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Epilog.

Auf Munkeboda, das jetzt verfallen und von andern Herrenhöfen in den Schatten gestellt ist, auch nicht mehr so einsam liegt, seit das Land geteilt und verkauft wurde, saß noch vor wenigen Jahren der alte Joachim Skytte in seinem zerschlissenen Lehnstuhl an demselben Fenster des Gartensaals, wo seine Schwiegermutter an jenem Frühlingstag gesessen hatte, als er im Jahre 1830 in den Göinger Bezirk kam, um sein Leben lang dort zu bleiben.

Da, saß er, das »Aftonblad« vor sich ausgebreitet und einige seiner alten Bücher aus der Jugendzeit neben sich: Es waren die »rotesten« und »himmelblausten« Dichter jenes Zeitalters der Romantik: eine Gedichtsammlung von Viktor Hugo und ein Teil der Weltgeschichte von Geijer, jene Bücher, die ihn sein ganzes Leben lang begleitet und ihn zu dem Manne gemacht hatten, der er geworden war. Er las mit großer Aufmerksamkeit; nur ab und zu beugte er sich vor, und seine Augen – jetzt so ruhig unter den dichten Brauen – blickten hinaus über das Land, das er geerbt und so lange bearbeitet und von den Steinen befreit hatte, bis die Felder um sein Haus herum eben geworden waren und reiche Frucht trugen – für andre. Denn Munkeboda, das die Kriege und Feindseligkeiten des siebzehnten Jahrhunderts durchgemacht und die Bedrängnisse und Einquartierungen dieser Zeit ertragen hatte, dieses Munkeboda, das nach dem Stenbockschen Feldzug keinen Silberbecher und keinen ledigen Thaler mehr besessen hatte, und doch unter dem »Haubenregiment« wieder feste Mauern im Hause und Vieh und Korn in die Scheunen, ja, auch wieder Silber auf den Tisch bekommen hatte – dieses Munkeboda konnte die romantische Begeisterung Joachim Skyttes für die »Freiheit« und die Ausführung seiner kühnen, ihm angeborenen und nach und nach festgewachsenen demokratischen Theorieen nicht aushalten. Früher hatte es Zeiten, gegeben, wo die Felder jahrelang brach dalagen und die Wälder schonungslos ausgehauen wurden, aber die Eichen und Tannen wuchsen aufs neue, die Felder trugen wieder Roggen und Hafer und das Gut wurde niemals verkleinert. Der letzte Besitzer von Munkeboda hatte jedoch seine Felder von den tausendjährigen Steinblöcken befreit, sein »gebundenes« Land zerteilt und den Bauern und Häuslern zu billigem Preis in kleinen Stücken verkauft.

Er hatte sie, ohne sie zu strafen – denn »ein Skytte kümmerte sich nie um Kleinigkeiten« – sein Rotwild wegschießen und ganze Wagenladungen Brennholz aus seinen Wäldern heimführen lassen, ja, er hatte es ruhig lächelnd mit angesehen, wie ihr Vieh an den Rüben seiner eigenen Felder schmarotzte. Auch hatte er Schulen für seine Leute gebaut und sich in den neuen Leihkassen, die er selbst einrichten half, für die Beträge der Bauern mit seinem Namen verbürgt. Allein und auf eigene Kosten hatte er das Land entwässert und die Moore trocken gelegt, um den gemeinsamen Feind zu bekämpfen: den Abendnebel und die Nachtfröste. Und in all diesen Jahren hatte er natürlich, da dieses nun einmal mit seinem Begriff von schwedischer Gastfreundschaft zusammenhing, für alle, die ihn besuchten, offenes Haus gehalten.

Das malzreiche Bier gärte unaufhörlich in dem Brauhaus, und Branntwein, Kaffee und Punsch wurde jedem geboten, der etwas auf dem Hofe zu thun hatte. Aber die Philister sammelten sich im Hause Simsons, und mit Hilfe der ewig jungen Delila – der verführerischen, vielversprechenden Göttin in der roten phrygischen Mütze, die die heiße Liebe seiner Jugend gewesen war, der zu dienen er zu seinem Lebenszweck und zu dem Ziel seines Ehrgeizes gemacht hatte – schnitten sie ihm seine schönen Locken ab und banden an Händen und Füßen den kecken, vertrauensvollen Schwärmer.

So kam es, daß das Geschlecht der Skytte Munkeboda verlor, und daß der alte Joachim, der ein ganzes Menschenalter lang seinen feurigen Stolz, seine ganze Kraft – und wohl auch seine Eitelkeit – darein gesetzt hatte, da oben in dem mageren Waldrevier von West-Göinge ein Pionier der Freiheit und der Bildung zu sein, jetzt in seinen alten Tagen die leeren Hände gedankenvoll über Viktor Hugos Gedichte und Hiertas »Aftonblad« zusammenlegte und, das weiße Haupt an die Scheiben gelehnt, mit seinen ruhigen, blauen Augen in die Landschaft hinausblickte, diese Landschaft, die nicht mehr sein Eigentum war und die jetzt auch von der Eisenbahn durchschnitten wurde. Vieles zog da durch seine Seele, ja, sein ganzes Leben zog an ihm vorüber. Er dachte an seine erste Kindheit, über die der Kanonendonner der Schlachten des großen, siegreichen Kaisers hingerollt war, bis er im Alter von zehn Jahren, nach der Schlacht bei Waterloo, weinend verstehen lernte, daß von jetzt an ein einfacher Soldat weder Feldmarschall noch König zu werden hoffen durfte. Er dachte an seine Jugendzeit, die harten Kadettenjahre, die kurze fröhliche Offizierszeit mit Spiel und Trinkgelagen und Liebesabenteuern. Und dann, mit fünfundzwanzig Jahren, kam er wieder auf das alte Stammgut der Familie; es folgte seine Liebe zu Agnete, mit der auch die Liebe zur Heimat, zum Erbguts zu seinem und ihrem Volk erwachte, diesem hitzigen, trotzigen, zähen Grenzvolk, mit dem er sich immer aufs engste verbunden fühlte. Aber dann bekam die von den Vätern ererbte schwärmerische Freiheitsliebe immer mehr die Oberhand über die doch nur oberflächliche Militärdisziplin und verband sich mit dem ebenfalls ererbten Lehnsherrnstolz, bis sie endlich in einer hellen Lohe emporflammte, die stark und hell genug war, um sein ganzes ferneres Leben zu erleuchten. Das war besonders in jenen schönen Sommertagen des Jahres 1830 der Fall, in denen die ganze Jugend Europas selbstbewußt und siegestrunken in Hellen Jubel über die Revolution in Paris ausbrach.

An all das dachte Joachim Skytte, während er im Lehnstuhl saß, alt und vergessen im Dorfe, der »alte, verrückte Joachim Skytte« genannt, der Wälder gepflanzt, Moore ausgetrocknet, Steine ausgebrochen und Heidehügel ausgerodet hatte, bis er zuletzt nichts mehr sein Eigen nannte, als die verfallenen Mauern des Hofes und den Stuhl, auf dem er saß, während andre die Frucht seiner Felder einheimsten, andre die Angelegenheiten des West-Göinger Bezirks in der Volksvertretung behandelten, dem Lande Gesetze gaben und die Befehle des Königs ausführten. An dies letzte dachte er aber nur selten, denn er war der Welt gegenüber teilnahmlos und gleichgültig geworden, nur an Agnetes Tod und an die Abwesenheit der Kinder dachte er sehr oft.

Einst hatte er gedacht, das Leben gleiche einem hohen Berg, dessen Gipfel unter Anstrengungen zu ersteigen sei, und er hatte sich vorgenommen, ihn auch wirklich zu erreichen, ja, er wollte das Leben leben, so wie es die Größten und Stärksten gelebt hatten. Während vieler Jahre seines Lebens war er beständig höher und höher gekommen – so erschien es ihm wenigstens – und oft hatte er sich schon zu dem letzten entscheidenden Schritt vorbereitet, um den letzten großen Sieg zu gewinnen und den Gipfel zu erreichen.

Aber eines Tages mußte er einsehen, daß der hohe Berg, der, erstiegen werden sollte, sich zerkrümelt hatte und zu vielen kleinen Maulwurfshügeln zusammengeschrumpft war, daß das große Leben, das seit seiner Kindheit wie das von der Morgensonne beleuchtete gelobte Land als Ziel vor ihm gelegen hatte, mit all seinen hochfliegenden Plänen, Vorsätzen und Hoffnungen nur aus einer Reihe von einzelnen Tagen, einem heute, morgen, übermorgen bestand, die man einzeln überwinden mußte. Das war ihm klar geworden, plötzlich und auf einmal, vor zehn Jahren, als er seine Agnete verlor. Damals war der Schmerz in sein Leben eingedrungen, und die Sorge hatte sich in seiner Wohnung niedergelassen. Er hatte sie geliebt, und er hatte, solange sie lebte, treulich seinen Schwur gehalten: er hatte »es verstanden, glücklich zu sein«. Und sie hatte auch ihr Versprechen gehalten. Sie hatten einander geliebt in Einigkeit und Uneinigkeit, in Glück und Unglück, in guten und in bösen Tagen; sie hatten froh und frei auf dem Boden gelebt, der seit Jahrhunderten ihre Väter ernährt hatte, in dem Haus, in dessen Mauern sie beide geboren waren. Als die Kinder kamen, hatten sie treulich Sorge und Glück Hoffnungen und Enttäuschungen, Freuden und Schmerzen miteinander geteilt. Denn auch Schmerzen hatte es in ihrem Leben gegeben, aber nie wirklichen Kummer; die Trugbilder waren zerronnen, aber nicht die eine große Hoffnung, auf der jedes Leben ruht. Die Zeiten waren oft recht hart gewesen, zum Beispiel unter der Not der fünfziger Jahre, aber immer hatten sie gefühlt, daß sie die Lasten nicht allein zu tragen hatten, und daß sie trotz allem in dem warmen Sonnenschein einer wahren, innigen Liebe atmeten.

Dann starb Agnete, und er blieb allein zurück. Die Jahre vergingen, und der heftigste Schmerz milderte sich, aber die Lebenshoffnung war doch gebrochen; seinem Dasein fehlte der Mittelpunkt, jener Hintergrund von Interesse und Erwartung, von der beständigen Sorgfalt für das andre, der Zukunftspläne und Zukunftssorgen, die notwendig sind, um auf dieser Erde Glück und Befriedigung zu finden. Die Kinder waren nun auch erwachsen und allmählich immer weiter von dem Vater weggekommen. Sie zogen sich in sich selbst zurück, lebten eigenen Plänen und eigenen Träumen; der Vater war eine Nebenperson für sie geworden. Das war natürlich, Joachim verstand es jetzt so gut, jetzt, da er alt war und nicht mehr an die Zukunft und seine eigene Kraft glauben konnte; es wurde ihnen schwer, ihm zu vergeben, daß er auf eigenmächtige und unkluge, wenn auch uneigennützige Weise ihr eigenes Erbe, das Vermögen des Geschlechts, vergeudet hatte. Sie warfen es ihm nicht vor, aber es entging ihm nicht, was sie dachten. Sie gehörten einer andern, kühler denkenden Zeit an, und die Ideale seiner Zeit waren für sie nur leere Träume – die Kugel war rückwärts gerollt.

Einmal war sein Interesse für die Tagesereignisse und Zeitfragen gleichsam noch einmal aufgewacht. Das war in den ersten Septembertagen 1870, als das zweite französische Kaiserreich gefallen und die Republik in Paris ausgerufen worden war. An jenem Tag – Skytte war allein wie immer – kam seine Schwägerin Karin Maria, die alte Freifrau Stjerne von Marieholm, nach Munkeboda herüber, und sie hatte das Telegramm vom vierten September bei sich. Sie fuhr in ihrem altmodischen Einspänner allein über den Hügel, denn wenn sie auch volle vierundsechzig Jahre alt war, konnte sie doch noch immer die Zügel kräftig führen.

Joachim Skytte erhob sich von seinem Platz am Fenster und beschattete die Augen mit der Hand; die Septembersonne schien so hell, und es war jetzt so selten, daß jemand nach Munkeboda gefahren kam. Dann nahm er seinen Stock, setzte die Mütze auf und stand, sich verneigend, oben an der Hausthür, als der Knecht der Freifrau aus dem Wagen half.

Sie gingen in den Saal, und die Haushälterin trug mit höflichem Knixen den Kaffee auf. Die alte Silberkanne wurde aus dem Eckschrank genommen – das weiße Tischtuch, das Jungfer Brita auf dem Klapptisch vor dem Sofa ausbreitete, leuchtete hell in der glänzenden Septembersonne. Karin Maria folgte allen ihren Bewegungen mit scharfen Augen.

Sie sprachen von der Wärme und von dem Herbst und wie gut man den Hafer auf Marieholm unter Dach gebracht habe, gerade noch vor dem großen Gewitter, dann von den Gichtschmerzen der Freifrau, und dann fragte sie, ob Joachim kürzlich Nachricht von Karl Niklas und von seiner Tochter Agnete bekommen habe. Und endlich sagte dann Karin Maria, ganz ruhig und nur wie beiläufig, indem sie das Telegramm aus der Tasche zog: »Denk' dir, mein Sohn Olof hat mir von Rouen telegraphiert, da drunten sei jetzt die Republik erklärt.«

Der alte Skytte saß ganz still da, und die Flasche, die er in der Hand hielt, um daraus in seinen Kaffee Rum zuzugießen, stellte er ungeöffnet wieder hin.

»Die Republik,« sagte er endlich langsam, und seine Stimme klang klarer als sonst, als er dieses Wort wiederholte, von dem er einst so viel geträumt und geredet hatte, »die Republik …?«

»Ja,« sagte Karin Maria. »Die Leute werden ja niemals klüger.« Und einen Augenblick nachher fügte sie hinzu: »Erinnerst du dich noch an jenen Tag vor vierzig Jahren?«

Ob er sich daran erinnerte! Er erinnerte sich an alles: den alten Niklas Skytte, der niemals seine Jugendbegeisterung für die große Revolution und das große Kaiserreich ganz überwunden hatte und unter den beobachtenden Augen Tante Charlottens immer wehmütig und ungläubig dreinschaute; dann die kluge Tante Charlotte selbst, die trotz all ihrer Klugheit es im tiefsten Innern doch mit denen hielt, die sich aufzulehnen wagten. Und Karin Maria, jung und begeistert, aber doch zugleich vernünftig, und Beate, die über den »kleinen Herzog von Bordeaux« und den »armen, alten König« weinte, … und endlich an sich selbst, Joachim Skytte, drin in der Lindenlaube, den Arm um Agnete gelegt, jubelnd und strahlend, als ob er den großen Sieg des Lebens gewonnen hätte, was er ja eigentlich auch hatte, indem er Agnete gewann; – den jungen Skytte von damals …

Und plötzlich fühlte er, daß er eigentlich sein ganzes Leben lang derselbe »junge Skytte« geblieben war, sich selbst und seiner Jugend getreu. Er fühlte, daß er, obgleich jetzt einsam, arm und ergraut, von den, meisten als ein geschlagener Mann angesehen, sich doch seines Werkes und seines Lebens nicht zu schämen brauchte; nicht einmal, wenn er sich jenen Tag ins Gedächtnis zurückrief, an dem er mit so großem Vertrauen in die Zukunft und auf das Glück Agnetes Versprechen entgegengenommen und seinen ersten großen Lebensplan entworfen hatte.

Er erhob sich, und die Schwägerin wunderte sich darüber, wie wenig die vielen schweren Jahre ihn zu beugen vermocht hatten. Er blickte sie an, und einen Augenblick kam Glanz und Leben in seine sonst so müden Augen; die Hand auf der Tischplatte zitterte.

»Karin Maria,« sagte er und blickte sie unverwandt über den Tisch hinüber an. Sie hatte sich auch halb erschreckt erhoben. »Karin Maria, wenn du … wenn du …« mit den Jahren wurde es ihm schwer, sich auszudrücken, »wenn du mir das sagst, dann merke ich, daß ich – noch immer glaube.«

Karin Maria blickte ihn bewegt an; da war das alte, wohlbekannte Zimmer, dessen Möbel jetzt zerschlissen, von den Motten zerfressen und wurmstichig waren; da war die Aussicht durchs Fenster auf die naheliegenden, nun Fremden gehörigen Felder … Aber auf dem Tisch stand noch immer die alte Kanne aus seinem, getriebenem Silber, mit dem Brustbild Karls XII. auf dem Deckel; und sie war noch blank und glänzend. Karin Marias Augen hefteten sich auf die Kanne, ihre Gedanken waren so unzusammenhängend, so sonderbar: es war, als ob neue Gedanken, und alte Erinnerungen von jedem Gegenstand in dem Zimmer auf sie eindrängen, zuletzt sah sie nur noch den großen, glänzenden Deckel, in dem die klare Herbstsonne sich spiegelte. Und es ging ihr ein Wort durch den Sinn, etwa so lautend: »Wenn man nur seinen Schild rein erhält, dann …«

Sie sagte nichts, sie war so eigentümlich bewegt und verwirrt. Aber über den Tisch hinüber ergriff sie des Schwagers Hand, und indem ihre Blicke, mit einem Ausdruck wie vor vierzig Jahren, den seinen begegneten, sagte sie leise: »Ja, lieber Joachim, damals …«

Ende.

 


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