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Zwölftes Kapitel.

In der kleinen Stube auf der Giebelseite des Hauses, mit der Aussicht auf den Hausgarten, in dem die Narzissen und Aurikeln blühten, saß Agnete und dachte an ihre Heimat. Es war an einem der ersten Juniabende, ein milder, feuchter Abend mit Nebel und schwachem Mondschein. Der Duft von dem großen Holunderstrauch drang stark und betäubend durchs offene Fenster herein, auf dessen niederem Gesimse Agnete saß, ihr Haar für die Nacht ordnend. Die Finger glitten mechanisch wie zärtlich durch das lange, glänzende Haar, das ihr über Schultern und Brust herab hing, während sie in Gedanken versunken flocht und flocht und halb unbewußt leise eine alte, melancholische Volksweise vor sich hinsang.

Da raschelte es drunten an der niedrigen Mauer, die den Garten des Kriegsrats von der unansehnlichen, menschenleeren Hintergasse trennte. Agnete wandte hurtig den Kopf, in der hellen Sommernacht konnte sie alles um sich her deutlich unterscheiden. Sie ergriff einen der Zweige des Holunderstrauchs und neigte sich weit aus dem Fenster, um die Ursache des Geräuschs zu entdecken: nein – es war nichts zu sehen! Oder verhinderte sie vielleicht nur der große Strauch, genau zu sehen? Unbekümmert und furchtlos, wie sie von Natur war, setzte Agnete darauf ihren Gesang fort.

Da hörte sie, und zwar jetzt ganz deutlich, wie jemand sich zwischen dem Holunderstrauch und der Mauer gerade unter ihrem Fenster durchzudrücken suchte. Sie erhob sich vom Fensterbrett; plötzlich fiel es ihr jedoch ein, es werde wohl Stine sein, die bei einem Tanzvergnügen der Artilleristen gewesen war.

»Bist du es, Stine?« fragte sie leise, um niemand im Hause aufzuwecken und das Mädchen nicht in Angst zu bringen.

»Nein, Agnete,« flüsterte eine Stimme, die sie nur allzu gut kannte, obgleich sie jetzt von halbunterdrücktem Lachen beinahe erstickt war. »Du hättest sofort erraten müssen, daß ich es bin!«

Und triumphierend, froh und glückselig, endlich das letzte Hindernis überwunden zu haben, drängte sich Lieutenant Skytte durch den dichten Holunderstrauch.

Wäre er am hellen, lichten Tag reuevoll und feierlich in die Staatsstube des Kriegsrats getreten, so wäre Agnete sicherlich, in der Erinnerung an ihre letzte stürmische Unterredung in Mamsell Fikens Stube, ein wenig verlegen gewesen und auch, wie sie zu sagen pflegte, etwas » fière und retirée«. Aber jetzt am Abend, da er wie ein Landstreicher keck und demütig zugleich ohne weiteres über die Mauer kroch und schmutzig, mit zerrissenen Kleidern und ohne Mütze im Mondschein gerade unter ihrem Fenster auftauchte, da konnte sie ihre überlegene Würde nicht einen Augenblick länger aufrecht erhalten. Ohne an ihren etwas mangelhaften Anzug und ihr aufgelöstes Haar zu denken, streckte sie ihm ungeziert und sehnsuchtsvoll beide Hände entgegen und flüsterte mit jubelndem Ton: »Vetter Joachim …!«

Da war nicht mehr die Rede von Versöhnung oder Vergebung; keins von beiden erinnerte sich in diesem Augenblick an die bitteren Worte von Munkeboda. Er legte nur seine beiden Arme um sie, wie sie noch auf dem Fenstersims saß, und als sie sich innig ohne jeglichen Widerstand zu ihm herunterneigte, küßte er sie heiß und feurig auf ihre süßen Lippen.

»Ach, Vetter!« Unschuldig und doch leidenschaftlich schlang Agnete ihre beiden Arme um seinen Hals und drückte noch einmal ihre Lippen auf die seinigen. »Ach, Vetter Joachim! Wie habe ich mich nach dir gesehnt!«

Sein Haar war feucht und ebenso der Samtkragen seines Rockes; sie strich sachte mit der Hand darüber hin.

»Aber,« – sie sah ihn plötzlich errötend an – »was thust du denn hier? Wie bist du nur darauf gekommen?«

»Frage lieber, wie es kommt, daß ich nicht früher darauf kam?« flüsterte er wieder. »Es ist mir jetzt ganz unbegreiflich, daß ich so lange gezögert habe. Aber Tag für Tag hoffte ich auf ein einziges Wort von dir – auf einen Gruß oder einen Brief. Und da ging ich auf Munkeboda herum, demütig wie ein Sträfling, fromm wie ein Lamm, verkannt von Tante Charlotte und der ganzen Gesellschaft. Ich wagte kaum, mich zu rühren,« – er blickte lachend zu ihr auf – »aus lauter Streben, mich wohlerzogen und deiner würdig zu benehmen. Aber da es niemand anerkennen wollte, so …«

Sie lächelten einander in dem dämmerigen Zwielicht an; er hatte die Arme noch immer um sie geschlungen, und ihre Blicke begegneten sich vertraulich, ohne eine Spur von Scheu oder Unsicherheit.

»Du frierst doch nicht, Joachim?« fragte Agnete plötzlich unruhig.

»Frieren? … Nicht im geringsten!« antwortete er zerstreut.

»Ja, denn ich kann dich unmöglich einladen, hereinzukommen,« murmelte sie klagend und wie halb verschämt entschuldigend.

»Mein Pferd habe ich bei einem Bauern, zehn Minuten vor der Stadt draußen, eingestellt … Es kostete mich natürlich etwas Kopfzerbrechen, wie ich unbemerkt durchs Stadtthor kommen sollte, aber es ging schon. Jetzt werde ich übrigens gleich gehen …, ich wollte dich nur sehen …«

Seine Stimme klang jetzt nicht mehr natürlich, sondern ganz eigentümlich zerstreut und abwesend, während er sie nicht einen Augenblick aus seinen Armen ließ. Agnete blickte ihn nicht länger an; sie schlug die Augen nieder vor seinem Blick, und die Hand, die noch unbewußt über seinen Rock strich, bebte leicht.

»Herr Gott im Himmel! Agnete!« murmelte er plötzlich und lehnte zugleich seine Stirne fest auf ihre kühle Schulter. »Warum bin ich nun nicht dein Gatte?«

Es wurde Agnete auf einmal so merkwürdig heiß in seinen Armen, ihr Herz klopfte schneller und sie fühlte, wie sie bis über den Hals errötete, o, eine so brennende Röte … sie wagte nicht die Augen aufzuschlagen, sondern flüsterte halb verlegen, halb unglücklich: »Es ist so spät, Vetter Joachim …« Sie versuchte sich frei zu machen und sich ins Zimmer zurückzuziehen. »Es schickt sich gewiß nicht, daß du noch länger hier bleibst.«

»Nur noch ein Wort!« Trotz ihrem Widerstand drückte er sie noch inniger an sich. »Ich kann nicht ewig herumgehen, den Kopf hängen lassen und warten, warten! Entweder versprichst du mir, daß du mit mir zusammen alles thun willst, damit wir uns so bald als möglich angehören, oder …« – er blickte sie fest und ernst an – »bleibt es bei meinem Entschluß, und ich gehe, sobald sich eine Gelegenheit bietet, nach Frankreich. Den Brief ans Kriegsministerium habe ich hier in der Tasche bei mir. Du mußt dich also entscheiden, und zwar auf der Stelle, ob ich ihn abschicken soll oder nicht.«

»Wenn es aber nichts hilft, was ich auch immer thun mag!« flüsterte sie angstvoll. »Wenn Mama unerbittlich bleibt …«

»Großer Gott, Agnete! Dann fliehen wir einfach!« rief er plötzlich ganz außer sich. »Das haben andre auch schon gethan! Aber wenn wir nur zusammenhalten, dann wirst du sehen, trotz Vormundschaft, Unmündigkeit und Blutsverwandtschaft und Gott und der ganzen Welt werden wir … Weinst du denn, Agnete?«

»Nein!« schluchzte sie, den Kopf auf seine Schulter gedrückt. »Ich kann es nur nicht ertragen, dich auf diese Weise sprechen zu hören.«

»Versprichst du mir also, mein Täubchen,« fuhr er unbarmherzig, aber nicht ganz so heftig als vorher fort, »daß du mutig sein willst und deiner selbst sicherer, als vor deiner Abreise?«

»Ja,« flüsterte Agnete leidenschaftlich, noch immer schluchzend, »ich verspreche dir alles, ich werde alles thun, was du willst! – Wenn du nur nicht außer Landes gehst!«

»Wenn du mein wirst, dann bleibe ich mein ganzes Leben lang gerne auf Munkeboda,« flüsterte er tröstend. »Also sei mutig, mein süßer Engel …«

Als sich Agnete ein wenig beruhigt hatte, schämte sie sich ihrer offen an den Tag gelegten heftigen Angst. Sie trocknete sich die Augen mit dem Rücken ihrer beiden Hände und murmelte beinahe ungeduldig und wie ein wenig beleidigt: »Du sagst nicht ein Wort davon, wie es zu Hause geht …«

Joachim fing plötzlich an zu lachen. Er war seelenvergnügt, endlich mit einem kühnen Schlag die Bedenken seiner widerspenstigen Cousine überwunden zu haben, und es reizte ihn nun so unwiderstehlich zum Lachen, daß er jetzt hier, vor dem Fenster seiner Geliebten und in später Nacht, sich spießbürgerlich über das Befinden der Familie mit ihr unterhalten sollte.

»Hast du mich sonst nichts zu fragen, liebe Agnete?« fragte er scherzend. »Etwa, was das ewige Zahnweh der armen Mamsell Fiken macht, oder Tante Charlottens Weberei, oder des kleinen Hans Katechismus, den ihn Beate jeden Abend überhören muß, oder warum Karin Marias Fliederbüsche dieses Jahr nicht blühen wollen, oder …«

Joachim verstummte plötzlich und ganz verwundert, weil ihn Agnete auf einmal wie verzweiflungsvoll wieder umschlang. Er hatte gar nicht gedacht, daß seine Worte irgend eine Wirkung haben könnten, aber dieses scherzhafte und rasche Aufzählen der Begebenheiten und der Verhältnisse zu Hause hatte das schlummernde Heimweh des jungen Mädchens plötzlich erweckt.

»Ach, Joachim, Joachim! Wie sehne ich mich nach Munkeboda … ich kann es hier nicht länger aushalten! – Nein, nein, ich kann nicht!«

Agnete wußte selbst nicht, daß diese heftige Sehnsucht nach der Heimat, die sie jetzt überwältigte, in Wirklichkeit nur ein verstecktes Heimweh nach ihm selbst war, nach seiner Liebe, seiner geliebten Nähe. Sie drückte sich fassungslos weinend an ihn.

Joachim setzte schnell einen Fuß auf einen hervorspringenden Stein und schwang sich gewandt hinauf, so daß er jetzt, die Beine außen, auf dem Fensterbrett saß. Ueber Agnetes Schulter hinweg warf er hastig einen Blick in das halbdunkle Stübchen; er erblickte den Klapptisch mit der weißen Decke, den Spiegel an der Wand und drüben im Alkoven ihr noch unberührtes Lager.

»Meine kleine Agnete,« sagte er innig, beinahe brüderlich, »glaube mir, ich komme bald und hole dich.«

Der Nebel hatte sich beinahe verzogen. Es war ganz still rund herum – nicht ein Blatt bewegte sich in den Zweigen, und der Mond stand bleich, aber groß und strahlend gerade über dem hohen, dunklen Holunderbusch. Die Nacht war lautlos still – Joachim konnte sein eigenes Herz und das Agnetes klopfen hören.

»Ich muß gehen, Agnete …« flüsterte er; und als sie ihn halb unbewußt zurückhielt, fügte er hinzu: »Geliebte, ich darf nicht länger hierbleiben …«

Agnete sah auf – wie aus einem Traum erwachend – und wich langsam und verwirrt einen Schritt zurück.

Aber Joachim blieb doch, den Rücken an den Fensterrahmen gelehnt, unbeweglich sitzen, sein Blick ruhte wie gebannt auf Agnete. Noch niemals war sie ihm so entzückend vorgekommen, als jetzt hier, wie sie, vom hellen Mondlicht übergossen, bleich vor ihm stand, mit ihren großen, zärtlichen und scheuen Augen und dem silberschimmernden Haar, das wie bei einer Madonna über Schultern und Hals herabwallte, bis herunter zu den schlanken Lenden. In diesem Augenblicke fühlte er wie noch nie zuvor des Mannes ewige, schwärmerische Anbetung des Unberührten bei der Frau, der Jungfräulichkeit des jungen Mädchens. Sie war sein – er liebte sie von ganzer Seele, er sehnte sich nach ihr mit jedem Blutstropfen, jedem Nerv seines starken jugendlichen Körpers. Die Nacht und die Einsamkeit vereinigte sie – aber doch streckte er seine Hand nicht nach ihr aus und zog sie nicht an sich, obgleich sie nur eine Handbreit von ihm entfernt war. Er sank nicht zu ihren Füßen nieder und bestürmte sie nicht mit Bitten, die sie ihm in diesem Augenblick, das wußte er wohl, nicht hätte abschlagen können. Vielleicht war es gerade diese selige Gewißheit, dieses jubelnde Bewußtsein, so heiß geliebt zu sein, das den heißblütigen und unbedachten Lieutenant Skytte rücksichtsvoller und ritterlicher machte, als vielleicht andere Männer an seiner Stelle gewesen wären. Er hätte sich mit größter Leichtigkeit vom Fenstersims aus ins Zimmer schwingen können – aber er widerstand auch dieser Versuchung. Während er sich zum Gehen anschickte, ergriff er Agnetes Hand, die schlaff an ihrer Seite herunterhing, und führte sie zum letztenmal langsam an seine Lippen. Aber er sagte kein Wort, er wußte, er konnte sich nicht mehr auf seine Stimme verlassen. Erst als er wieder unten vor ihrem Fenster stand und die Erde unter seinen Füßen fühlte, flüsterte er ganz leise, daß Agnete ihn kaum hören konnte: »Gott weiß, ob du jemals verstehen wirst, wie sehr ich dich jetzt liebe …« Er neigte sich zum Fenster hinein, die Ellbogen auf das Fensterbrett aufsetzend – er glaubte Agnete im Halbdunkel lächeln zu sehen. Aber sie stand unbeweglich, mit niedergeschlagenen Augen da, still wie eine Madonna unter ihrem herunterfließenden Haar.

Joachim grübelte noch lange über dieses flüchtige, geheimnisvolle Lächeln nach, während er, plötzlich in der schwärzesten Laune, verzweifelt und entsetzlich unzufrieden mit sich selbst, durch die feuchte Nacht nach Hause ritt.

Als er gegangen war, stand Agnete noch lange am offenen Fenster mitten im Mondschein da. Einmal erhob sie ihre linke Hand und sah sie an, diese Hand, die Joachim zuletzt geküßt hatte, und führte sie sacht und langsam an ihre Lippen.



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