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14. Eine Marskatastrophe

»Halloh! Das ist ein bedenkliches Zeichen!« rief Flitmore.

»Was mag da los sein?« fragte Mietje besorgt.

»Jedenfalls gilt es, schleunigst umzukehren«, mahnte der Kapitän.

Heinz faßte den Marsiten bei der Hand und wies ihm das in der Ferne hoch aufragende Weltschiff, ihm bedeutend, er möge mit ihnen flüchten.

Der Mann aber schüttelte bloß traurig das Haupt und schwenkte die Hand gegen den Sumpf hinab. Da war nichts zu machen: dort lagen alle seine Lieben, bei ihnen wollte er sein Grab finden!

Flitmore unterließ nicht, den letzten Zeugen einer ausgestorbenen Menschenwelt zu photographieren; dann schieden unsre Freunde bedauernd von dem Greise und beeilten sich, die Sannah wieder zu erreichen; denn der Ton der Sirene hatte ihnen verkündigt, daß dort etwas nicht in Richtigkeit sein mußte.

Am Waldsaum machten sie Halt, um von den mitgenommenen Vorräten ein kurzes Mahl zu halten; denn der Hunger hatte sich mächtig eingestellt und Münchhausen hatte erklärt, mit leerem Magen komme er keinen Schritt weiter, nachdem er heute nacht so gründlich angezapft worden sei.

Bobs, der Schimpanse, pflückte sich die goldgelben pyramidenförmigen Früchte der Bäume am Waldrand und verzehrte sie mit so sichtlichem Behagen, daß der Kapitän sich nicht enthalten konnte, auch davon zu kosten. Er fand sie von solch köstlichem Wohlgeschmack, daß auch die Übrigen zugriffen und einen großen Vorrat davon mitnahmen.

In zwanzig Minuten war das Wäldchen durchschritten, da man sich nicht wieder durch seine Merkwürdigkeiten aufhalten ließ.

Als John die Heimkehrenden aus dem Walde heraustreten sah, kletterte er rasch an der Sannah hernieder und ging ihnen entgegen.

»Was ist's? Was gibt's?« rief ihm Heinz von ferne zu. »Ist etwas passiert, sahst du eine Gefahr nahen, daß du das Notsignal gabst?«

»Oh, meine Herren!« rief Rieger, der keuchend dahertrabte: »Die Sannah ist sozusagen heil und wohlbehalten, indem ihr nichts passiert ist; aber es ist ein schreckliches Wunder geschehen, was ich von weitem erblickt habe, und das ich befürchten mußte, wenn es in der Nähe sich ähnlich ereignen dürfte, es nicht zum wenigsten unser Weltende herbeizuführen vermöglich wäre.«

»Was sahst du denn so Entsetzliches?« forschte der Lord seelenruhig.

»Dort, weit dort drüben ist ein ganzer Bergzug sozusagen im Boden verschwunden und dann ist ein andrer aus der Tiefe heraufgestiegen und das Wasser und Gewürm floß an ihm herab.«

»Das scheint ein Erdbeben gewesen zu sein!« meinte Schultze.

»Merkwürdig, daß wir nichts davon spürten«, warf Münchhausen ein.

»Oh, die Sannah hat nicht unbeträchtlich gewackelt«, erklärte der Diener.

»Wenn die Wellenbewegung des Bebens sich senkrecht gegen diese parallelen Hügelzüge richtete, so ist es nicht auffallend, daß sie bald so abgeschwächt wurde, daß sie uns nicht mehr erreichte«, erläuterte der Professor. »Überhaupt zeigen Erdstöße oft eine auffallend scharfe Abgrenzung: ein Tal, ein Flußbett gebietet ihnen häufig Halt. Es kommt vor, daß eine Stadt auf der einen Seite eines Flusses einstürzt, während man im jenseitigen Stadtteil die Erschütterung kaum spürt.«

»Mag sein! Aber ich stimme dafür, daß wir den Mars schleunigst verlassen, der bei Tag so unheimlich und gefährlich zu sein scheint, wie bei Nacht.«

Dieser Meinung des Kapitäns wurde kein Widerspruch entgegengesetzt; aber mit der schleunigen Abreise hatte es noch gute oder besser »schlimme« Wege.

So weit das Auge sah, schien plötzlich die ganze Wasseroberfläche in Bewegung geraten zu sein. In der Luft dröhnte und donnerte es, der Erdboden krachte, eine rötliche Staubwolke erfüllte die Luft, so daß eine Zeitlang nichts mehr zu erkennen war; dann fegte ein plötzlich daherbrausender Orkan die Wolke hinweg; doch schien sie nur in die oberen Luftschichten getrieben worden zu sein; denn eine blutig-fahle Dämmerung lagerte über dem Grunde.

Ein Schrei des Entsetzens entrang sich unwillkürlich aller Lippen; nur Flitmore blieb stumm und anscheinend ruhig.

Dann standen die Erschreckten wie erstarrt.

Bobs, der Affe, allein sprang in rasenden Sätzen der Sannah zu, die er erreichte und an der er zu seinem Kameraden Dick emporklomm.

Unsre Freunde aber sahen gewaltige Wogen auf sich zukommen.

Anfangs glaubten sie, es seien richtige Wasserwellen, das Meer sei seinem Bette entstiegen, sie zu verschlingen.

Bald aber erkannten sie, daß das Land selber mit seinem leichten weichen Erdboden diese Wellen warf: Hügel verschwanden und neue Hügelketten tauchten auf, um wieder zu versinken und sich wieder zu erheben.

Und mit unheimlicher Geschwindigkeit nahten diese Erdwogen. An ein Erreichen des Weltschiffs, das noch zweihundert Meter entfernt war, war nicht mehr zu denken.

Der Boden wankte unter den Füßen der Schreckgelähmten.

Jetzt ein heftiger Stoß, der alle durcheinander warf; die Erde versank zu ihren Füßen: sie lagen in der Tiefe; aber der Grund hob sich wieder und sie mit ihm. Nur Münchhausens rundliche Masse kollerte alsbald wieder von der Höhe hinab: sein kugelförmiger Körper fand nirgends Halt und blieb in beständiger rollender Bewegung.

Noch mehrmals wurden die Daliegenden hilflos gehoben und gesenkt von der Wellenbewegung der Erde; dann wurde die Erschütterung schwächer und sie fanden sich in einer breiten Mulde liegend.

»Hinauf, hinauf!« rief Flitmore, der sich zuerst emporraffte und Mietje beim Arm faßte, sie mit Hünenkraft den steilen Abhang emporschleifend.

Es war die höchste Zeit! Brausend kam es die Mulde herauf: ein Strom von Schlamm, ein dichtes Pflanzengewirr und eine wimmelnde Masse von zappelnden Würmern mit sich führend.

Wer von dieser Woge erreicht wurde, der war verloren: aus diesem Chaos hätte keiner mehr seine Glieder zu befreien vermocht.

Mit knapper Not entkam der Professor der zähen Flut, die sich heranwälzte, als er kaum auf halber Höhe des Abhangs angelangt war. Von dem aufspritzenden Schlamm wurde er über und über bedeckt.

Heinz und John, unmittelbar vor ihm, reichten ihm hilfreich die Hand. Der Lord und Mietje befanden sich schon oben in vorläufiger Sicherheit.

»Wo ist der Kapitän?« rief Flitmore, das Brausen im Grunde überschreiend.

»Da liegt er gottlob!« schallte Heinzens Stimme.

Ja, da lag er zu oberst auf der Bodenwelle. Bei der letzten Wellenbewegung war es seinen verzweifelten Anstrengungen geglückt, sich an einem kleinen Erdhügel festzukrallen und so war er zu guter Letzt emporgehoben worden, ohne wieder herabzurollen. Sonst wäre der Unselige unbedingt verloren gewesen; denn aus dem Grunde der Mulde hätte er sich nicht so rasch emporarbeiten können wie die andern und da entschieden Sekunden über Leben und Tod.

Da lag er nun und bot wiederum einen Anblick, der unter minder grauenhaften Umständen die größte Heiterkeit entfesselt hätte; denn es sah zu gelungen aus, wie er noch krampfhaft, beinahe zärtlich das rettende Erdhügelchen umarmt hielt, als wolle er es nicht wieder von sich lassen.

Endlich brachte ihn der Zuspruch und die tätliche Hilfe von Flitmore und Heinz wieder auf die Beine, wobei John ihn mit kräftigen Armen von hinten im Gleichgewicht hielt.

Aber nun war für alle guter Rat teuer: dort drüben ragte die Sannah aus dem Sumpf, in den sie versenkt worden war. Gähnend öffnete sich die Türe hart über dem Sumpfspiegel, auf dem die Strickleiter von Morast überzogen schwamm.

Ein Glück, daß die Öffnung nicht tiefer zu liegen gekommen war, sonst wäre der Schlamm ins Innere geflutet und keine Aussicht mehr gewesen, überhaupt in das Fahrzeug zu gelangen.

Allerdings schien auch so keine Möglichkeit hiezu vorhanden, so einladend das Tor herübergähnte: ein Sumpfarm von dreißig Meter Breite trennte die Gesellschaft von der Sannah und das war ein unüberwindliches Hindernis.

»Wenn wir nur die Strickleiter herüberziehen könnten!« meinte Flitmore nachdenklich; »sie ist fünfzig Meter lang, und wir brauchen sie nur straff anzuspannen, um hinüberturnen zu können.«

Alle strengten nun ihre Gehirnkraft an, um ein Mittel zu ersinnen, dieses Ziel zu erreichen.

»Wenn die Affen so gescheit wären«, seufzte Mietje nach langem Stillschweigen: »die könnten uns das Ende der Leiter wohl herüberschaffen: die Schlammasse ist dick genug und soviele Wurzeln und verwirrte Pflanzen ragen daraus hervor, daß die Schimpansen bei ihrem geringen Körpergewicht kaum darin versinken würden.«

»Ja! Wenn … wenn …!« erwiderte der Lord: »Aber wie willst du ihnen das begreiflich machen? Marsmenschen sind sie noch lange nicht.«

Immerhin pfiff er den Affen, ohne sich darüber klar zu sein, was es helfen könne, wenn sie herkämen.

Die Schimpansen hatten stets mit Neugier herübergeblickt; es schien ihnen offenbar nicht in der Ordnung, daß sie von ihren Herren völlig getrennt waren.

Als nun Flitmores wohlbekannter Pfiff erscholl, dem sie zu folgen gewohnt waren, kletterten sie an den Rampen herab bis zum Sumpfspiegel. Hier aber machten sie unschlüssig Halt: der Boden schien ihnen verdächtig.

Nochmals pfiff der Lord.

Nun wagte sich Bobs auf die trügerische Fläche. Er hielt sich mit einer Hand an der Strickleiter fest und versuchte die ragenden Wurzeln und Pflanzen als Brücke zu benutzen; dabei schleppte er die Strickleiter bis zum halben Weg mit sich; da er aber eine Mittelsprosse und nicht das Ende erfaßt hatte, war nun die Strickleiter straff gespannt und er konnte nicht weiter, ohne sie loszulassen.

Ein dritter Pfiff Flitmores hatte nur zur Folge, daß er los ließ und nun vollends frei herüberturnte, was ihm bei seiner Gewandtheit auch gelang.

Inzwischen nahte sich auch Dick, der nun an der Strickleiter eine Brücke bis zur Mitte des Sumpfes fand. Hier verließ auch er sie und kam vollends glücklich ans Ufer.

»Nur fünfzehn Meter!« seufzte der Kapitän.

»Wollen Sie's riskieren?« höhnte Schultze: »Untergehen werden Sie ja wohl kaum.«

»Das nicht«, lachte Münchhausen gutmütig, »aber bis zur Mitte meiner Konstitution einsinken, das ist sicher. Was könnte es Ihnen helfen, wenn ich als lebendige Kugelboje im Morast schwämme?«

»Ich muß hinüber, ich bin die Leichteste«, sagte Mietje in plötzlichem Entschluß.

»Du?« rief ihr Gatte mit einem Ton der Besorgnis in der Stimme.

»Ja, ich! Irgendwie müssen wir aus dieser Notlage herauskommen, und das ist nicht möglich, wenn nicht jemand das Wagnis unternimmt. Das geringste Körpergewicht gibt die beste Aussicht auf das Gelingen und somit bin ich die Geeignetste dazu; denn sinke ich unter, so würde das jedem von euch um so sicherer widerfahren.«

»Nein, nein! Dieses heldenmütige Opfer können wir nie und nimmer annehmen«, widersprach der Kapitän.

»Doch, doch! Bobs wird mich führen, und so gescheit und treu ist er schon, daß er mich hält, wenn er mich sinken sieht.«

»Wir müssen dich anseilen«, sagte Flitmore, der einsah, daß etwas gewagt werden mußte und daß seine mutige Gattin allerdings am ehesten Aussicht hatte, den Sumpf ohne ernsten Unfall beschreiten zu können.

»Gut«, sagte Mietje, »so bitte ich die Herren einen Augenblick wegzusehen.«

Sie trug unter dem Kleide einen Unterrock aus starker Leinwand. Dieses entbehrlichen Kleidungsstücks entledigte sie sich rasch und schnitt es in Streifen mit der Schere, die sie als praktische Hausfrau in einem handlichen Nähetui stets bei sich trug.

Die aneinandergeknüpften Streifen gaben ein Seil, das stark genug war, sie im Notfall ans Ufer zurückzuziehen.

Nun ergriff die junge Heldin Bobs Arm und schob den Schimpansen voran auf den Morast.

Der Affe zeigte sich verständig und lenksam und schritt gewandt aus, die haltbarsten Unterlagen geschickt auswählend.

Mietje, die sich des besseren Haltes wegen ihrer Schuhe und Strümpfe entledigt hatte, konnte sich nicht wie der Schimpanse mit den Füßen an den schwankenden Wurzeln und Ranken anklammern: um so fester klammerte sie sich am Arme ihres Beschützers fest, während die Männer am Ufer das Seil straff hielten, das ihr unter den Schultern festgebunden worden war.

Es war übrigens ein kurioses Schauspiel, die zarte Lady am Arme des Affen dahinschreiten zu sehen; doch richtete sich die Aufmerksamkeit der am Ufer Stehenden lediglich auf ihre Tritte. Oft erbebten sie, wenn sie sahen, daß ihr Fuß einsank; aber die Dame war so behende, daß sie jedesmal schon den andern Fuß auf irgendeinen festeren Punkt gesetzt hatte und ihr Körpergewicht rasch auf diesen verlegte, ehe der eine Fuß nur Zeit fand, tiefer einzusinken.

Ein langsames, zögerndes Ausschreiten wäre ihr Verderben gewesen; durch dieses flinke Vorwärtshüpfen, das Bobs kaum gewandter zuwege brachte, gelang es ihr, auch sehr zweifelhafte Stützpunkte im Fluge zu benutzen, sie nur als flüchtiges Sprungbrett für den nächsten Schritt verwertend.

»Bei allen Feen und Elfen!« konnte der Kapitän sich nicht enthalten, bewundernd auszurufen: »Lord, ich glaube, Ihre Gattin würde mit ebensolcher Eleganz über das Meer hinweghüpfen: bis ein Fuß einsinken will, ist er schon ganz wo anders.«

»Nicht wahr, da staunen Sie, stattlicher Hugo«, spöttelte Schultze: »Sie möchte ich an Stelle der Lady sehen, wie leichtfüßig Sie durch den Morast stapfen würden. Daß Sie ja hüpfen können, trotz einem Ballettmädel, haben Sie uns heut nacht bewiesen, edler Würmlizertreter.«

Jetzt atmeten alle auf; Mietje hatte die Strickleiter erreicht und zog das in den Sumpf gezogene Ende aus dem Schlamm; aber der hierdurch veranlaßte Aufenthalt auf dem unsicheren Boden sollte ihr verhängnisvoll werden.

Sie stand auf einem dünnen Gewirr verflochtener Lianen und Wurzeln, das alsbald zu sinken begann, wie sie sich bückte und mühsam die Strickleiter aus dem Sumpf zog: eine schwere Arbeit, da Pflanzen und – o Graus! auch dicke Würmer an den Sprossen hingen.

Die Männer am Ufer zogen sofort das Seil an, als sie Mietje sinken sahen; diese aber rief ihnen ein energisches: »Halt, halt!« zu.

Es wäre eine schlimme Sache für die arme junge Frau gewesen, am Strick durch diesen Morast mit all seinem Wirrwarr geschleift zu werden, und sie wäre sicher in bös zerfetztem und zerschundenem Zustand drüben angekommen. Daran dachte sie jedoch nicht: es war ihr lediglich darum zu tun, so nahe am Ziel den Erfolg ihres gefährlichen Unternehmens nicht in Frage zu stellen.

Bangend sahen ihr die Männer am Ufer zu, bereit, sofort das Seil anzuziehen, sobald Mietje in dringende Lebensgefahr geriete. Sie stak schon bis zu halbem Leibe im Schlamm, als sie endlich die Strickleiter so weit emporgezogen hatte, daß sie bis ans Ufer reichen konnte.

Aber was war das? Sie band ja das Seil los, das ihr den letzten Halt geben sollte.

»Mietje, was tust du? Was fällt dir ein?!« rief Flitmore mit unverkennbarem Schrecken.

»Das Gescheiteste!« rief die Lady zurück.

Sie band rasch das Ende des Stricks an einer Sprosse fest und schrie dann hinüber: »Jetzt, schnell! Zieht kräftig an.«

Mit fieberhafter Eile ließen die Männer das Seil durch ihre Hände gleiten, bis die Strickleiter sich straffte: sie reichte nun gerade bis ans Ufer.

Inzwischen war Mietje bis an den Hals im Schlamm versunken, hielt sich aber mit emporgestreckten Armen an einer Sprosse fest.

Als nun die Männer die Leiter zu fassen bekamen und aus allen Kräften anzogen, wurde die aufopfernde Heldin wieder soweit emporgezogen, daß sie nur noch bis zur Brust im Moraste stak.

Dieses Straffen der Strickleiter war ein schweres Stück Arbeit gewesen!

Nun wurde das Ende der Leiter so fest als möglich an einem starken Busch angebunden. Zu aller Vorsicht mußte Münchhausen es noch mit seinem ganzen Körpergewicht beschweren und der Professor sich bereithalten, im Notfall auch noch zuzugreifen; denn nun turnten der Lord und sein Diener, sowie Heinz gleichzeitig auf der unsicheren Brücke über den Sumpf, galt es doch, Mietje aus ihrer schrecklichen Lage zu befreien.

Schrecklich war ihre Lage in der Tat: sie konnte kaum noch festhalten; ihre ermüdeten Arme waren schmerzhaft gespannt und die sich krampfenden Finger wollten sich in einem fort loslösen. Ein Glück war es, daß sie nicht frei in der Luft hing, sonst hätten ihre Kräfte unbedingt versagt, ehe Hilfe kam. Der zähe Brei, in dem sie steckte, minderte doch einigermaßen das Körpergewicht, das an ihren Armen hing und ihr die Hände aus den Gelenken zu reißen drohte.

Aber sie fühlte, wie trotz der äußersten Anspannung ihrer Willens- und Muskelkraft alle Energie sie verließ: tausend Arme schienen sie in den Sumpf zu ziehen, immer lockender wurde die Versuchung, loszulassen und sich nicht weiter der schrecklichen Marter auszusetzen, die alle Todesfurcht einschläferte, so daß Sinken, Ersticken, Einschlafen ihr als Erlösung erschien.

Bei alledem gab sie keinen Laut von sich; aber das Blut hämmerte in ihren Schläfen, es wurde schwarz um sie her, ihre Finger lösten sich: das war das Ende!

Dies war ihr letzter dunkler, aber gar nicht schreckhafter Gedanke; dann hatte sie das Bewußtsein verloren.

Aber in dem Augenblick, da sie mit schwindendem Bewußtsein die Sprosse ausließ, hatte Flitmore sie erreicht und ihre Handgelenke mit eiserner Gewalt umklammert.

Hinter ihm krochen auch schon Heinz und John heran; denn nur kriechend konnte man sich auf der schwankenden Brücke fortbewegen.

»Ich halte sie«, keuchte der Lord; »jetzt sehet zu, wie wir sie heraufbringen.«

Das war keine einfache noch leichte Aufgabe!

Heinz, der ein äußerst gewandter Turner war, hakte seine Füße in der Strickleiter ein und ließ sich, den Kopf nach unten, hinab, während er in den Knien hing.

Dann faßte er die Lady mit beiden Händen um die Taille und hob sie mit unsäglicher Anstrengung aus dem Schlamm.

»Ich habe sie!« stöhnte er endlich: »Sie können loslassen, Lord.«

Flitmore ließ die Handgelenke los, die er zwischen zwei Sprossen durch ergriffen hatte; denn durch den engen Zwischenraum konnte er selbstverständlich seine Gattin nicht emporziehen.

Schnell flocht er seine Beine zwischen Sprossen und Stricken fest und wies John an, ein Gleiches zu tun.

Jetzt beugten beide den Oberkörper auf der gleichen Seite hinab und faßten Mietjes leblosen Körper unter den Armen. Es war höchste Zeit; denn Heinz hätte ihn in seiner schwierigen Lage keine Minute mehr halten können.

Flitmore und Rieger zogen nun die Ohnmächtige auf die Strickleiter, wo sie dieselbe zunächst ausstreckten, um frische Kräfte zu schöpfen.

Inzwischen hatte auch Heinz sich wieder heraufgeschwungen.

Jetzt konnte die Lady, wenn auch nicht ohne Schwierigkeit, vollends zur Sannah verbracht werden, wo es Flitmores Bemühungen bald gelang, sie wieder zum Bewußtsein zu bringen.

Nun durften auch Schultze und Münchhausen die Reise antreten.

Der Kapitän bewegte sich voran, der Professor schob nach.

Ersterer hatte es schwer; denn seine runde Wölbung machte ihm das Kriechen auf der schmalen Leiter beinahe unmöglich.

Es war ein köstlicher Anblick, diese Körpermasse sich langsam und schwerfällig auf dem schwankenden Stege vorschieben zu sehen.

Auf der Mitte angelangt, erklärte der Kapitän mit lauter, aber höchst kläglicher Stimme: »'s ist aus! Ich bin am Ende meiner Kräfte. Hier bleibe ich und wenn ich hier übernachten muß und in den Sumpf kollere.«

»Machen Sie keine schlechten Witze, Kapitän«, mahnte Schultze von hinten: »Ich schiebe Sie ja aus allen Kräften.«

»Ach, was richten Sie aus? Das ist, als ob eine Mücke einen Elefanten schieben wollte! Ich sage Ihnen, ich bin schachmatt.«

»Sie freuen mich, Allerwertester! Was soll denn aus mir werden? Soll ich etwa über Sie hinwegturnen? Im Bergkraxeln bin ich ganz und gar nicht bewandert und zum mindesten müßte ich einen Alpenstock haben, wollte ich es wagen, diese gefährliche Kletterpartie zu unternehmen.«

»Ha! Gefühlloser Schurke! Bin ich aus Granitquadern gebaut? Bin ich ein rauher Felsblock, daß Sie die Eisenspitze eines Gebirgsstockes in meine Flanken bohren wollen? Das lassen Sie sich beikommen und wie eine Lawine rolle ich mit Ihnen ins Verderben!«

»Nee! Ein rauher Felsbrocken sind Sie nicht«, lachte der Professor belustigt: »Rauh sind Sie nur innerlich, oller Seebär; außen sind Sie nur allzuglatt und wohlgerundet, das ist ja gerade das Fatale; ein Absturz wäre mir sicher, wollte ich die Kletterei unternehmen. Also, voran!«

»Keinen Schritt mehr!«

»Aber ich kann doch nicht hier übernachten.«

»So kehren Sie um.«

»Was? So nahe dem rettenden Hafen soll ich umkehren und mich in der Nacht mit den blutdürstigen Würmern herumbalgen? Vorwärts, vorwärts! Es dämmert schon.«

Flitmore hatte inzwischen John gesandt, der nun den Kapitän erreichte und anseilte.

So, gezogen und geschoben, gelangte er endlich in die Sannah zur großen Erleichterung des Professors, der sich nun auch geborgen sah.

Alle Anstrengungen, die Strickleiter vom Busch loszureißen, um sie in das Weltschiff zu ziehen, waren vergeblich.

»Lassen wir sie zurück«, erklärte der Lord, »ich habe ja noch andre.«

»Nein!« widersprach Heinz: »Die Brücke, die uns das Leben rettete und um die Lady Flitmore ihr Leben wagte, an der sie so heldenmütig die gräßlichsten Folterqualen ertrug, darf nicht im Stiche gelassen werden: ich mache sie los!«

Flitmore schüttelte den Kopf: »Und Sie? Sie werden es schwer haben auf der losen Leiter zurückzukehren.«

»Lassen Sie mich machen, es wird alles gut gehen!«

Wirklich kletterte Heinz zurück.

Er schnitt ein Stück des leinenen Seiles ab, band es an den Teil des Seiles, der die Leiter mit dem Busch verband und glimmte es an. Dann kletterte er rasch zurück und erreichte auch wirklich die Sannah, ehe die weiterglosende Lunte das Seil angesteckt und durchgebrannt hatte.

Sobald letzteres der Fall war, ließ sich die Strickleiter leicht einziehen.

Nun waren alle im Weltschiff wieder beieinander; Bobs hatte sich schon dorthin gemacht, als Mietje ihn losließ, um die Strickleiter aus dem Moraste zu ziehen. Dick war über die Brücke als Erster geturnt, sobald sie hergestellt worden war.

Inzwischen war es Nacht geworden; beide Marsmonde leuchteten am Himmel: Phobos, der bei einer Umlaufszeit von nur 7½ Stunden manchmal in einer Nacht zweimal erscheint, und Deimos, der dem Mars nicht jede Nacht aufglänzt, da er 30¼ Stunde Umlaufszeit hat. Beide sind dem Planeten sehr nahe, woraus sich ihre überaus kurze Umlaufszeit erklärt.

Flitmore schloß die Türe und ließ den Zentrifugalstrom durch das Weltschiff strömen.

Die Sannah erhob sich mit wachsender Geschwindigkeit, und, wie unsre Freunde sahen, gerade zu rechter Zeit; denn unter ihnen geriet das monderhellte Land auf einmal wieder in Bewegung. Ein besonders heftiger Erdstoß mußte es erschüttert haben; denn plötzlich kam von ferneher eine haushohe dunkle Woge: das Meer brauste heran und verschlang das schwankende Land, so weit man sehen konnte, und mit ihm auch zweifellos den letzten Bewohner des Mars.


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