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Fünfzehntes Kapitel.

Diejenige, welche am wenigsten erbaut war, als sie von dem »ritterlichen Zurücktreten« des Barons hörte, war die gnädige Frau Majorin. Sie war geradezu tödlich beleidigt. Nicht allein hatte man in der ganzen Umgegend nun schon seit einem halben Jahre über die Heirat gesprochen, über die sich die Landrichterin mit ihren fünf Töchtern vor Neid grün ärgerte, sondern sie hatte auch an die Schwägerin in Stockholm davon geschrieben und noch obendrein Fagerhjelms in die ganze Geschichte einweihen müssen, als sie Agnete Hals über Kopf zu ihnen schickte. Nun saß sie da, mit der Schande und » tous les frais«, wie sie empört zu Karin Maria sagte. Wenn es auf diese Weise endigen sollte, so hätte sie wirklich schon lange im Namen Agnetes abbrechen können; das hätte doch besser ausgesehen, als wenn nun Agnete, das arme Kind, so behandelt wurde. Deshalb hätte sie noch lange nicht nötig gehabt, sich in die Arme dieses Taugenichts Joachim zu werfen! Im ganzen Göinger Bezirk gab es kein so schönes Mädchen wie Agnete, sie hätte jeden bekommen, nach dem sie vor dieser dummen Geschichte nur den Finger ausgestreckt hätte! Die Majorin saß oben auf dem Bodenraum am Dachfenster und schrieb unter diesen und andern Einwürfen den großen Wäschezettel, während Beate und Karin Maria, anscheinend demütig und gedrückt, aber im stillen froh und vergnügt, die Wäsche nach Anweisung der Mutter in große Bündel ordneten. Das Zusammenzählen der großen Sommerwäsche wurde in dem Skytteschen Hause keinen fremden Händen anvertraut.

Joachim war am Tage vorher von seinem zweiten Besuch auf Marieholm zurückgekommen, wo er die Sache mit Nils Olof »abgemacht« hatte. Was eigentlich zwischen ihnen vorgefallen war, erfuhr niemand ganz genau; das war aber auch nicht nötig, da das Ergebnis durchaus klar war. Joachim ging nämlich, sobald er vom Pferd gestiegen war, sofort zu Onkel und Tante hinein und berichtete ihnen kurz und bündig, Baron Stjerne habe ihm sein Wort gegeben, er wolle auf den Rat seiner Mutter und weil er einsehe, daß er doch niemals Hoffnung habe, das Herz der ihm zugedachten Braut zu gewinnen, Agnetes Eltern freiwillig von ihrem Versprechen entbinden und seine Werbung aufgeben.

Die Majorin war zuerst ganz versteinert. Ganz besonders erregten, sie die Worte: »Auf den Rat seiner Mutter« … Sie hatte doch wirklich nicht gedacht, die alte Malwina könne eine so schändliche Intrigantin sein!

Aber draußen im großen Flur umfaßte Joachim Karin Maria und sah ihr lange schelmisch in die Augen. Er fragte sie, ob er ihr wiederholen solle, was die alte Freifrau gesagt habe, ihr könne er es schon mitteilen i Karin Maria wurde rot wie Blut und weigerte sich empört, seine » bêtisen« anzuhören. Darauf flüsterte er ihr lachend etwas ins Ohr, küßte sie herzlich auf die Wange und stürzte die Treppe hinauf zu Beate, bei der er jederzeit, das wußte er sicher, eine unerschöpfliche Fülle von Teilnahme fand.

Karin Maria rieb sich sorgfältig und gedankenvoll mit ihrem Schürzenende die Wange ab, bis diese noch röter war als vorher und sich ein kleines Grübchen neben dem Mundwinkel zeigte, das man nur sehr selten sah. Sie war entschlossen, bei der ersten Gelegenheit aus Nils Olof herauszulocken, was zwischen ihm und dem Vetter vorgefallen war. Was aber die alte Freiherrin gesagt hatte, das interessierte sie natürlich nicht im geringsten!

Eigentlich hätte Joachim es gar nicht nötig gehabt, aus seiner Unterredung mit Stjerne ein Geheimnis zu machen. Es war sehr förmlich dabei zugegangen, und da der junge Skytte von Anfang an ungewöhnlich ruhig und sich selbst beherrschend auftrat, hatte Nils Olof, der in der letzten Zeit von seiner Mutter nichts als beißende Bemerkungen über »eine Braut, die einen Liebhaber zur Aussteuer mitbringe« hören mußte, mit ein paar abgemessenen, aber durchaus nicht des Gefühls ermangelnden Worten gesagt, da er doch niemals Aussicht habe, das Herz Agnetes zu gewinnen, so wolle er nicht die Ursache sein, daß diese noch länger aus der Heimat verbannt sei. Er hatte die ganze Zeit hindurch Joachim wie eine Art bevollmächtigten Abgesandten von Munkeboda betrachtet und mit keiner Silbe ihre Nebenbuhlerschaft berührt. Joachim hatte das sofort verstanden und diesen heiklen Punkt daher auch ganz beiseite gelassen. Er dachte, es gehe eigentlich Nils Olof gar nichts an, wie sich Agnetes Schicksal weiter gestalten würde, nachdem er aufgehört hatte, eine Rolle in ihrem Leben zu spielen.

Später war dann Herr Figge Wallqvist, der auf höheren Befehl that, als ob nichts geschehen wäre hereingekommen, und dann hatten alle drei höchst kameradschaftlich einen Punsch miteinander getrunken. Stjerne war noch schweigsamer als gewöhnlich und trank erheblich mehr als die andern. Später hatte die Freifrau eine Tasse Thee angeboten, und von ihr erhielt Joachim die erste Aufklärung über den »Umschlag«, was ihn im höchsten Grade ergötzte.

»Ja, ja, mein lieber Corydon,« – die alte Dame klopfte ihm freundlich, aber ziemlich derb mit ihren kleinen, knochigen Fingern auf die Wange – »wenn wir nun bald unsre Amaryllis zur Ehegattin bekommen, dann denken wir doch auch hie und da an die alte Malwina Stjerne, die kein so kleines Verdienst dabei hat.«

»Die allergnädigste Frau Baronin darf sich darauf verlassen, daß es niemand gibt, an den ich öfter denken werde!« antwortete Joachim, die Hand aufs Herz legend. Er war wirklich dankbar für ihre erfolgreiche Einmischung, wenn sie auch gar nicht um seinetwillen geschehen war.

»Flausen, nichts als Flausen, mein Freund!« antwortete die Freifrau ungläubig und schüttelte den Kopf. »Ich würde die Welt schlecht kennen, wenn ich glaubte, daß ein Kerl wie Er länger an mich alte Frau denkt als er sie vor sich sieht. Nein, denk' Er nur an Seine Amaryllis – entre nous, sie verdient es wirklich – und sorg' Er dafür, daß Er vor dem nächsten Sommer ein paar ordentliche Zwillinge bekommt!«

Joachim behagten zwar diese derben Späße durchaus nicht, aber er lachte gutmütig und versprach, die Freifrau auf alle Fälle zu Gevatter zu bitten.

»Ich nehme Ihn beim Wort, mon cher!« rief diese und drohte ihm mit dem Zeigefinger, »und Gott gnade Ihm, wenn Er mich für Narren hält! Wenn nur das Mädchen nicht die Bleichsucht hat, sie sieht mir so danach aus – ja, ja, nun habe ich das Gröbste der Arbeit für Ihn gethan, das übrige muß Er selbst fertig machen. Nils Olof muß ich aber wohl noch eine Weile unter die Arme greifen.«

Dann ließ sie Joachim ihre Hand küssen, trug ihm Grüße an Karin Maria auf und untersuchte noch zu guter Letzt den Sattelgurt seines Pferdes, denn sie hatte sofort entdeckt, daß der Stallbursche ihn zu fest angezogen hatte. Sie hatte ein Auge für jede Kleinigkeit und genoß nun auch noch den Triumph, sich über die jungen Leute lustig machen zu können, weil »die Liebe sie blind« mache.

Joachim war außerordentlich befriedigt von seinem Ausflug, als er endlich abends um zehn Uhr wieder in Munkeboda eintraf.


Jetzt, im Sommer, da das Tageslicht so lange anhielt, konnte Tante Charlotte unmöglich kontrollieren, wie lange die Jugend auf blieb. Es war nämlich ein durchaus hoffnungsloses Beginnen, Joachim und die Mädchen zur gewohnten Stunde ins Bett zu schicken, solange die Sonne noch hoch am Himmel stand und auch die Vögel noch nicht einmal zur Ruhe gegangen waren. Die Guitarre an einem Band um den Hals, saß Joachim auf der breiten Steintreppe nach dem Garten, während Karin Maria und Beate und sehr häufig auch Mamsell Fiken ein paar Stufen höher, als er, still nebeneinander saßen.

Und in natürlicher, gefühlvoller und dramatisch bewegter Weise sang der junge Skytte zum Klang der Guitarre die schönen Lieder Professor Geijers für Männerstimmen, dazwischen aber auch häufig ohne Begleitung die alten Schonenschen, ursprünglich dänischen Volkslieder, die er in seiner Kindheit gekannt und von den Leuten in der Umgegend nun wieder gelernt hatte. Die Knechte und Mägde des Hofes saßen in einer dunklen Gruppe unter der großen Hängebirke an der Ecke des Hauses und lauschten ebenso andächtig als die jungen Mädchen dem Gesang. Oft sang Joachim auch die kleinen französischen » Chansons« die er einst von seiner fröhlichen Mutter gelernt hatte, und diese verlangte der alte Niklas, der behaglich eine Abendpfeife am offenen Fenster rauchte, regelmäßig zum zweitenmal zu hören. Ja, selbst die gestrenge Tante Charlotte kam hie und da einmal herbei und stand dann lauschend unter der Thür, mit ihrem hohen, steifen Kopfputz und der engen, von den Motten zerfressenen Mantille über den Schultern.

»Kommt nun herein, Kinder!« pflegte sie zu sagen, wenn das eben angefangene Lied zu Ende war. »Ihr solltet längst zu Bett sein!«

Aber niemand schien sie zu hören. Der Widerstand lag entschieden in der Luft und ließ sich nicht mehr dämpfen Tante Charlotte mußte sich täglich mehr zugestehen, daß mit Joachim eine neue Zeit und ein neuer Geist in Munkeboda eingezogen war.

Denn »der junge Skytte« – der Erbe – war nach und nach derjenige geworden, um den sich alles auf dem Hof drehte. Nicht allein war er für Agnete und ihre Schwestern die wichtigste Person im Hause, sondern auch der gute Onkel Niklas, der doch bald dreißig Jahre lang der erste und gehorsamste Unterthan der Majorin gewesen war, ging mit jedem Tag mehr und mehr zum Feinde über. Es war nicht nur die fröhliche Sorglosigkeit und die feurige, kräftige Männlichkeit des jungen Mannes, die auf den Alten so anziehend wirkten, sondern er fand mit heimlicher, wehmütiger Freude in dessen schwärmerischem und leicht gerührtem Wesen eine so ersichtliche Verwandtschaft mit seinem eigenen, daß es ihn mit der Unbedachtsamkeit und Widersetzlichkeit des Neffen mehr als versöhnte. Ebenso fühlte der Onkel eine natürliche und warme Teilnahme für die etwas dunklen und unklaren Zukunftspläne Joachims, sowie für seine ehrliche und leidenschaftliche Hinneigung zu den unsterblichen, nach und nach wieder erwachenden Grundsätzen der großen Revolution, ein Interesse, das weder das vernünftige Regiment der gnädigen Gemahlin auf dem einsamen Munkeboda, noch der erzwungene europäische Friede der heiligen Allianz je ganz hatten unterdrücken können. Niklas Skytte war im Jahre 1789 als junger Kornett in der Leibgarde Königs Gustavs, wie er selbst sagte, ein »großer Jakobiner« gewesen; und die stolze Freiheit, die kräftige persönliche Thatkraft hatte keinen aufrichtigeren Bewunderer, als ihn. Mit einer Art naiver Bewunderung blickte er jetzt zu dem jungen Manne auf, der immer schnell entschlossen und immer uneigennützig war und stets tausend kühne Pläne im Kopfe hatte, die er dann mit dem ganzen Feuer der Ueberzeugung, mit einer grenzenlosen Starrköpfigkeit und einer unerschöpflichen Beredsamkeit zu verteidigen verstand. Tante Charlotte schüttelte wohl den Kopf und hielt zurück, so weit sie es vermochte, aber trotz ihrer Klugheit konnte sie es doch nicht verhindern, daß die Bewirtschaftung des Guts mehr und mehr in Joachims Hände überging. Der Major fing an, sich alt und müde zu fühlen, ja auch ein wenig träge, und wenn seine Gattin ihm vorwarf, die Zügel der Regierung glitten ihm aus den Händen, dann entschuldigte er sich damit, daß es ja für alle Teile am besten wäre, wenn Joachim unter seiner Anleitung, solange er noch lebe, die Verhältnisse kennen lernte, er werde ja ohnedies einmal das ganze Gut übernehmen. Und die Untergebenen, diese streitsüchtigen, unberechenbaren, eigensinnigen und verschlagenen Grenzbewohner, die so schwer zu behandeln sind und aus einem natürlichen Gefühl nur die selbstbewußte Kraft achten, hatten zehnmal mehr Respekt vor dem jungen Lieutenant, als irgend sonst jemand. Seine Befehle waren immer klar und bestimmt, selbst wenn sie auch hie und da ein wenig übereilt waren; er verstand es ebensogut, dem eine halbe Mark in die Hand zu drücken, der seine Sache besonders gut gemacht hatte, als auch zu rechter Zeit eine Ohrfeige auszuteilen; der alte Major dagegen wurde bei solchen Gelegenheiten nur böse, brummte und nahm zum Schluß eine bedächtige Prise aus seiner Schnupftabaksdose.

Joachim hatte seine Entlassung vom Militär schon eingereicht; wenn seine Tante sich bis zum Schluß des Jahres in Beziehung auf seine Heirat mit Agnete nicht erweichen ließ, dann, das war sein fester Entschluß, wollte er trotz aller Einwendungen der Geliebten einige Zeitlang in fremde Kriegsdienste gehen. Hier in Munkeboda zu bleiben und Agnete Tag für Tag zu sehen, ohne daß sie einander angehören dursten, das sah er wohl ein, würde auf die Dauer beider Kräfte übersteigen. Da war es besser, sich eine Zeitlang zu trennen und die Zeit walten zu lassen. Die aufs äußerste gespannten politischen Verhältnisse in Polen, wo man jeden Augenblick den Ausbruch einer Revolution erwarten mußte, bewegten alle jungen Gemüter, und manches schwedische Herz klopfte damals stärker vor heißer Lust, dem unterdrückten Volk zu Hilfe zu eilen. In Schweden vergaß man nicht, daß Polen einst ein Bruderland und das Reich gewesen war, für das die großen schwedischen Könige am meisten Blut und die meisten Gedanken geopfert hatten. Darum erschien auch der Plan, gegen den moskowitischen Erbfeind für die Freiheit Polens zu kämpfen, Joachim selbst, wie so vielen seiner Altersgenossen, als eine würdige und edle Sache. Oftmals an diesen langen Sommerabenden sprach er mit Karin Maria und Beate darüber.

Man war jetzt schon in der Mitte des Juli angelangt, aber noch immer fiel kein Wort über Agnetes Heimkehr. Karin Maria, die in der letzten Zeit unglaublich keck – Mama nannte es »eigenmächtig« – geworden war, spielte ein paarmal darauf an, und der Major ließ auch einige vorsichtige Winke fallen, daß »es ja gar keinen Wert habe, das Kind zu zwingen, da es nun doch nichts mit dem Marieholmer sei«, aber die gnädige Frau blieb unbeweglich. Sie meinte hauptsächlich, und machte auch gar kein Geheimnis aus diesem Grunde, »es sehe nicht gut aus,« wenn Agnete, nachdem Baron Stjerne sie »sitzen« gelassen – bei diesen Worten kniff die Majorin immer die Lippen zusammen und faßte denjenigen, mit dem sie gerade sprach, fest ins Auge – wenn Agnete nun Hals über Kopf mit Joachim verheiratet würde. Man habe in der ganzen Gegend lange genug über Agnete gesprochen, nun müßten die Leute erst Zeit haben, sie zu vergessen.

»Aber Mama,« konnte dann wohl Beate, dem Weinen nahe, sagen, »wenn nun Vetter Joachim in den Krieg zieht?«

»Dann soll er ruhig ziehen!« antwortete alsdann die Majorin gelassen, »das wird ihm nur gut thun. In meiner Jugend mußte jeder junge Mann wenigstens einen Feldzug mitgemacht haben, ehe er sich zur Ruhe setzte.«

»Aber Mama,« versuchte Beate schüchtern einzuwenden, »er könnte doch hier auf Munkeboda viel mehr nützen.«

»So, meinst du? … Es wäre gescheiter von ihm, er ließe die Steine auf den Aeckern liegen!« antwortete die Majorin kurz, und alle ihre Bandschleifen zitterten unter dem breiten Kinn, wenn sie an alle die Reformen dachte, die Joachim vorgeschlagen und zu denen er schon halb und halb des Onkels Zustimmung erhalten hatte. »Da wo sie liegen, kosten sie weder Pulver noch Geld, und Platz haben wir Gott sei Dank noch genug im Göinger Bezirk.«

Der Einzige, der keine direkten Anstrengungen in dieser Sache bei Tante Charlotte machte, war Vetter Joachim selbst. Es schien ihm im Gegenteil in der letzter Zeit ganz gleichgültig zu sein, ob Agnete heimkam, oder noch länger in Kristianstad blieb. Er sprach auch nur sehr selten von ihr, und er war stets in der besten Laune – etwas ungleich allerdings, aber doch meist strahlend vergnügt – allzu vergnügt, meinten die Schwestern, die sich für Agnete ein wenig beleidigt fühlten; Beate hatte auch nie mehr Gelegenheit, sich über seine »Roquairollen« zu beklagen.

Karin Maria aber hegte einen Verdacht: sie hatte bemerkt, daß Joachim in der letzten Zeit gar oft so ein Techtelmechtel mit Mamsell Fiken hatte, und sie schloß daraus mit ziemlicher Gewißheit, es sei ihm nun doch auf irgend eine Weise gelungen, sich mit Agnete in Verbindung zu setzen. Aber sie teilte diesen Verdacht niemand mit und versuchte auch nicht etwas Sicheres darüber zu erfahren – was würde es denn genutzt haben? Sie hätte nur ihr Gewissen mit einer neuen Last beschwert, und das Gewissen Karin Marias war ohnedies nicht mehr so ganz leicht und rein wie früher.

Aber um das Gewissen der armen Mamsell Fiken war es noch schlechter bestellt, denn, wie Karin Maria vermutete, so verhielt es sich auch. Mit der festen Ueberzeugung, daß im Krieg und in der Liebe alle Mittel erlaubt seien, hatte Joachim die ehrliche Mamsell Fiken schlau verlockt, den Zwischenhändler bei einem sehr lebhaften Briefwechsel zwischen ihm und Agnete zu spielen. Sie hatte natürlich Einwendungen gemacht und von der gnädigen Frau und dem vierten Gebot gesprochen. Da sie aber einerseits große Freude an romantischen Ereignissen und das weichste Herz von der Welt hatte, andrerseits aber in ihrer halb unbewußten Weltklugheit ausrechnete, daß es vielleicht gar nicht so dumm wäre, wenn sie dem künftigen Herrn von Munkeboda einen Dienst erweise, gab sie, wenn auch unter vielen Thränen, der hinterlistigen und etwas sophistischen Beredsamkeit des Herrn Lieutenant nach. Sie empfing also Briefe für Joachim unter ihrem Namen und fand mit einer unermüdlichen, niemals versagenden Erfindungsgabe immer neue Auswege, um seine Briefe unbemerkt in Agnetes Hände zu befördern. Die Einrichtung dieses Briefwechsels war bei einem zweiten nächtlichen Besuch im Garten des Kriegsrats beschlossen worden. Diese heimlichen Ritte durch Nacht und Nebel, um eine halbe Stunde lang unter dem Fenster seiner heißgeliebten Agnete verbringen, sie in seinen Armen halten, ihre Stimme hören und in ihre zärtlichen, braunen Augen blicken zu können, behagten dem romantischen und abenteuerlichen Sinn des jungen Skytte im höchsten Grade. Da er aber das letzte Mal von, dem wachsamen und neugierigen Fräulein Susen um ein Haar, entdeckt worden wäre, war er doch rücksichtsvoll genug, dieses gewagte und in mehr als einer Hinsicht gefährliche Vergnügen aufzugeben. Mit seiner ganzen Seele, mit seinem ganzen Trotz und mit seiner ganzen Phantasie hatte er Agnete nun seit Monaten geliebt, und nun verknüpfte der zärtliche und fleißige Briefwechsel, in dem sie ihm rückhaltslos ihr innerstes Wesen offenbarte, ihn noch inniger mit ihr Stundenlang konnte er draußen am Bachesrand oder auf dem schattigen Weideplatz liegen und wieder und wieder diese süßen Briefe lesen, die unbewußt sehnsuchtsvoll, hinreißend, kühn und leidenschaftlich, wie Agnete es war, und dabei doch so unschuldig altklug und mädchenhaft bescheiden, ihn fortwährend an Mamsell Fikens zierlichen Ausspruch: »mit Hochachtung und Zuneigung verbleibe ich,« erinnerten.

Agnete machte sich natürlich jeden Tag die schrecklichsten Vorwürfe über ihre »Hochverräterei« gegen die Mama und ihre Falschheit gegenüber Tante Fagerhjelm und Susen. Aber wenn sie den ganzen Nachmittag in der Fliederlaube des Kriegsrats gestickt und dabei durch die Zweige hindurch nach den Offiziersaspiranten ihrer Cousine geblickt hatte, während Tante Netten mit unermüdlicher Gefühlsschwärmerei aus Madame Collins »Mathilde« vorlas und sich nachher noch in allerhand Betrachtungen über die schönen »Gefühle« des Mittelalters verlor, dann mußte Agnete, und hätte es ihr Leben gegolten, am Abend noch zur Kuchen-Ulla hinübergehen und fragen, ob nicht »irgend eine Nachricht von zu Hause« da sei … Briefe an die »wohlgeborene und tugendsame Jungfrau Agnete Skytte« wurden nämlich, in ein Papier eingeschlagen, an eine Verwandte von Mamsell Fiken, die Base Ulla, gesandt, die eine bescheidene Kuchenbäckerei in derselben Straße neben dem Kriegsrat hatte. Auf diese Weise entging der umfangreiche und fleißige Briefwechsel Agnetes der Aufmerksamkeit ihrer Verwandten.

Aber weder Susen, noch Tante Netten konnten begreifen, warum Agnete oftmals bei den rührendsten Stellen in »Mathilde« plötzlich den Kopf sinken ließ und mit großen, wie geistesabwesenden Augen vor sich hinstarrte, bis sie sie plötzlich mit einem Lächeln schloß, mit einem so zärtlichen und glückseligen Lächeln, wie die alte Madame Collin in ihrem ganzen Leben gewiß nie eines hervorgerufen hatte.

»Agnete!« rief dann Susen und kitzelte sie mit ihrer Häkelnadel im Nacken. »Was hast du nur wieder?«

Aber Tante Netten blickte sie einen Augenblick über ihre runden Brillengläser an und wendete bedächtig das Blatt mit der Nadel um.

» C'est la, chaleur!« sagte sie zerstreut, indem ihr das Französische aus der »Mathilde« noch in den Ohren klang. Dann aber, Agnete näher betrachtend, die plötzlich errötete und wieder aus Tod und Leben zu sticken anfing, fügte sie wohlwollend und mit schalkhaftem Lächeln verständnisinnig hinzu: » La chaleur de la jeunesse!«



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