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Neuntes Kapitel

Emanuel wollte den Präsidenten von I. G. Chemikalien aufklären über seinen ehrenwerten Kollegen Schattich. Er glaubte Schattich nicht mehr, daß jener gegen ihn die I. G. Chemikalien vertrat. Schattich hatte vielmehr gar nichts mit ihr zu tun, außer daß es zu seinen Pflichten gehörte, den anderen Konzern zu schädigen, wo er konnte. Die Interessen der beiden großen Konzerne gingen nie im Leben einig, soviel stand fest, und Schattich hatte einfach gelogen. Er hatte Emanuel mit Erfolg geblufft – wenn auch nur mit augenblicklichem Erfolg.

Sonst wäre einzig die Möglichkeit geblieben, daß Schattich seinen eigenen Konzern an I. G. Chemikalien verriet. Das sollte ihm dann allerdings teuer zu stehen kommen; – aber Emanuel traute dies einem so großen Herrn nicht gleich zu, sonst wäre er nicht zum Präsidenten von I. G. Chemikalien gegangen, lieber hätte er Schattich entlarvt, der es verdiente. Er hätte den unbekannten Weg gesucht nach den höchsten, unsichtbaren Gipfeln des eigenen Konzerns. Er hätte sich durchgekämpft bis zu Karl dem Großen … Aber derartiges träumte man natürlich nur.

Er ging nach Hause, er wußte selbst nicht, warum, anstatt zum Präsidenten. Margo war im Begriff, die Wohnung zu verlassen. Wohin? Schattich ließ sie nochmals zu sich kommen.

»Etwas oft!« bemerkte der junge Gatte scharf. »Was denkt er sich! Und das in seiner geschäftlichen Stellung mir gegenüber! Er soll –«

Noch während er so streng seine Rechte wahrte, fiel ihm ein, woher er selbst kam und wie er jetzt vor Margo dastand. Daher brach er ab.

Margo sagte ruhig und mit großen sanften Augen: »Nimm mir doch meinen Schattich nicht! Du ahnst nicht, was ich mit dem Jungen noch drehe.«

»Du redest, als gingest du eventuell bis zu Karl dem Großen.«

»Wenn er uns helfen kann«, sagte Margo ruhig.

»Wenn er überhaupt existiert«, berichtigte er.

Sie blieb dabei: »Ich mache ihn ausfindig. Schattich hat dich natürlich hereingelegt?« fragte sie freundlich. »Ich glaube übrigens, daß er seinen eigenen Konzern hereinlegen würde, soviel Interesse hat er für die Sache.«

»Das hast du dir auch gedacht?« Er war überrascht, setzte aber hinzu: »Da sieht man die weibliche Phantasie. Ich lehne es ab, diesem Verdacht nachzugehen. Die Schattichs schrecken vor nichts zurück – außer, wo es klar ist, daß sie reinfallen würden.«

»Du sollst recht haben«, sagte Margo. »Bis ich herausbringe, mit wem er sich einläßt; deshalb gehe ich zu ihm. Mit dem Präsidenten von I. G. Chemikalien hat er noch nicht sprechen können, denn der ist verreist. Darum hat er mich auch ruhig den Brief an den Präsidenten abschicken lassen.«

»Solch ein Halunke! Ich wollte gerade zu dem Präsidenten fahren.«

»Man muß immer anrufen, bevor man hingeht. Allerdings hattest du mit dem Privatsekretär des Präsidenten am Telefon gesprochen, und denke dir, der ist auch mit verreist.«

»Mit wem habe ich dann gesprochen?« fragte er herausfordernd. Im selben Augenblick aber wußte er es wieder. Er warf Margo nur vor, daß sie zu scharfsichtig gewesen war hinsichtlich Ehmanns.

»Ehmann ist mein Freund, du sollst mich nicht immer gegen ihn aufhetzen!« forderte er wie ein Kind, er stampfte sogar. Sie sah, daß ein Wutausbruch drohte, nur, weil er nahe dem Weinen war. Daher reichte sie ihm die Hand. Hierbei erinnerte er sich wieder seiner Taten im Krankenhaus – betäubte seine Bewegung mit lautem Widerspruch und lief fort.

Margo dachte: ›Jetzt läuft er und boxt Ehmann nieder. Nachher ist wieder alles in Butter. So geht es nicht vorwärts.‹ Hierauf begab sie sich hinunter – aber noch nicht zu Schattich, zuerst zu seiner Frau Nora.

Emanuel suchte stürmisch die Central-Bar auf. Der kurze Weg dorthin genügte ihm, damit er seinen Freund Ehmann von Kopf bis Fuß anders sehen lernte. Ehmann wurde hier für Emanuel zu einem Mitglied der Kontrollabteilung. »Was verkauft er eigentlich?« hatte sein eigener Schwiegervater Bausch gefragt. Freunde und Kameraden verkaufte Ehmann!

Mit ihm und keinem anderen hatte Emanuel am Telefon gesprochen statt mit dem Privatsekretär des Präsidenten, »und das Ergebnis war, daß Schattich mit bluffen konnte«. Was Ehmann herausbekam, erfuhr alsbald Schattich! Nur die unbezähmbare Gier des Generaldirektors nach der Bombe hatte bewirkt, daß auch der Spion mit herausquellenden Augen hinter ihr her war. Denn Emanuel sah im Geiste auf diesem Wege nach der Central-Bar alles, wogegen er sich vorher verschlossen hatte: die hervorquellenden Augen Ehmanns, sein spitzes, ruheloses Gesicht, den schwach behaarten Kopf und sogar die Krawatte, die zu grell leuchtete. Nur eine solche Gestalt kam auch in Frage als Verfolger. Ehmann ganz allein konnte ihm nachgespürt haben im Gedränge, heute mittag, als er selbst nach Inge suchte. Es war überwältigend klar – auch ohne Beweis.

Beweis war, daß wer – wer telefoniert hatte anstatt des Privatsekretärs? Derselbe, der des einen fähig war, beging auch das andere. Ehmann als Verräter und Verfolger stand während dieser Minuten für Emanuel so fest, als ob er ihn nie anders gekannt hätte. Er wußte es besser und im Grunde auch länger als Margo, davon war er überzeugt. Außerdem lief Margo nicht in die Central-Bar, um mit Ehmann Schluß zu machen.

Die geschärften Sinne Emanuels benachrichtigten ihn, daß auch jetzt jemand ihm nachstellte. Nur das Gedränge vor jenem Kino gewährte dem Verfolger rechtzeitig Deckung, sonst hätte Emanuel ihn gefaßt. Emanuel versuchte es wieder mit dem Umweg durch die Seitengassen, aber gerade diesmal wollte Ehmann nicht, kein unsichtbarer Schritt umschlich den Horchenden. Emanuel begriff auch bald, warum. Der Verfolger war ihm voran in die Bar getreten. Ein Spion, der alles wußte! Emanuel beeilte sich.

In der Central-Bar herrschte noch immer Mulle – man wollte sogar feststellen, grade als Emanuel eintrat, ob Mulle den ganzen Tag das Lokal nicht verlassen hatte.

»Was ich gemacht habe, wie ich fort war, brauchst du Wanze nicht zu wissen!« rief er einem sonst Gleichgesinnten zu.

»Du hast woanders gesoffen.«

»Ich war in einem erstklassigen Haus, ein Generaldirektor, ich sage nicht, welcher, Schattich heißt er. Übrigens was mich der Dreckfresser angeht! Ich hatte schnell mal bei einer Dame zu tun, der Mann war gerade eingeschlafen.«

»Mulle!« Emanuel rüttelte ihn am Arm. »Da stimmt was nicht, Schattich hat heute bestimmt nicht geschlafen. Ich muß es wissen.«

Emanuel war nicht damit einverstanden, daß Mulle sich laut vor seinesgleichen seiner Erfolge rühmte bei einer Dame, mit der Emanuel selbst nicht ohne Enttäuschungen gefrühstückt hatte.

»Wer redet von Schattich?« entgegnete Mulle, ohne sich unnötig zu steigern. »Lehr mich Schattich kennen! Ein Schieber, der mich um all mein Geld gebracht hat – um mein Erbe!« Dies war das Wort, bei dem Mulle hochging. »Verführte meine Mutter und ließ sie verschwinden, so was wird heute Reichskanzler. Ich mache ihn kalt«, schloß er, selbst wieder ganz kühl bei der Sache.

Emanuel dachte, daß es schon nicht mehr darauf ankäme, was Mulle redete.

»Deswegen darfst du noch nicht von der Dame so etwas sagen«, belehrte er ihn nur. Der Ton paßte Mulle nicht.

»Ach! Wer wohl gleich Nutte sagen wird zu einer Dame. Ich hab einen Kiek.«

Mulle wurde durchaus widerwärtig für seinen Freund Emanuel; dieser schmutzige Hohn – wirklicher Schmutz, der herabrann mit dem Fett über das Mullesche Gesicht. Denn so war dieses Gesicht nachgrade zugerichtet von dem hier verbrachten Sonntag, nicht mehr nur flach war es anzusehen wie ein Deckel, es troff auch, wie der Deckel im fetten Spülwasser.

Emanuel blickte fort von Mulle, dabei stieß er auf eine der entfernteren Logen und auf ein Profil … Doch. Es war ungewohnt rosig beleuchtet, aber es gehörte Inge. Auch ohne den Streifen Wange hätte er diese Schultern erkannt. Das Gegenüber, zu dem sie sprach, blieb verdeckt, aber natürlich war es Ehmann. Als er Emanuel draußen verfolgte, hatte er feststellen gewollt, daß Emanuel nicht in die Bar ging, so war es doch. Ehmann hatte sich hier mit Inge getroffen. Verblüfft spähte Emanuel ringsum durch den Zigarettenrauch.

Im Zigarettenrauch lagen noch alle hier üblichen Erscheinungen, Melitta, der Mixer und die Stoffpuppen für die Damen, samt Mulle und seinesgleichen. Nicht einmal Fräulein Sonnenschein fehlte. Hatte sie denn Ehmann an Inge abgetreten? Wer war hier verrückt geworden? Inge, die noch vor einer Stunde –!

Der Junge betrat verzweifelt, mit Kälte im Magen, den Gang, der zu der Loge führte – kam aber schwer vorwärts, denn an ihn hängte sich Mulle.

»Das ist meine Sache«, verlangte Mulle. »Wer hier 'n Knochenbruch wünscht, kommt zu mir. Daß du bloß nicht Nutte sagst zu dem Mädchen, sonst schlag ich dich selbst knockout.« Beschwerlich waren sie angelangt.

Erstaunlich, nicht Ehmann – ein fremder, kleiner Mann mit breiten Schultern saß bei Inge. Sie erblickte Emanuel und verstummte, wie er. Auch der Fremde wartete ab; er sollte nicht lange warten.

»Wanze!« rief Mulle ohne Übergang, er hatte damit die besten Erfahrungen gemacht. Hier verlief es anders. Niemand dachte an etwas Böses, und schon bedeckte Mulle den Boden, seine Augen waren geschlossen. Eine angemessene Pause – dann erhob Inge sich zugleich mit dem Fremden; denn dieser hatte, nach Beförderung Mulles auf den Fußboden, ruhig wieder Platz genommen.

»Dies ist Mister Williams«, erklärte sie ihrem Freund. »Er ist Trainer bei Brüstung. Heute konnte er gar nicht abkommen – nur, weil es mit uns so dringlich war – wegen unserer Reise.«

»Wegen unserer Reise«, wiederholte Emanuel, ohne zu verstehen.

Übrigens erregte der hingestreckte Mulle Aufsehen, die Unterhaltung wurde erschwert durch Herandrängende. Die drei jungen Leute verständigten sich mit Blicken darüber, daß man besser draußen weiterspreche. Auch gelang es ihnen, hinauszukommen dank der furchterregenden Haltung des Engländers, der dafür das richtige Gesicht hatte. An innerer Entschlossenheit blieb Emanuel bestimmt nicht hinter ihm zurück. Auf der Straße sagte Inge dem Jungen ins Ohr: »Du bist dir doch darüber klar, daß wir fortmüssen. Ich kann nicht länger mit Margo zusammen wohnen.«

»Das mag sein«, sagte er.

Er meinte: was ihn das anginge; ob er seine Geschäfte verlieren sollte wegen ihrer Gefühle – und so weiter. Sie verstand jedes Wort, das er dachte. So weit kannte sie ihn und die anderen. Ohne deswegen lange zu trauern, kam sie auf Dinge, die ihn angingen.

»Hier machst du nie das Geschäft, ist dir das klar? Wir müssen fort. Du kannst in Gefahren kommen, ist dir das klar?« wiederholte sie; denn ihr selbst war nichts von allem klar, außer daß sie fortwollte.

»Nun habe ich an Brüstung gedacht. Er ist der Stärkste, den wir kennen, er kann dich beschützen. Oder du und er, ihr paßt auf mich auf«, verbesserte sie schnell, mußte aber bemerken, daß ihm dies ebensowenig recht war. Er fand ihren Vorschlag kränkend. Entweder man wies Brüstung ab, dann aber nicht nur als Liebhaber, auch geschäftlich! Nein, eine Frau dachte anders; sie versuchte beide, den Bevorzugten und den anderen, nutzbar zu machen und zusammenzubringen.

»Du hast zu viele Feinde«, sagte sie im Ton der Verzweiflung und mit Tränen in den Augen. Sofort begriff er den weiblichen Gedankengang; denn sie weinte. Er wandte sich an den Engländer.

»Wohin fahren Sie eigentlich, Williams?«

Die Antwort kam von Inge auf englisch.

»Wenn Brüstung heute abend Sieger wird, fahren sie morgen nach Berlin, dort soll er kämpfen. Williams wird schon machen, daß es gut geht.«

Soviel für den Engländer; dann wiederholte sie es ähnlich auf deutsch. Der Mann, den sie liebte, konnte weder englisch noch boxen, in diesem Augenblick setzte es ihn immerhin herab. Inge sagte, um sich und ihn darüber zu trösten: »Ich will mich nur schon umziehen. Es ist sieben Uhr.«

»Ich nehme Plätze, es wird voll werden.«

»Nimm keine! Ich hab schon welche«, verkündete sie laut, wie etwas ganz Gleichgültiges, und betrat schnell das Haus. Die Plätze waren natürlich von Brüstung; und auch das Kleid: – Inge verschwand im Aufzug, da fiel es dem Jungen ein, daß sie auch das Kleid von Brüstung anhaben werde … Jetzt gedachte er jener acht Minuten im Krankenhaus, wie an die gute Zeit. Er erkannte, daß er sie im Drang seiner Geschäfte unterschätzt hatte. Williams verabschiedete sich von ihm.

Leute drängten noch immer reichlich vorbei, der bestürzte Emanuel vor seiner Haustür wurde angestoßen. Als ihm jemand sogar auf die Schulter schlug, fuhr er herum. Es war Mulle am Arm Ehmanns.

»Was ist ihm eigentlich passiert?« fragte Ehmann.

»Du siehst doch, daß er blaß ist«, sagte Emanuel.

»Das sowieso. Aber in der Central-Bar muß ihm außerdem etwas passiert sein. Ich werde der Sache nachgehn«, verhieß Ehmann in seiner besonderen Art, die Güte mit Drohung vereinte. Sie berührte Emanuel jetzt wenig. Er stand ganz unter dem Eindruck, daß er Ehmann im falschen Verdacht gehabt hatte. Ehmann war nicht der Mann gewesen, der in der Loge neben Inge saß. Er hatte überhaupt die Bar nicht betreten, vor den Ereignissen nicht und sichtlich auch nicht nachher. Daher, so schloß Emanuel kühn, war es ebensowenig Ehmann, der ihn selbst auf der Straße verfolgt hatte – weder diesmal noch auf jenem früheren Gange.

Emanuel sah sich verblüfft, beschämt – aber vor allem erbittert durch Margo. Die Beschuldigungen seines Freundes kamen alle von Margo; nur unter ihrem Einfluß hatte Emanuel auch glauben können, daß Ehmann am Telefon den Privatsekretär des Präsidenten ersetzte. Ehmann als Verräter, als Mittelsmann zwischen Schattich und I. G. Chemikalien; Ehmann, Mitglied einer Kontrollabteilung, die niemand gesehen hatte: Erfindungen Margos, lauter Kinophantasien einer eifersüchtigen Frau. Wie weit eine Frau gehen konnte in der Hemmungslosigkeit! Margo hatte sich stark gemacht, heranzukommen an die sagenhafte höchste Person, die Karl der Große hieß. Emanuel beschloß ein für alle Male festzubleiben und die Anständigkeit seines Freundes Ehmann nie wieder in Zweifel zu ziehen. Er drückte ihm die Hand, und der Freund drückte zurück, er hatte verstanden.

Endlich mußten sie dennoch bemerken, daß es Mulle übel war. Damit sie kein öffentliches Schauspiel gaben, beförderten sie ihn ins Haus. Sie hatten das Glück, daß ihnen sofort eine hilfreiche Person entgegenkam, die Portiersfrau. Sie strebte aus ihrer Wohnung die hölzernen Stufen empor, ihre Kleidung saß prall, und die Spuren einer bewegten Vergangenheit wichen auch ihrem jetzigen Gemütszustande nicht; aber sie empfing Mulle wie eine erschrockene Mutter. Gemeinsam mit seinen Begleitern trug sie ihn hinunter; sie hatte nur die eine Bitte, man möchte Landsegen nicht wecken.

Ihr Mann schlief in der Kammer hinter der Küche, wohin alle mit Mulle gelangt waren; sie sahen den Bauch des Schneiders im Hemd aus Wolle auf- und niederwogen.

»So 'n Mann pennt immer«, sagte die Frau und schloß die Tür.

»Ich nicht«, prahlte Mulle, er versuchte, alle abzuschütteln und allein dazustehen. Es mißlang ihm, aber er fragte noch: »Melanie, hab ich bei dir schon mal gepennt – oder was hab ich gemacht bei dir, Melanie?«

Die Frau verdrehte die Augen, es deutete an, Mulle sei nicht ernst zu nehmen. Ehmann wurde aufmerksam, und auch Emanuel wunderte sich immerhin über die plötzlich entschleierten Teile des Mulleschen Daseins. Indessen kam es bei dem in Frage Stehenden zur Krise, Frau Landsegen hielt ihm den Kopf, während er sich erleichterte. Dann wurde er hingelegt, erhielt auch ein Tuch auf die Stirn und über die Augen.

»Nun liegen sie glücklich beide«, stellte Melanie fest. »Dieser ist 'n armer guter Junge, bißchen doof, aber sonst ganz ordentlich. Gott, man vertritt ja gerne Mutterstelle an so 'n Kind.«

»War er heute schon mal bei Ihnen?« fragte Emanuel, »und schlief Ihr Mann damals vielleicht auch?«

»Der pennt meistens«, erklärte sie unverbindlich. »Oder er denkt sich was aus – Ihnen wird er nicht sagen, was.« Emanuel berichtigte trotzdem seine Auffassung der Angaben, die Mulle vorhin in der Bar zum besten gegeben hatte. Nora Schattich war es nicht, die Mulle kannte. Wie sollte er jemals zu Nora kommen! Blieb nur die Frage, inwiefern Schattich selbst hineinspielte.

»Was hat er mit Schattich vor?« fragte Emanuel die mütterliche Freundin des armen Jungen.

»Den will er umbringen«, äußerte sie ohne Bedenken. »Ich sag ihm immer, er soll wenigstens warten, bis er weiß, wo Schattich seine Mutter gelassen hat. Wenn der sie überhaupt hat verschwinden lassen, wie Erich meint. Gott, was ist im Kriege alles verschwunden! Mir selbst ist jemand verschwunden«, sagte sie – wie etwas ganz Belangloses. »Was kann nun Erich Mulle von seiner Mutter wissen, hat sie nie gesehn. Und was Schattich ist, soll sie verführt haben? So sieht er aus. Schattich und verführen, das hab ich noch nicht erlebt«, äußerte sie und sah sich abgefeimt sowohl Ehmann als seinen Freund an. Sie schien sich einen auszusuchen, was beide veranlaßte, eine Drehung zu machen. Mulle schnarchte, wie nebenan Schneider Landsegen. Sie verließen die enttäuschte Melanie. »Noch eins«, sagte Ehmann, halb draußen. »Wen vermissen Sie aus Ihrer werten Familie?«

Die Frau gab Auskunft. »Meine Schwester. Sie war Klassefrau am Kurfürstendamm, und nun ist sie weg.«

Droben sagte Ehmann gedämpft: »Was wir gehört haben, ist natürlich vertraulich zu behandeln.«

»Warum?« warf Emanuel hin. »Ich kann von Schattich auch das glauben«; – worauf er von Ehmann einen sonderbaren Streifblick bekam. Er hatte das Gefühl, abgeschätzt zu werden und als werde in dieser Minute über ihn entschieden. Aber das kam bei Ehmann öfter vor. Übrigens lieferte sein Begleiter sofort die Erklärung.

»Ich denke natürlich gar nicht an das alberne Märchen von der verschwundenen Mutter unseres Freundes Mulle. Mag er sie selbst suchen. Sie und ihr Geld, das Geld ihres Verführers, sind sein Wunschtraum. Ein Vater wie Schattich, zu schön, um wahr zu sein«, sagte Ehmann gewählt. »Nein, ich denke an deine Erfindung, die doch eine greifbare Tatsache ist.« Dies eindringlich.

»Allerdings«, bestätigte Emanuel. »Und ich überlege fortgesetzt, aber immer deutlicher sehe ich, daß wir hier zu keinem Abschluß kommen.«

»Hier?«

»Ich meine: in Deutschland.«

»Aber das andere wäre Landesverrat – sagt wenigstens Margo.«

Ehmann zeigte sich verwundert.

»Ja, Margo sagt es.«

»Und ich würde dasselbe sagen, wenn es nicht um dich und deine ganze Zukunft ginge!«

Da sah Emanuel ein, was er allzugern zugab: Ehmann war hinsichtlich des Landesverrats nur schwer mit seinem Gewissen fertig geworden. Die Freundschaft hatte sich als stärker erwiesen! Sie mußten dies nicht aussprechen, aber sie gingen einige Schritte nebeneinander in großer Sympathie.

Der Freund suchte und fand schrittweise.

»Es wird sich kaum vermeiden lassen, daß wir unseren Aktionsradius ausdehnen«, sagte er sichtlich im Stil des Strategen. »Richtig, wir nehmen Berlin mit hinein. Meine dortigen Beziehungen –«, Pause nach dem Wort, »können ergiebig gemacht werden. Sie weisen übrigens von selbst in die gewünschte Richtung.«

»In die Richtung des Landesverrats?« fragte Emanuel arglos, nur der Deutlichkeit halber. Ehmann überhörte es zunächst.

»Mein Lieber, es klappt. Wir fahren zusammen nach Berlin. Ich werde dich dort mit einem fremden Agenten zusammenbringen. Ich bin näher bekannt mit gewissen exterritorialen Persönlichkeiten.«

Das waren viel zu große Worte, sie schüchterten den Hörer ein und verleideten ihm von selbst jede Frage – nicht gerechnet die überlegene Geläufigkeit, mit der sie dem anderen aus dem Munde gingen.

»Die Sache ist eine der schwierigsten, die ich zu bearbeiten gehabt habe – oh, nicht hinsichtlich des Geschäfts selbst. Meine Verhandlungstechnik ist erprobt. Aber ich werde dich die ganze Zeit scharf im Auge behalten müssen.«

»Mich?«

Ehmann prüfte ihn schnell von der Seite, ob der Junge wirklich so harmlos war. Dann kam er erst einmal auf den Abschnitt Landesverrat zurück. Ehmann bewegte sich während dieses Gesprächs im Zickzack – geistig und daher auch auf dem Bürgersteig.

»Ich äußerte schon meine Meinung dahingehend, daß unsere Treue gegen unser Land nicht darin sich zeigt, daß wir arme Teufel bleiben. Damit ist dem Lande nicht gedient. Es macht uns zur Pflicht, reich zu werden – auf jede irgend vertretbare Art, und welche wäre nicht zu vertreten. Allerdings auch auf unsere eigene Rechnung und Gefahr.«

»Daher!« rief Emanuel, froh, den Faden wiederzufinden. »Du willst mich im Auge behalten. Du glaubst, ich habe Verfolger und Feinde.«

»Glaubst du es etwa nicht?«

»Was denn! Ich hatte sogar ganz bestimmte Vermutungen – die sich zwar als falsch erwiesen. Das kann mich aber nicht hindern, ich habe schon Vorkehrungen getroffen für die Berliner Reise. Meine Feinde sollen mal rankommen. Sie finden erstens mich und zweitens noch ein paar anerkannte Fäuste.«

»Du hast gewußt, daß du nach Berlin fährst? Du hast dich mit jemand verabredet?«

Aus Überraschung hatte Ehmann aufgehört, sich zu beobachten, daher in seinem Ton dies wütende Mißtrauen. Es kam völlig unvorbereitet, Emanuel wurde gewarnt, aber zu spät. Er fand sich schon in den Händen Ehmanns, konnte nicht mehr los und zog es daher vor, sich restlos anzuvertrauen. Er würde auch den Namen Brüstungs genannt haben, hätte Ehmann im geringsten danach gefragt. Ehmann unterließ es; er durfte beim jetzigen Stande der Dinge keinen Widerstand mehr hervorrufen. Wozu auch, er hatte Zeit. Ohne Übergang verabschiedete er sich; damit gab er dem Jungen Gelegenheit zu überlegen, wie weit seinesgleichen kam, wenn sein Freund Ehmann ihn jemals aufgab.

Tatsächlich wandte Emanuel sich höchst gedankenvoll dem Hause wieder zu. Er ging sogar daran vorüber. Endlich angelangt, wartete er noch einige Zeit auf den Aufzug, der, ohne herunterzugelangen, zwischen den Stockwerken hin- und herglitt.

Dies kam von den Vorgängen, die inzwischen Margo mit ansehen mußte.

Margo begab sich nicht sogleich eine Treppe hoch, wohin Schattich sie bestellt hatte; sie suchte drei Treppen hoch die Dame des Hauses in ihren Räumen. Statt der Zofe Marietta öffnete ihr ein anderes Mädchen, das war schon ungewohnt, und auch das Gesicht dieses Mädchens ließ auf außerordentliche Ereignisse schließen. Indes Margo nach der Dame fragte, hörte sie diese laut nach Marietta rufen. Es läutete heftig, eine Tür wurde zugeworfen, das Ganze vollzog sich in der Gegend des Schlafzimmers.

»Meckern Sie solange mit ihr«, verlangte das Mädchen, das der Besucherin geöffnet hatte. »Dann krieg ich Zeit, Marietta zu warnen, daß sie türmen soll.«

Margo sah keinen Grund, nicht zu tun, was man ihr sagte. Sie fand aber das Schlafzimmer verlassen. Das Boudoir betrat sie erst nach mehrmaligem Anklopfen. Als es gleichfalls ohne Bewohnerin dämmerte, ging sie zwar schneller bis ins Frühstückszimmer vor, jetzt war es dennoch zu spät. Nora Schattich war dagewesen, sie entschwand aber schon im ferneren Durchblick, jenseits des Musikzimmers, der beiden Salons und eines von Margo vermuteten großen Speisesaals.

Dieser lag nicht mehr in derselben Front. Nora Schattich verlor sich um die Ecke. Bis Margo eintraf, war sie endgültig unsichtbar geworden. Eine Tür hatte immerhin auch hier geklappt. Margo bediente sich des Ausgangs nach der Diele und stieß wieder auf das Mädchen.

»Ist sie schon runtergeschwebt?« fragte das Mädchen.

»Wieso hinunter?«

»Zwei Treppen tiefer ist der große Saal, wer da 'n Ding dreht, das merkt kein Aas, außer die Alte ist eifersüchtig. Jetzt wird Mieze gefaßt«, raunte das Mädchen, teils erfreut, teils verzweifelt.

»Marietta? Was hat sie denn viel gemacht?«

»Ach so.« Die Person betrachtete Margo nachdenklich. »Das wird immer schöner. Sehn Sie man selbst nach!«

Sie öffnete im Speisezimmer eine der Wandtafeln, Stufen erschienen.

»Die Alte hätte ruhig Zeit gehabt, wieder abzuschließen. Vorne kommt Mieze doch nicht raus. Na, nu verpfeift sie mich natürlich, daß ich es auch schon gemacht habe. Lieber pack ich gleich meine Backbirnen.«

Damit ging sie. Margo sagte, solange die andere es hören konnte: »Dann komm ich später noch mal«; aber sie sagte es nur, um ihr Dableiben zu bemänteln. Sie war entschlossen, hier im Hause nichts zu versäumen.

Die verborgene innere Treppe war mit einem weichen Läufer belegt, und von oben bekam sie Licht genug. Auch den Saal drunten deckte, wie sich bald herausstellt, viel Schatten; die Fenster waren verhängt. Hohe Fenster, eine Pracht, wie in Schlössern, die zu besichtigen man große Filzschuhe überziehen muß. Drei Kronleuchter, nicht gerechnet die Beleuchtungskörper an den Wänden, wo immer ein riesenhaftes Sofa an das andere grenzte. Der Konferenztisch, der kein Ende nahm, hatte über sich, zwei Stockwerke hoch, den reich vergoldeten Plafond, sonst bis in die dünneren Luftschichten hinauf nichts. Man merkte deutlich: hier saß eine große Macht. Der Konzern formte an dieser Stelle einen seiner Knoten, und ihn beherrschte ein Generaldirektor. Demgemäß hing hinter dem Sessel des Vorsitzenden das Bildnis des Sonnenkönigs, Ludwigs des Vierzehnten.

Der Raum war für seine Maße menschlich nur schwach belebt; drei Personen standen und bewegten sich vor einem der entferntesten Sofas. Zwei hielten scheinbar zusammen, die dritte war gegen sie. Ihr hoher Wuchs kennzeichnete Nora Schattich. Für Margo, die ihre Treppe nicht zu verlassen wagte, benahm sie sich wie der Darsteller eines entrüsteten Feldherrn auf einer Bühne, von der man zu weit weg sitzt. Das lenkte von den beiden andern ab; diese hatten übrigens keinerlei Interesse, sich hervorzutun. Nora Schattich schrie, und alles hallte zurück, der schwache und verworrene Widerhall von Wänden, die etwas anderes gewohnt waren. »In diesem Saal!« schrie sie oft. »Ausgerechnet hier!«

Sie verhieß, daß sie Marietta verhaften lassen werde, erstens wegen Mißbrauchs des Konferenzsaales, zweitens wegen Mißbrauchs eines Minderjährigen. »Doppelter Mißbrauch!« rechnete sie ihr vor.

Darauf versuchte Margo, den erwähnten Minderjährigen zu erkennen, Marietta schützte ihn aber, trat vor ihn und schwur, daß nichts geschehen sei. Der junge Mensch sei einfach neugierig gewesen, den Saal zu sehen.

»Wie seid ihr hereingekommen?« forschte der entrüstete Feldherr. »Ich glaube dir kein Wort, du bist fristlos entlassen. Erst aber will ich wissen, wie ihr es gemacht habt.«

»Ich hab es ihm gezeigt«, sagte Marietta frech.

»Was hat sie dir gezeigt?«

Von dem zu vermutenden Jungen bekam die Dame keine Antwort. Die Zofe erklärte:

»Daß er vom vierten Stock auf unsere Terrasse hinunterklettern soll, da mach ich ihm die Tür zur Treppe auf.«

»Und wenn ihr fertig seid? Das Herumklettern über mir muß ich doch mal merken.«

»Dann laß ich ihn unten raus. Das ist Ihnen entgangen, gnädige Frau, daß unsere innere Treppe nicht nur bis zum Arbeitszimmer des Herrn geht. Wie gnädige Frau im Sommer verreist waren, hat er sie bis hinunter zur Haustür führen lassen.«

»Ihre Angaben werden geprüft werden. Suchen Sie Ihr Zimmer auf!« befahl der Feldherr kalt.

»Sehen Sie, so kann der Herr bei sich rein- und rauslassen, wen er will«, fuhr die Zofe unbeirrt fort. »Keine Flurtüren, kein Lift, nicht einmal die Portiersleute müssen sehen, wenn Schattich heimlich ausrückt, und die verbrennen sich sowieso nicht den Mund.«

Die Dame beherrschte sich, aber sie setzte sich.

»Ich übergebe Sie den Behörden«, verhieß sie mit nicht mehr sicherer Stimme. Mieze oder Marietta wählte denn auch einen eher mitleidigen Ton.

»Das können Sie halten, wie Sie wollen, gnädige Frau. Dann wäre ich eben genötigt auszupacken. Dem Herrn habe ich ja versprechen müssen, daß Sie nichts erfahren. Wie konnte ich auch reden; mich wollte er doch mithaben bei seinen nächtlichen Orchideen hier im Konferenzsaal – in allen Ehren natürlich. Ich habe nur bedient.«

Alles hörte Margo, vorgeneigt von ihrer untersten Treppenstufe. Sie unterschied die tückische Frechheit der einen von der herrischen Verzweiflung der anderen und erfaßte auch mit ihrem kaum noch überraschten Blick die ganze Innenarchitektur des Schattichschen Hauses, wie sie vor ihr aufgeschlossen wurde. Seit aber Nora Schattich auf dem Sofa sitzen mußte, gab Mieze-Marietta die Aussicht auf ihren jungen Mitschuldigen frei, und Margo hatte sich überzeugt, daß es ihr eigener kleiner Bruder Ernst war.

Dieser Umstand übersetzte alle ihre Eindrücke ins Phantastische. Sie glaubte nicht etwa zu träumen, nur bekamen Personen und Dinge hier mehr freie Laune, als ihnen für täglich zustand. Ihr Bruder Ernst, der Mechaniker, die Zuverlässigkeit selbst, war in eine Lage geraten – für wen paßte sie? Margo suchte in ihrer Erinnerung und fand nur die Gesichter junger Leute, die sie auf der Leinwand erblickt hatte. Nora Schattich kam nochmals auf die Minderjährigkeit des Verführten zurück sowie auf das, was sie seine Unschuld nannte. Dies fand Margo vollends unwahrscheinlich.

»Warst du noch unschuldig?« fragte die Dame den Jungen, den sie duzte.

Seine Antwort war nicht zu hören. Margo hoffte, daß er eine so dumme Frage unbeachtet ließ. Sachlichkeit und die früh erworbene Kenntnis des wirklichen Lebens lagen wahrhaftig auf einem anderen Feld als die überalterten Begriffe dieser Dame. ›So 'n gesunder Junge!‹ dachte Margo und wandte sich einfach ab, um den Schauplatz zu verlassen. Sie hatte übersehen, daß Marietta sich heranschlich. Plötzlich standen beide voreinander.

»Was glauben Sie, was die Alte jetzt angibt?« fragte das Mädchen. »Das kann schauderhaft werden, sie ist scharf auf seine Unschuld.«

Tatsächlich sahen sie Nora Schattich sich lockend hinbreiten und den Jungen trotz Sträuben nicht loslassen. Sie warteten nicht ab, ob sein Widerstand aufhörte, achteten auch nicht mehr auf die lehrhaften, obwohl erregten Worte der Dame; schon liefen sie die Treppe hinauf. Marietta verschwand; sie sagte noch: »Lieber geh ich zu einer Schauspielerin in Stellung nach Berlin. Schattich weiß schon, wo.«

Margo setzte sich entschlossen hin, um auf die Dame zu warten. Sie erschien, wie vorausgesehen, allein. Den Jungen hatte sie zurückklettern lassen, woher er gekommen war. Sie atmete erregt, aber beim Anblick Margos verging ihr sofort die Luft. Sie machte halt; Margo stand auf. Ihre Gedanken lauteten etwas anders, als die arme Nora annahm. Margo dachte noch mehr an ihren Emanuel als an den kleinen Ernst.

Bei der Haltung Noras, diesem schlechten Gewissen, obwohl sie wahrscheinlich im letzten Augenblick die fleischliche Tat noch vermieden hatte – war es der klugen Margo auf einmal klargeworden, Emanuel werde niemals so vor ihr stehen; aber er sei dennoch eben heute mit Inge zum Schluß gekommen. Sie entnahm es nachträglich seinem Wesen, das freier geworden war nach der Gereiztheit der letzten Zeit. Er sah in Margo wohl noch seine Gegnerin, soweit es Inge betraf; im übrigen ließ er mit sich reden, ließ sich sogar helfen. Margo lächelte. Sie verzog das Gesicht zum Lächeln, damit sie leichter beschließen konnte: ›Meinetwegen. Mag er.‹ Denn das blieb schwer.

Nora Schattich indessen sah in diesem Lächeln die Gelegenheit, sich zu rechtfertigen.

»Wo waren Sie vorhin?« fragte sie.

»Unten«, sagte Margo ruhig und neigte den Kopf in Richtung der Treppe.

»Ich hasse jemand« – Nora ging unvermittelt los, sie schlug sich die Brust. »Sie haben nicht zu lächeln. Ich kann furchtbar sein. Man wird es sehen, wenn ich mich räche.«

»Aber mit einem kleinen Jungen? Ist das eine Rache? Herr Schattich wird es vielleicht nicht glauben wollen. Eine Frau wie Sie!« sagte Margo einschmeichelnd, denn sie mußte diese Verbündete haben.

»Eine Frau wie ich!« wiederholte Nora und fuhr fort, sich die Brust zu schlagen, um zu zeigen, daß sie fest war.

Margo begann: »Gnädige Frau, ich bin eine Angestellte Ihres Gatten, aber sobald ich will, kann ich mehr sein. Ich spreche offen, damit Sie sehen, auf wessen Seite ich stehe. Ich begreife, daß Sie ihn hassen und sich rächen wollen.«

»Nicht Ihretwegen!« Nora rief es strafend und gehoben.

»Ich weiß, gnädige Frau. Ich wäre ein zu kleiner Anlaß. Sie sind eine bedeutende Frau, und was ist Herr Schattich?« Sie sah, wie das saß. »Er verdankt Ihnen seine Karriere, aber er lohnt es Ihnen mit schwarzem Undank. Er geht damit um, Sie zu verraten. In seinen Jahren denkt er noch an Veränderungen.«

Nora trank jedes Wort, Margo schien ihr wahrzusagen, solch einen richtigen Geruch hatte sie gehabt für den Zustand der Frau. Sie entschloß sich, in aller Form wahrzusagen.

»Es liegt Geld im Haus«, sagte sie in ihrer Rolle als Kartenschlägerin.

»Noch mehr Geld?« rief die Gequälte. »Soll er immer nur verdienen? Wann platzt er endlich an dem Geld?«

»Das, was er jetzt haben will, nimmt er meinem Mann weg. Uns nimmt er es weg«, wiederholte Margo erbittert.

»Ach so.«

Die reiche Frau hatte sich besonnen, sie entfernte sich ein Stück. Das waren arme Leute; es schien natürlich und entsprach den guten Sitten, wenn Schattich das Geld für jene Erfindung bekam und nicht die Geldlosen.

»Ich weiß von der Sache«, erklärte sie kühl. »Ihr Mann hat sie mir erzählt. Übrigens, im Vertrauen: auch Sie können sich auf Ihren Mann nicht fest verlassen.«

»Ich weiß«, sagte Margo unerschütterlich. »Aber es handelt sich um das Geschäft. Sehen Sie, wir müssen es machen; Sie dagegen wünschen, daß Ihr Gatte einen Stoß bekommt. Denken Sie nicht an das Geld! Nur, daß er einen Stoß bekommt. Er wird kleiner werden, seine Ihnen so unerträgliche Überlegenheit wird erschüttert. Er ist furchtbar hinter unserer Erfindung her, wie notwendig muß er es haben! Ich weiß zufällig von großen Kosten, die seine Berliner Reisen ihm machen. Ich könnte den Namen einer Schauspielerin anführen …«

Leider hatte Marietta keinen Namen genannt. Glücklicherweise brauchte Nora keinen mehr. Das bloße Wort Schauspielerin besorgte aus unbekannten Gründen die noch übrige Auslösung, und plötzlich war Nora Schattich zu allem bereit und entschlossen.

»Setzen Sie sich«, entschied sie. Jetzt kam die Beratung zwischen Verbündeten.

»Ein Mann in seinen Jahren – sagten Sie ganz richtig. Sie sind ein kluges Kind; ich will es wagen und von meiner Zurückhaltung einiges aufgeben. Hoffentlich werde ich niemals Grund haben, es zu bereuen.«

»Niemals.«

»Er ist im gefährlichen Alter des Mannes. Diesmal bringt er sich selbst zu Fall, ich habe das deutliche Vorgefühl.«

»Ich auch«, sagte Margo. Sie war von ganzem Herzen dabei, sich mit der alten Frau zu verschwören zum Untergang des alten Mannes.

»Sie müssen zupacken, gnädige Frau. Er will nach Berlin fahren.«

»Er fährt immer nach Berlin. Diesmal ist es nur die Frage, ob er wiederkommt. Sie begleiten ihn, mein Kind.«

»Nur auf Ihren ausdrücklichen Wunsch.«

Margo errötete nicht, daher hielt Nora es für nötig, alles auszusprechen.

»Sie können so weit gehen, wie Sie meinen, gehen zu müssen.«

»Danke. Aber es wäre noch besser, wenn ich wüßte, was er eigentlich vorhat.«

»Das sollen Sie eben herausbringen. Mir sagt er nichts.«

Die arme Dame saß hilflos da.

»Aber eine Frau von Ihrer Energie!« sagte Margo ermutigend. »Haben Sie denn keine Mittel gegen ihn? Können Sie ihm keine Komödie vorspielen?«

»Alle unsere Beziehungen sind schon zu lange eingeschlafen«, gestand die arme Dame. »Aber ich werde stark sein, ich verspreche es Ihnen.«

Sie erhob sich und wuchs zu ihrer ganzen Größe, die beträchtlich war. Margo musterte von unten die knochige Gestalt, die Porzellanfarben der Haut, das helle Gesicht ohne viel Nase. Das alles wäre schön gewesen, es war nur dennoch verfehlt. Es hätte auch stark gewirkt, aber grade Margo kannte jetzt schon zu viel von der Schwäche dieses Lebens.

»Ich kann furchtbar werden!« beteuerte die große Frau wieder. »Wissen Sie jemand, der ihn tödlich – ich sage tödlich haßt? Ich gehe jeden Vertrag ein, wenn er geheim bleibt. Ich zahle, was verlangt wird, aber niemand darf es wissen.«

»Auch der Mörder selbst nicht?« fragte Margo gradeheraus. Dies genügte, Nora klappte schon wieder hart auf ihren Sitz nieder.

»Was reden Sie?« murmelte Nora.

Margo erklärte unbefangen: »Ich kenne solche.«

»Sie kennen jemand, der für Geld einen Menschen umbringen würde?«

»Erledigen. Ja. Dem Betreffenden käme es weniger auf die Bezahlung als auf den Rekord an. Er äußerte kürzlich im Gespräch: ›Wenn ich die beiden erledigte, wäre ich der jüngste Doppelmörder.‹«

»Welche beiden? Mich auch?«

»Nicht doch, gnädige Frau. Er heißt Mulle und ist in der Bar des Central-Hotels jederzeit erreichbar. Ich kann ihn leicht herbringen; aber werden Sie es wollen?«

Nora Schattich fürchtete die Verachtung der Jüngeren, wenn sie nein sagte. Außerdem fühlte sie zum erstenmal seit ihrer wirtschaftlichen und persönlichen Niederlage wieder die Macht in ihrer Hand. Schattich war ihr ausgeliefert auf Gnade und Ungnade. In diesem Augenblick kannte sie keine Gnade, und der befriedigte Haß erzeugte in ihrem großen Körper eine ungeahnte Wollust. Je weniger sicher sie der Dauer ihres Entschlusses war, um so heftiger rief sie: »Ich will Mulle sehen!«


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