Stefan. In anderer Hinsicht – und übrigens gegen mein Gewissen; aber ich denke daran.«

Schattich verstand dies nicht, er überging es als belanglos.

»Jetzt höre mal ernstlich zu, alter Freund!« verlangte er. »Es geht nicht so weiter mit deiner Erfindung. Du weißt nichts mit ihr anzufangen, ich aber brauche sie. Verstehst du mich? Ich bin offen. Ich kann meine Existenz durch sie auf Jahre sichern – vielleicht endgültig. Was macht dein Schwiegersohn mit den Werten, die er an Hand hat? Kindereien treibt er. Gib mir, mir, deine Erfindung zur freien Verfügung! Ich hole den richtigen Preis heraus. Ich erziele für mich eine Lebensrente, und dir als meinem ältesten, besten Freund verspreche ich eine anständige Abfindung.«

»Du bekommst gar nichts«, sagte Birk in aller Ruhe.

Die Augendeckel Schattichs begannen zu fliegen; es sah aber aus, als bräche seine ganze Person zusammen.

»Ich verstehe dich nicht«, brachte er vor. »Selbst wenn du mich haßt – bei mir verdienst du doch immer etwas, und anderswo keinen Pfennig.«

»Das ist auch nicht die Frage.«

»Verdienen ist nicht die Frage? Dann möchte ich wohl wissen, was die Frage ist.«

»Die Frage ist«, erklärte Birk, »wie die jungen Leute sich in der Angelegenheit verhalten und wie das Erlebnis ihnen anschlägt.«

»Sonst nichts?«

»Dann wird es auch lehrreich sein, Schattich, was mit dir noch alles passiert. Denn ich glaube nicht, daß du dich so leicht beruhigen wirst.«

»Da kannst du sicher sein. Ich habe die Macht, deine Erfindung an mich zu bringen. Ich bin der Bevollmächtigte des Konzerns, um mich kommst du nicht herum. Wenn du bei deinem Starrsinn beharrst, werde ich zum erstenmal im Leben unsere alte Freundschaft vergessen müssen und lasse dich die eiserne Faust fühlen« – drohte das Männchen, mit möglichst ehernen Zügen.

»Das System, dem du dienst, vernichtet dich ebensogut wie mich« – sein alter Freund betrachtete ihn eher traurig als feindlich. Da sackte Schattich nun wirklich auf den Stuhl wie knochenloses Fleisch. Sein Gesicht verfiel, es verlängerte sich; für Augenblicke erkannte er von den Dingen nur noch einen glänzenden Nebel – auch er am Rande des noch Empfindbaren angelangt, wie einige Zimmer weiter die beiden Jugendlichen in ihrer Lust.

»Ich habe solche Angst!« stöhnte der Reichskanzler und Generaldirektor.

»Hilf mir doch!« stöhnte er, und ihm war undeutlich bewußt, als kniete er – sei in seiner ausgebrochenen Lebensangst wahrhaftig auf beide Knie gesunken. Niemand stellte es fest. Oberingenieur Birk blickte wieder unbeirrbar nach der Wand gegenüber. Einige Zeit später erinnerte er sich Schattichs und bemerkte, daß der Gast entwichen war – lautlos vermutlich.

Inzwischen hatten die Körper Inges und Emanuels sich voneinander getrennt und waren vom Bett aufgestanden; sie hätten nicht gedacht, daß es jemals so kommen würde. Sobald Emanuel seine Sachen anhatte, sah er nach der Uhr: drei Uhr einunddreißig. Er erinnerte sich, daß es vorher drei Uhr einundzwanzig gewesen war. Das Aufstehen abgerechnet, hatte der ganze Zauber acht Minuten gewährt. Der Junge stellte für sich fest, daß die Liebe kein Leben ausfüllte.

Das Mädchen empfand anders. An ihrer Kleidung waren weniger Knöpfe, sie stand schon fertig da, und voll Erwartung folgte sie allen Bewegungen ihres Freundes. Schwerlich wußte sie, was wirklich zu erwarten war. Sie konnte nicht hoffen, daß er jetzt den Mund öffnete und sprach: ›Ich bin dein, dich geb ich nie mehr frei. Wir gehen nach Amerika und bauen unsere Existenz neu auf.‹ Das waren keine Begriffe von heute. Dennoch drängte es sie, heimlich zu fragen: ›Wie toll liebst du mich?‹ und für ihre Person zu antworten: ›Ewig.‹

Ihr besseres Wissen, der Widerstand der Tatsachen und eine gewisse Traurigkeit, die in Stunden wie diese alle Dinge annahmen – dies zusammen machte, daß die Stirn Inges sich verzog. Sie bekam einseitige Falten, und das blonde Haar wurde aussehen[d] wie eine darübergeklebte Perücke. Der Junge bemerkte etwas, sie setzte schnell ihren Hut auf. Übrigens kümmerte es ihn nicht, was ihr Gesicht machte. Alle seine Sorgen hatten ihn auf einmal wieder überfallen, sobald er auf den Füßen stand. Er glaubte plötzlich nicht mehr, daß Schattich außer seinem eigenen Konzern auch noch I. G. Chemikalien vertrat. Schattich hatte gelogen. Emanuel war auf einen plumpen Schwindel hereingefallen. Dies erregte ihn vor allem; das dringlichste schien ihm, daß er Schattich bei seinem Schwiegervater noch erwischte.

»Ich habe hier mit jemandem ein Wort zu reden. Hätte es schon vor zehn Minuten tun sollen«, warf er hin und war draußen. »Nachher hole ich dich ab«, sagte er noch hastig, den Kopf in der Tür.

Dann wartete Inge – zuerst eine halbe Stunde, aber das bemerkte sie nur zufällig. Sie hätte beliebig weiter gewartet, wäre es nur glaubhaft gewesen, daß er noch kam. Es war nicht mehr ganz glaubhaft. In Wirklichkeit hatte er, kaum aus der Tür, seinen Entschluß geändert. Er zog jetzt vor, den Präsidenten von I. G. Chemikalien aufzuklären sowohl über Ehmann wie über Schattich. Er lief, ohne noch an Inge zu denken, durch die Gänge und verließ das Krankenhaus. In sich fühlte er einen solchen Bewegungsantrieb, daß er nötigenfalls geflogen wäre, um den Präsidenten zu erreichen.

Inge richtete ihr Gesicht her, damit verstrich noch einige Zeit. Auf ihrer Armbanduhr las sie vier Uhr fünfundzwanzig, da fand sie es lange genug. Sie vergewisserte sich, daß niemand sie aus dem Zimmer kommen sah, und ging, die Füße vorn aufsetzend, auf ihren hohen Beinen lässig und leicht nach Nummer achtundsechzig. Sie klopfte, die Stimme ihres Vaters rief »herein«, da schluchzte Inge einmal auf. Sofort dachte sie an ihr frisch hergerichtetes Gesicht und beruhigte sich. Die von jeher und dauerhaft befreundete Stimme hatte sie unversehens bewegt.

Als ihr Vater sah, wer eintrat, richtete er sich auf. Sie erkannte aber nicht seine gewohnten Bewegungen. Ihr fiel ein, daß sein Zustand sich verändert haben sollte. »Sie werden schon sehen«, hatte die Wärterin gesagt. Daher rief sie mit der Heiterkeit, an die er bei ihr gewöhnt war: »Pappi, du bist der vielbeschäftigtste Mann im ganzen Haus. Seit Mittag habe ich nachgesucht, daß du mich vorläßt.«

Schon errötete sie – denn wenn er jetzt fragte, was sie inzwischen gemacht hatte? Von der ganzen langen Zeit erinnerte sie sich einzig jener acht Minuten. Er ließ sie indessen auf sein Bett zukommen und fragte nichts. Zuerst einmal lehnte Inge ihren Kopf an seine Wange, wie sie es seit ihrer Kindheit tat. Dies brachte auch den Vorteil, daß er ihr nicht gleich nahe ins Gesicht blicken konnte.

»Dir soll es heute nicht gut gehen?« fragte die Tochter ohne wahre Teilnahme, denn die brauchte sie selbst. »Pappi, was machst du für Geschichten!« wiederholte sie. Es war ein Satz von gestern, nur hatte er damals anders geklungen.

»Ich verstelle mich«, behauptete ihr Vater. »Endlich kann ich ungestört nachdenken.«

»Über mich?« fragte Inge.

Sie sagte es ohne Pause, als erste Regung. Auch den Kopf nahm sie unwillkürlich von seiner Wange fort, sie ließ sich ansehen. Ihr Vater wußte Bescheid, wenn ihm noch etwas zu erfahren übrigblieb. Ihr bürgerlicher Vater empfand sich selbst und seine Duldsamkeit als ungehörig, daher äußerte er mit Ironie: »Es wird wohl heute ein bewegtes Leben gewesen sein?«

Sie machte eine wegwerfende Bewegung, gleichzeitig verlor sie die Herrschaft über ihr Gesicht. Er tat, als bemerkte er nichts.

»Du willst mir doch viel berichten. Du und Margo, ihr habt euch sicher auseinandergesetzt.«

»Margo und ich? Ja, auch das. Aber es hat nichts daran geändert.«

»Es hat nichts verhindern können«, berichtigte er.

»Nein, gar nichts«, flüsterte sie. Ihre Lippen zitterten zu sehr, es ging nicht lauter.

»Und du bist jetzt sehr glücklich« – keine Ironie mehr. Er prüfte sie ernst. Sie erfaßte, daß dies sein ganzer Vorwurf war, das einzige, was er ihr übelnahm: sie war durch das Geschehene nicht glücklich geworden. Ihrer Schwester hatte sie Böses zugefügt, sie machte sich mitschuldig an der größten Verwirrung, vielleicht sogar am Zusammenbruch ihrer Verwandten. Alles fand ihr Vater noch begreiflich, noch gut – unter der Bedingung, daß sie glücklich war! … Sie hätte seine Liebe hingenommen wie geschuldet; aber er sah doch ihr Gesicht, das nicht mehr schön war. Warum verzieh er ihr dann?

Ihr Vater liebte sehr ihre Schönheit, Inge rechnete damit. Indessen wußte sie bisher nicht, was er sonst noch an ihr liebte. Jetzt sah er in ihrem Gesicht, das sie ihm unvorsichtig hinhielt, die Blässe und die verschobenen Züge. An seinem Zögern erkannte sie sogar, daß er sie nicht mehr schön fand. Inge hielt ihr augenblickliches Aussehen für unerlaubt – und nicht einmal mehr heiter und leicht zu sein, für eine verdächtige Ausnahme.

Ihr Vater äußerte etwas ganz Unerwartetes. »Ich will dir etwas erzählen, mein Kind«, sagte er – legte auch selbst ihren Kopf wieder an seine Wange; so war sie da und wurde doch nicht gesehen.

»Du hattest eine Tante: meine Schwester; sie war die einzige, die so schön wie du war.« Er sagte es in einem Ton, daß sie dabei die Augen schließen konnte. Es klang tröstlich, klang auch alt und belanglos, man konnte einen Augenblick hinhören. Wie aus dem Schlaf fragte Inge nach einer Sache, die man halbwegs schon kennt und nicht genau kennen muß.

»Und wie hat sie geendet?«

»Sie? Mit einer Katastrophe. Sie verließ uns in furchtbarer Verwirrung. Auch sie, mußt du wissen, hatte die Verwirrung selbst angerichtet. Ich war wochenlang krank von meinen eigenen Vorwürfen, denn ich hätte sie vielleicht abhalten können, zu sterben. Wer freiwillig stirbt, hat nur den Richtigen, der ihn hätte aufhalten können, nicht bei sich gehabt.«

»Und ich?« fragte Inge. Es drängte, auf das einzig Wesentliche zurückzukommen.

»Du? Das ist grade der Unterschied. Du wirst nie darum sterben, weil du etwas bereust. Du hast den Mut zu deinen Handlungen, selbst wenn nicht jeder sie billigen könnte, zum Beispiel dein Vater nicht. Der Mut ist euch seit den Tagen deiner Tante erst gekommen. Es sind aber noch keine zwanzig Jahre, daß sie Schluß machte«, setzte er für sich hinzu.

›Alt und belanglos‹, fühlte Inge. ›Stimmt auch nicht, daß ich auf alle Fälle Mut habe. Wer hat das. Die Alten glauben, was wir ihnen vorspielen. Oder spielen wir es eigentlich uns selbst vor?‹

»Ich habe aber Angst, Vater«, sagte sie und zeigte hierbei ihre weit offenen Augen. Sie waren sonst schmal und lang, das Oval des Gesichts lückenlos und die Haut der Blonden blaß getönt. Plötzlich diese eingesunkenen Wangen und grauen Schatten – Birk hielt keinen Augenblick länger an sich, er entschied:

»Du mußt mit dem Jungen fort.«

»Er denkt nicht daran. Er hat hier Sachen, die ihm wichtiger sind.«

»Die hat er von mir. Ich kann es ebensogut schieben, daß er fort muß.«

»Wie lange bleiben wir fort?«

»Solange du glücklich bist.«

»Ich bin nicht glücklich.«

»Dann, bis du weißt, ob du es wirst. Wenn nicht, kommt ein anderer.«

»Natürlich. Und der ist wieder so.«

»Auch du bist so. Bleibe nur, wie du bist!«

Hier erschrak die Tochter und kam zu sich. Die Gewagtheit des Gesprächs wurde ihr klar – und auch, warum ihr Vater sie wirklich liebte und vorzog. Weil sie das war, was er meinte und nicht aussprach. Margo an der Brücke hatte das Wort genannt … Auch für ihn mit war Inge erschrocken.

Er hätte der tapferen und reinen Margo beistehen sollen; er selbst wie sogar Inge fühlten es. Den Umständen mußte es überlassen bleiben, dachte Birk, sie mußten Margo ihr Recht verschaffen. Zuerst einmal bat Inge ihn um Hilfe, und es war ihr Blut, das bat. Er dachte: ›Sonderbar; ihr Blut ist doch meins. Ich war ein so ordentlicher Mann, wie vieles muß ich unterdrückt haben in meinem Lebensplan. Schon, daß es ein Plan war! Dies Kind hat keinen.‹ Hierbei öffnete sich sein ganzes Herz.

Das Herz des guten Arbeiters und uneigennützigen Denkers erschloß sich weit dem jungen Wesen, das nur an seinen Sinnen litt und nichts kannte als begehren, verlieren, umsonst begehren. Bei ihm erblickte sie die Züge einer so widerstandslosen Liebe, daß sie, die doch erfüllt genug von sich selbst war, ihn noch bemitleidete. Er tat ihr leid wegen seines Gefühles, weil er alt und ihr Vater war. Nachsichtig küßte Inge ihren Vater auf die Wange. Zwischen ihnen war damit das Gleichgewicht hergestellt, sie konnten weiterreden.

»Was hältst du von ihm?« fragte er.

»Von Em?«

Sie machte eine Bewegung – nichts weiter, als daß sie die auf dem Schenkel ruhende Hand umwendete, das Innere nach außen, dann wieder zurück. Im selben Augenblick machte er genau die gleiche Bewegung. Beide sahen es und lächelten – über ihre Verwandtschaft und auch ein wenig über den guten Em, von dem sie diese Meinung hegten.

Birk fand es nötig, sich zu berichtigen; er tat es mit Nachdruck.

»Ich bin fest überzeugt von dem Jungen, sonst ließe ich ihn nicht laufen.«

»Du läßt ihn laufen?«

»Wie einen Wagen – und eigentlich, als ob ich den ganzen Jungen erfunden hätte. Das verstehst du nicht.«

»Ich? Ich hab zu der Erfindung eine Stunde gebraucht. Nein, es sollen sogar nur zehn Minuten gewesen sein.« Sie sah weg, sie war zu weit gegangen.

»Nun gut. Er geht umher, wie dein Herz ihn will. Erfunden hast du ihn. Jetzt bleibt dir noch eins: rette ihn! Jawohl, rette ihn! Zehn Minuten Liebe sind noch kein Sieg«, sagte er rücksichtslos. »Paß auf ihn auf! Er wird lebensgefährliche Dummheiten machen. Sei bei ihm! Folg ihm!«

Sie mußte nach Luft ringen. Dann hatte sie den Ernst erfaßt und rief: »Ich sterbe mit ihm!«

»Davon war nicht die Rede«, sagte ihr Vater nüchtern; – Inge aber war erleichtert, sie hatte seit dem Ablauf jener wenigen Minuten ihren ersten glücklichen Atemzug getan, um auszurufen: »Ich sterbe mit ihm!« Sie war entschädigt dafür, daß sie damals nicht hatte rufen dürfen: Ewig!

»Ganz etwas anderes!« betonte ihr Vater. »Ihm werden Fallen gestellt werden – ja, richtige Fallen, wie einem Erben, den die Verbrecherbande verschwinden lassen will; du hast mal so was gelesen. Er tappt auch hinein, verlaß dich drauf!«

»Ist er denn dumm?«

»So wollen wir es nicht nennen. Ein Junge, den du liebst und in den ich selbst ganz vernarrt bin! Wir wollen sagen: stürmisch.«

»Ja, stürmisch.«

»Und darum etwas flüchtig. Wie lange dauern schon Stürme?«

Sie mißbilligte ihn, wie er deutlich erkannte. Daher wurde er besonders einfach und eindringlich.

»Wenn du nun siehst, mein liebes Kind, daß unser Junge sich in Gefahr begibt, dann rufe mich! Ich kann plötzlich dort sein.«

»Du liegst doch hier und denkst nach« – nicht ohne Geringschätzung hingeworfen.

Als Antwort verließ er das Bett mit einem einzigen Schwung, sie traute ihren Augen nicht. Über seinen Schlafanzug zog er den Schlafrock aus Kaschmir und bewegte sich einige Male durch das Zimmer. Sein Gang war verhältnismäßig schlank, seine Tochter gab es zu.

»Das kann angehn, Pappi. Den Bart weg, und du gehörst beinahe zu uns.«

»Ihm werden sogar die Haare früher ausgehen als mir«, behauptete Birk und strich sich eine Strähne vom Auge weg. »Aber um eine Geschichte von 1929/30 zu erleben, brauche ich nun einmal unseren Jungen. Verstehst du? Seine bisherigen Schritte sind mir durchweg klar. Ich kenne seine Feinde und die möglichen Zwischenfälle. Ich sitze in dem Rennwagen mit drin. Verstehst du das? Nein.«

»Es soll heißen, daß du allerdings plötzlich dort sein kannst, wo du gebraucht wirst«, sagte sie noch spöttisch, aber schon eingeschüchtert.

»In Gedanken«, berichtigte er. »Nur in Gedanken; aber das genügt auch.«

»Ich möchte bloß wissen, was es helfen soll, wenn einer ihn abschießt, daß du an uns denkst.«

»Du darfst nicht vergessen, daß der Geist anderswo weilen kann, wie man es nennt. Dann ist er offenbar in dem Augenblick nicht bei seinem Körper.«

»Pappi! Das soll man nicht tun.«

Jetzt hatte er sie ernstlich erschreckt. Er trug doch einen Schlafanzug, einen Rock aus Kaschmir, und auf einmal fing er an, wie ein Zauberer zu reden. Er mußte sie beruhigen.

»Man soll es nicht tun: das habe ich selbst schon gesagt. Übrigens kann ich es nicht. Du kennst mich doch, ein Ingenieur, selbst nur Maschine – im Privatleben auch noch Vater so sachlicher Kinder. Willst du mir sagen, wie ich dazu käme, ausgerechnet euch als Geist zu erscheinen?«

Sie wollte schon lachen. Unglücklicherweise setzte er hinzu: »Noch dazu, während unser guter Junge abgeschossen wird« – was sie wieder tiefernst stimmte.

»Abschießen«, murrte ihr Vater und bewegte sich behender umher. »Als ob grade dafür Aussicht bestände. So sind die andern nicht eingestellt. Er selbst vielmehr könnte – Du gibst zu, daß er stürmisch ist?«

»Ja.«

»Und flüchtig?«

»Ja, ja.«

»Wenn er grade an nichts Böses denkt, schießt er vielleicht jemand in den Arm. Ich sage ›Arm‹, weil ich deinen zufällig anfasse« – aber er hielt sie sogar sehr fest.

»Gib acht auf unseren Jungen!«

Er sagte dies mit einer Art Vertraulichkeit, die jeden anderen ausschloß aus dem Bündnis zwischen ihm und ihr – besonders den Jungen. Der lief dahin als der Rennwagen, die Steuerung aber war hier, der Sturz in den Abgrund nur von hier zu verhindern. In diesem Augenblick veränderte Inge ihre Stellung zu Emanuel, er wurde kleiner, aus dem Mittelpunkt all ihres Lebenswunsches wurde er ein Gegenstand der Fürsorge. Inge empfand Freude, sie begriff nicht, warum; und auch schon Abschiedsstimmung, aber das blieb noch unverständlicher.

Denn was sie einzig antrieb, war: ihn wiedersehen, auf der Stelle zu ihm! ›Im Geiste bei ihm weilen?‹ dachte sie voll Verachtung. Nein! Ihn einholen mit dem ganzen Körper! Ihn einholen – wiederhaben ihn, seinen Körper und jene zehn Minuten!

Inge entschwand – ihr Vater konnte sich nachher nicht darauf besinnen, wie.

Was Birk betraf – Er selbst sagte: »Was mich betrifft« – und legte sich wieder hin, merklich erschöpft. Gegenüber das Kruzifix, braunes Holz mit Silberbeschlägen, daran haftete sein Blick, zuerst noch leer. Allmählich vertiefte er sich, Birk wurde erfüllt und gekräftigt, nicht anders als seine Tochter Margo vor einigen Stunden in der Kirche Sankt Stefan. Seine Tochter Margo hatte von ihm soviel wie seine Tochter Inge.

Er dachte an alles, nur nicht an seinen Beruf und die Tatsachen seines täglichen Lebens. Das war gewesen; hier lag einer, der absah von seiner getanen Arbeit; von ihm war nur noch da, was übrigbleibt nach Abzug der gewöhnlichen Pflichten, Sorgen und Bedenken. Ja, er unternahm es, in jeder Hinsicht seinen Menschen freizulassen – in der Art Inges, in der Art Margos und sogar wie der junge Schnellfahrer. Alles aber vom Bett aus. Alles aber, als ob Oberingenieur Birk, was geschah, selbst dichtete.

Er hatte die junge Welt samt mehreren Alten in Bewegung gesetzt und jeden in seiner Richtung bestärkt, die seine Natur ihm ohnehin anwies. Die einzelnen aufzuhalten war ihm jetzt nicht mehr erlaubt. Er hatte auch keine Lust, sich selbst und den gegebenen Verlauf der von ihm erfundenen Handlung noch abzubremsen. Manches, was geschehen sollte, konnte er vorausberechnen, anderes noch nicht; aber nicht dies für sich allein machte ihm Kopfschmerzen und den Druck in der Magengegend. Er hatte die außerordentliche Verantwortung übernommen, hier und dort sein zu müssen, gleichzeitig im Bett und an den Schauplätzen der verschiedenen Abenteuer. Er war verantwortlich für die von ihm Losgelassenen, war verpflichtet, sie nötigenfalls vor sich selbst zu schützen, und konnte daher nicht genug auf sie aufpassen.

Das war sehr schwierig. Birk hielt das Kruzifix fest, weil nichts anderes mehr in Sicht blieb vor seiner merkwürdigen inneren Beschwingtheit. Er schien sich aus sich selbst zu entfernen, während er unverändert dalag; fühlte sich fliegen und an Zielen landen, wo er ganz klare Tatsachen erlebte zusammen mit seinen Personen. Sie sahen ihn nicht, dafür sah er sie; und bevor sie etwas ahnten, war er zurück in seinem Bett. Es war ein höchst gewagtes Spiel, aber doch ein Spiel, daher erregend und unterhaltend. Man konnte nicht traurig dabei werden, nur eine übertriebene Anstrengung kostete es allerdings. Birk schadete sich; andere, auch die Krankenschwester, hatten es ihm schon angesehen. Er selbst war in der Fahrt und dachte nicht daran, die Sache aufzugeben, sooft er schon gestöhnt hatte: »Man soll es nicht tun.«


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