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Siebzehntes Kapitel.

Am Abend vor dem feierlichen Susannatag kam Agnete, vom Vater selbst abgeholt und von Onkel Fagerhjelm und Fräulein Susen begleitet, nach Hause. Durch einen Brief von Joachim und von Mama und schließlich durch Papa selbst, hatte sie die unerwartete Verlobung Karin Marias erfahren; und am Abend nach ihrer Heimkehr teilte ihr Beate bei der ersten Gelegenheit alle Einzelheiten mit, soweit sie sich, mit Beihilfe ihrer Phantasie, deren erinnerte.

Agnete war so sehr lange von Hause weg gewesen, und es umgab sie zuerst ein solch großstädtischer Nimbus, daß sie den ersten Abend beinahe ebenso höflich behandelt wurde wie Susen. Papa behauptete, sie sei noch gewachsen, und Mama erklärte auf den ersten Blick, sie sei voller geworden und auch breiter über der Brust. Ihre Kleider hatten einen modernen Schnitt, ihre Haartracht war zierlicher, ihr ganzes Wesen hatte an Gewandtheit und Sicherheit gewonnen. Als sie am Abend – sie war erst um acht Uhr in Munkeboda angekommen – im Hausflur den braunen Kamelotmantel ablegte und dann in ihrem hellen, geblümten Kattunkleid ins Wohnzimmer trat, zwar etwas bleich von der Reise, aber die großen braunen Augen voll strahlenden Glanzes von der Freude über die Heimkehr, da erschien sie allen in der milden Sommerabendbeleuchtung schöner und feiner als je. Joachim wenigstens kam es so vor, als er mit gebührender Artigkeit ihre Hand an seine Lippen führte; eine wärmere Begrüßung hätte ihm die Tante unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht erlaubt. Agnete errötete ein wenig und senkte die Augen; als sie sie dann wieder erhob und seinem warmen und entzückten Blick begegnete, zog ein feines etwas schalkhaftes Lächeln über ihre Lippen, ein Lächeln, das den jungen Skytte ganz verwirrt vor Glück und heiter und froh wie sie selbst machte. Denn erst jetzt erkannte er in dem feinen Fräulein genau seine süße, leidenschaftliche und eigensinnige Cousine Agnete wieder, die wohl eine artige Komödie spielen konnte, es aber mit der Komödie und der Artigkeit nicht so schrecklich ernst nahm.

Er fand indes an diesem Abend gar keine Gelegenheit, allein mit ihr zu sprechen. Erstens nahm ihn die unermüdliche Susen mit liebenswürdiger Koketterie ausschließlich in Anspruch, und zweitens wußten beide, daß Mama, obgleich sie dort drüben saß und aufmerksam den Erzählungen des Kriegsrats lauschte, sie doch scharf beobachtete. Joachim aber war zu glücklich und machte sich gar kein Gewissen daraus, Susen so »schamlos« den Hof zu machen, daß Beate ganz empört war. Nach dem Abendbrot aber, das sich sehr lange hinauszog, ging man beinahe augenblicklich zur Ruhe, denn die Reisenden sollten nach der langen Fahrt ausruhen, und außerdem wußte man, wie anstrengend der morgige Tag sein werde.

Aus Höflichkeit schlief Karin Maria bei Susen im Fremdenzimmer. Auf diese Weise bekam Beate noch am selben Abend Gelegenheit, Agnete in alle Einzelheiten einzuweihen.

Mama begleitete die Mädchen selbst auf ihr Zimmer, um nachzusehen, ob Agnetes Bett in Ordnung sei, und um ihr zugleich zu zeigen, wo sie ihre frischgeplättete Wäsche in der Kommode hingelegt habe. Sie blieb viel länger oben, als sie im Sinn gehabt hatte, ja bis ihre Töchter schon im Bett lagen; und als sie sich endlich zum Gehen anschickte, drehte sie sich an der Thüre noch einmal um, kam zurück, nahm Agnetes Köpfchen zwischen ihre beiden Hände und küßte sie mit weit mehr Wärme, als sie sonst ihren Kindern gegenüber zu zeigen für passend hielt, auf beide Wangen.

»Schlafe gut!« sagte sie nur, räusperte sich ein wenig und verließ mit festen Schritten das Zimmer.

Aber Agnete und Beate richteten sich sofort wieder auf, und den Ellbogen auf das Kissen gestützt und den Kopf in der Hand, flüsterten sie noch lange, lange miteinander, bis, ja bis die Hähne anfingen zu krähen, und der neue Augusttag schwach im Osten graute.

Die Töchter des Hauses erhoben sich früh am nächsten Morgen; der Frühstückstisch sollte im Garten gedeckt und Mamas Stuhl reich mit Blumen geschmückt werden. Leise schlichen sie in ihren leichten Kreuzbandschuhen ohne Absätze die Treppe hinunter und machten Bengta schnell verstummen, als diese beim Kehren gedankenlos ein Lied vor sich hin sang.

Da standen auch schon Mamsell Fiken, die auf sie wartete, und Vetter Joachim mit einem großen Messer in der Hand, bereit, Birken- und Tannenzweige zu holen.

»Willst du nicht mit mir gehen, Agnete?« fragte er unschuldig und so laut, daß das Zimmermädchen und alle es hören konnten.

Agnete antwortete nicht gleich. Sie betrachtete den hellen, ein wenig nebligen, noch sonnenlosen Sommerhimmel, der einen heißen Tag versprach, und setzte langsam ihren großen Hut mit den Blumen auf.

»Geh nur, Agnete,« sagte Karin Maria wohlwollend. »Du kannst vielleicht Vetter Joachim die Zweige tragen helfen.« Und dann fügte sie gleichgültig, wie ganz beiläufig hinzu: »Mama fragt vorerst nicht nach dir, du weißt, sie bleibt an ihrem Geburtstag immer länger liegen …«

Agnete bekam einen Korb an den Arm, den aber Joachim durchaus tragen wollte. Mamsell Fiken rief jedoch erschreckt, aber mit einem wohlgemeinten Scherz, der Herr Lieutenant dürfe doch keinen Korb bekommen, worüber sie alle herzlich lachten. Darauf spazierten Joachim und Agnete, die vollständig überflüssigerweise ihr kurzes Kattunkleid mit beiden Händen zierlich aufhob, durch den Hof in den Garten – und von der Staffel aus folgten ihnen drei wohlwollende, aber etwas bekümmerte Augenpaare.

»Nun muß Mama doch nachgeben!« rief plötzlich Beate.

»Ja …« antwortete Karin Maria etwas unsicher, »aber dann müssen sie immer noch die königliche Erlaubnis bekommen.«

Mamsell Fiken erzählte nun zum Trost von einem Vetter und einer Base ihrer Verwandtschaft, die auch unter Karl XIII. »zum König gegangen seien«, und »als ob sie zum Tanze gingen«, so glatt sei es verlaufen.

Karin Maria blieb, die Augen mit der Hand überschattend, auf der Treppe stehen und blickte der Schwester nach, bis sie mit Joachim hinter den Birken auf dem Weg nach dem Bache verschwunden war.

Um neun Uhr stand das Frühstück in der Laube auf dem Tisch, nicht in der kleinen mit der Aeolsharfe, die Karin Maria nun mehr als je pflegte, sondern in der großen Laube, in der Nähe der Küche, die so bequem zum Aufträgen lag. Mama war wie immer am Susannatag sehr gnädig und schon in vollem Staat, mit einer funkelnagelneuen Haube aus feinstem rosenfarbigem Tüll auf dem Köpf, die Agnete in Kristianstad besorgt hatte. Karin Maria hatte einen Glockenzug aus Perlen gestickt, der sehr bewundert wurde, und Beate hatte einen Kaffeeteppich mit einer Blumenguirlande gewoben, der nach stiller Uebereinkunft als »Ueberraschung« betrachtet wurde, obgleich Mama selbst bei den schwierigen Stellen mitgeholfen hatte. Agnete endlich hatte eine Morgenjacke aus Battist genäht, die feierlich als »ganz wundervoll« erklärt wurde. Als die jüngste Tochter errötend dieses Meisterstück überreichte – es war dasselbe, an dem sie damals genäht hatte, als Tante Netten im Garten des Kriegsrats »Mathilde« vorlas –, betrachtete die gnädige Frau Majorin sie noch einmal mit heimlichem Stolz: sie sah wirklich wie eine Hofdame aus, in dem hellen geblümten Kattunkleid und das Amethystband à la Sévigné auf der Stirn. Und nun denken zu müssen …! Hier unterdrückte die steife Majorin einen Seufzer, und ihr Blick glitt unwillkürlich über Joachims leeren Platz – sie war froh darüber, daß dieser jetzt nicht da war und über sie triumphieren konnte. Dann seufzte sie noch einmal, diesmal lauter, beinahe berechnend. Sie hatte ja in ihrem Herzen schon lange nachgegeben; seit jenem Tag, da Karin Maria alles umgedreht und sich so unerwartet mit Stjerne verlobt hatte, sah sie wohl ein, es nütze nun nichts mehr, sich noch länger gegen die Heirat zu sträuben. Sie fühlte wohl, Joachim, der jetzt schon in vielem Herr auf Munkeboda war, würde auch in dieser Sache mit der Zeit seinen Willen durchsetzen; aber es ging ihr sehr nahe … ja, es ging ihr wirklich nahe … Agnete hätte einen Grafen haben können, wenn sie nur gewollt hätte – mit diesen Augen! Ein Trost war es immerhin, daß sie auf Munkeboda wohnen würden, und also eine ihrer Töchter künftig die Herrin des alten Hofes sein würde.

Joachim war im Augenblick nicht anwesend. Er hatte sich gleich, nachdem er mit Agnete die grünen Zweige geholt hatte – was übrigens nicht so ganz wenig Zeit erforderte – ohne das Frühstück abzuwarten, auf sein Pferd geworfen und war spornstreichs nach dem Pfarrhof geritten, wo man um diese Zeit schon die Post von Stockholm erhalten haben mußte. Onkel Niklas hatte ihm den Schlüssel zur Posttasche anvertraut. Mama sollte doch heute nicht einen Augenblick auf den gewohnten Geburtstagsbrief von Tante Ann-Ulla warten müssen, und es schadete auch nichts, wenn die Zeitung ein wenig früher als gewöhnlich eintraf.

Fräulein Susen hatte sich als Genius in leichte Wolken von weißem Tarlatan gehüllt, mit einem reichen Kranz von Rosen in den Haaren. In dieser Tracht überreichte sie der Tante einen gestickten Schemel. Sie war die Einzige, die ein »Kostüm« hatte, zum großen Trost von Mamsell Fiken und Beate, denn ein solcher Festtag verlangte gebieterisch irgend eine Aufführung, aber dieses Mal hatte sich selbst Beate zu nichts aufgelegt gefühlt.

Ehe man noch bei der zweiten Tasse Kaffee angelangt war, hörte man Pferdegetrappel im Hof. Agnete blickte unwillkürlich zu Karin Maria hinüber, die ihren Blick auffing, worauf beide tief erröteten. Es konnte ja unmöglich Joachim sein, der schon zurückkam … Beate wagte nicht aufzusehen, und selbst Mamsell Fiken, die doch schon manches erlebt hatte, kicherte nervös und ganz unbegründet über des Majors sorglichen Ausspruch, daß »dieses Wetter unmöglich anhalten könne, bis man den Roggen unter Dach habe.« Beate drückte tröstend und mitfühlend Agnetes Hand unter dem Tisch, als jetzt Nils Olof Stjerne, von dem alten Figge begleitet, in den Garten trat.

Nils Olof war noch etwas röter im Gesicht als gewöhnlich, als er sich vor Agnete verbeugte und versuchte, seine Freude über ihre Rückkehr auszudrücken. Alle waren in Verlegenheit; niemand wagte ihn zu unterbrechen. Agnete verneigte sich einmal ums andre, und erst als er, durch die unheimliche Stille um sich herum vollständig außer Fassung gebracht, mitten in einem Satze hilflos stockte, blickte sie endlich zu ihm aus und entdeckte nun zum erstenmal, welch ein grundehrlicher, herzensguter Ausdruck in seinem etwas matten Blick lag. Jetzt verstand sie plötzlich, wenn auch noch immer widerstrebend, daß Karin Maria vielleicht doch »etwas in ihm sehen könne«.

Endlich erlöste Figge Wallqvist die ganze Gesellschaft aus der Verlegenheit, indem er mit fürstlicher Ritterlichkeit der Majorin die ersten Birkhühner überreichte und dabei sehr umständlich berichtete, wie er und Stjerne sie am Morgen gerade vor dem Garten entdeckt hätten, wo sie sich niedergelassen hätten. »Prächtig sind sie,« versicherte er begeistert, »und fett wie Gänse … solch eine Brust!« Er drückte dabei wiederholt die Fingerspitzen auf den weichen Brustflaum, ehe er sich dazu verstand, die Vögel Bengta auszuliefern, die ungeduldig wartend daneben stand, um sie in die Küche zu tragen. Jetzt hatte Karin Maria ihre gewohnte Geistesgegenwart wieder gefunden: höflich und mit »passendem empressement« bat sie ihren Bräutigam, neben ihr Platz zu nehmen, schenkte ihm Kaffee ein und schien Susens durchdringende Blicke durchaus nicht zu bemerken.

Wieder erklang Pferdegetrappel im Hof, aber stärker als vorher, und im nächsten Augenblick stürmte Joachim, von dem schnellen Ritt sehr bestaubt, in die Laube herein.

Ohne sich Zeit zu nehmen, zuerst Tante Charlotte zu gratulieren oder die Gäste zu begrüßen, warf er gleichgültig den von Stockholm erwarteten Brief auf den Tisch und zog die Zeitung aus der Tasche. Alle hatten sich erwartungsvoll erhoben; sie begriffen sofort, daß er mit großen Neuigkeiten kam.

Der junge Skytte schob rasch die Mütze zurück, und trocknete sich, am Eingang der Laube stehend, die Stirne mit einem Taschentuche, während er alle der Reihe nach jubelnd und triumphierend anblickte und sich offenbar an der Spannung, die er hervorgerufen hatte, einen Augenblick weidete.

»Das Königtum in Frankreich ist gefallen! Karl X. ist verjagt! Es ist eine neue, große Revolution ausgebrochen!« Er schlug mit der Hand auf die Zeitung, während er sie seinem Onkel hinreichte. »Lies selbst – hier steht es …«

Mamsell Fiken stieß einen Schrei aus, und alle sprachen durcheinander, während eines über des andern Schulter weg in dem kleinen Zeitungsblatt selbst zu lesen versuchte, das Onkel Niklas, die Brille auf der Nase, nun weit von sich weg hielt. Wer hätte das gedacht! Wer konnte das glauben? Jetzt hatte ja schon so lange Friede geherrscht! Joachim war Feuer und Flamme, als ob er selbst die ganze Julirevolution zu stande gebracht hätte!

»Hier, Onkel Niklas!« rief er eifrig und deutete auf die Zeitung, »hier steht es! Ach, wenn man daran denkt …!« Seine blauen Augen strahlten. »Nun haben sie wieder unter der dreifarbigen Fahne gekämpft, und das Volk hat wieder die Marseillaise gesungen … Und wenn Frankreich anfängt, dann erhebt sich ganz Europa! Das ist die Freiheit – die Freiheit, versteht Ihr – sie beginnt …«

»Ja,« sagte der alte Niklas langsam und legte still die Zeitung auf den Tisch. »Es ist vielleicht etwas Neues, das jetzt anfängt … Und dann,« fügte er bedächtig hinzu, als niemand etwas sagte, »wenn das eine Weile gedauert hat, wird man sehen, daß es doch auch nur wieder das Alte gewesen ist …«

»Nein!« rief Joachim lebhaft aus. »Ich habe in der letzten Zeit sehr viel darüber nachgedacht, und ich glaube … vielmehr, heute ist es mir ganz klar geworden, trotz Reaktion, trotz Fürsten- und Priesterzwang, selbst trotz der verschlafenen öffentlichen Meinung und der ganzen Erbärmlichkeit in allem und jedem, gehen wir doch … vorwärts! Die Welt steht nicht still, und das Gleiche kommt nie wieder!«

Er sprach so ernst, so begeistert, seine schönen Augen leuchteten so kühn unter der männlich offenen Stirne, als er jetzt stolz den Kopf zurückwarf und wie herausfordernd alle ansah, keck und trotzig, seiner selbst und der Generation, der er angehörte, unerschütterlich sicher. Selbst der konservative Nils Olof Stjerne, der legitimistische Figge und die weltkluge Tante Charlotte konnten in diesem Augenblick sich eines halb mitleidigen, halb bewundernden Mitgefühls nicht erwehren.

»Vetter Joachim!« Noch mit Thränen in den Augen, die teils der Enthusiasmus für die Revolution, teils die Rührung für den »armen, alten König« hervorgerufen hatten, zupfte ihn Beate am Rockschoß: »du hast ja ganz vergessen, Mama zu gratulieren …«

Verlegen um Verzeihung bittend, verneigte Joachim sich rasch vor der Tante und sprach seine pflichtschuldigen Glückwünsche aus. Tante Charlotte lächelte, und Karin Maria reichte ihm eine, wie sie sagte, wohlverdiente Tasse Kaffee. Als Joachim sich an den Tisch setzte, bat er die andern, die alle schon fertig waren, doch ja nicht auf ihn zu warten. Und die kluge und taktvolle Karin Maria schlug schnell der ganzen Gesellschaft vor, jetzt die Guirlanden zwischen die Lampen im Salon zu binden, damit zu Mittag alles fix und fertig sei; dann könne Mama noch nachsehen, wie es sich ausnehme. Darauf erhoben sich alle und gingen im Sonnenschein plaudernd über den kiesbestreuten Weg zum Saal; nur Onkel Niklas blieb, mit seiner Pfeife und der Zeitung in seinem schattigen Winkel zurück, sowie auch Agnete, die es ganz eigenmächtig übernommen hatte, Joachim zu bedienen. Mama sah es wohl, that aber, als ob sie nichts sehe, und rief sie auch nicht zu den andern herbei. In diesem Augenblick gab sie stillschweigend, aber allen verständlich, ihre Einwilligung zu dem Unvermeidlichen.

Agnete stand hinter Joachims Stuhl und sah ihm zu, während er mit großem Appetit frühstückte. Sein schöner, kräftiger Nacken war von der Sonne ganz braun gebrannt, und sein lockiges, dunkles Haar war feucht von dem schnellen Ritt. Er saß, während er aß, sehr behaglich da, das eine Bein lang ausgestreckt und den Ellbogen auf den Tisch gestützt. Agnete blickte scheu zu dem Vater hinüber, der die Zeitung noch immer ausgebreitet vor dem Gesicht hielt; sie merkte, auch er hatte, ohne ein Wort darüber zu sagen, nachgegeben und auf diese Weise ihr Verhältnis zu dem Vetter anerkannt. Sie neigte sich vor und legte blitzschnell einen Augenblick ihre Wange auf seinen Scheitel.

Unter gewöhnlichen Verhältnissen hätte sie ihm niemals im Beisein andrer eine solche Liebkosung zu teil werden lassen, aber jetzt, zum erstenmal in ihrem Leben, kam es ihr vor, als ob Joachim, in seine eignen Gedanken versunken, sie ganz und gar vergessen habe; es war eine eifersüchtige Regung, die sie trieb, ihn an ihre Nähe zu erinnern.

Joachim neigte den Kopf zurück und lächelte ihr treu und innig zu, während er ihr gerade in die Augen blickte. Dann drehte er sich auf seinem Stuhl herum, und mit unerhörter Dreistigkeit und ohne sich im geringsten vor Onkel Niklas zu genieren, schlang er seine Arme um sie.

»Wenn du hier bei mir bist, Agnete,« flüsterte er, »und für mich sorgst und … und … ja, dann ist mir gerade, als ob wir schon daheim wären, ich meine, in unserm eignen Heim, verstehst du …«

Agnete stand nun gerade vor ihm; sie lehnte sich mit beiden Händen nach rückwärts an den Tisch, die Füße etwas vorgestellt, indem sie ihn, ernster als er es je früher gesehen hatte, unverwandt anblickte.

»Du,« sagte sie leise und ein wenig zögernd, »glaubst du, daß du es hier für immer aushalten kannst?«

»Was willst du damit sagen?« fragte er verwundert.

»Ach!« sagte sie und schlug die Augen nieder; sie wußte nicht recht, wie sie sich ausdrücken sollte. »So oft du etwas von draußen hörst … wie jetzt das von Paris … dann ist es gerade, als ob es dich mit Gewalt zöge,« kam es heftiger, gleichsam vorwurfsvoll von ihren Lippen.

Er lächelte, ohne auszublicken, ergriff ihre Hand, legte die schlanken Finger übereinander und betrachtete eine Weile die vielen feinen Linien auf der Innenseite der Hand, dann führte er sie langsam an seine Lippen und küßte sie.

»Du ziehst mich noch mehr,« murmelte er zärtlich und mit großer Innigkeit. »Und,« fuhr er in einem leichteren Tone fort, halb verlegen über seine feierliche Art, mit der er seine tiefsten Gedanken ausdrückte, »ich überlege mir ja gerade, daß es vielleicht mutiger und besser wäre, meine Kräfte dem eignen Vaterland zu widmen, anstatt mein Blut für fremde Länder zu verspritzen – ja, im Göinger Bezirk Steine zu brechen,« fügte er lächelnd hinzu, »anstatt in Paris Barrikaden zu bauen.«

Agnete legte beide Hände auf seine Schultern und sah ihn zärtlich an. In diesem Augenblick vergaß sie ihren Vater vollständig, der noch immer unbeweglich mit der Zeitung vor dem Gesicht in seiner Ecke saß.

»Man fängt damit an, die Erde von den Steinen zu befreien« fuhr er in demselben Tone fort, »und es könnte ja sein, daß man dadurch sein Scherflein dazu beitrüge, auch das Volk allmählich zu befreien … von der Armut und der Unwissenheit wenigstens …« seine Stimme wurde mit jedem Wort gedämpfter.

Agnete beugte sich rasch nieder und küßte ihn heftig – wieder wie ein wenig eifersüchtig auf den Ausdruck in seinem Gesicht.

Er blickte auf und zog sie an sich. »Und du sollst mir dazu helfen,« flüsterte er.

»Ich werde dich lieb haben,« antwortete Agnete einfach, »ja, sehr lieb haben. Ich fange an zu glauben, daß dies das Einzige ist, auf was ich mich verstehe,« fügte sie ruhiger, nicht mehr so leidenschaftlich hinzu.

Der alte Niklas Skytte hustete rücksichtsvoll hinter seiner Zeitung, aber sie hörten ihn nicht. Joachim hielt Agnete lächelnd mit ausgestreckten Armen vor sich hin und betrachtete sie – der Sonnenschein drang zwischen den großen Blättern der Lindenlaube hindurch und spielte mit goldenen Lichtern auf ihrem hellblonden Haar, ihrem Gesicht und ihren weichen Schultern, von denen das Spitzentuch herabgeglitten war. Da verschwanden alle seine hochstrebenden, idealen Zukunftsträume, seine schwärmerischen, kühnen Hoffnungen in einer Sekunde vor ihrer warmen, jungen Schönheit, der lebendigen Gegenwart selbst.

»Und ich, Agnete, ich gelobe dir, daß ich glücklich sein werde … Ich fange an zu glauben, darauf verstehe ich mich …!«



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