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2. Sannah, das Weltschiff

Eine Woche später landeten Schultze, Münchhausen und Heinz Friedung in Brighton und fuhren dann mit der Bahn nach Lord Flitmores Besitzung, die sich in der Grafschaft Sussex befand.

Ein prächtiges altes Schloß, von einem ausgedehnten Park umgeben, an den Felder, Wiesen und Waldungen stießen – ein ganzes kleines Königreich – wurde den Ankömmlingen als des Lords Residenz bezeichnet.

Von weitem schon konnte man über die Baumwipfel eine Riesenkugel emporragen sehen, die im Sonnenschein glitzerte.

»Das ist des Lords Weltschiff!« rief Heinz Friedung.

Schultze schüttelte den Kopf: »Dies Fahrzeug muß ein fabelhaftes Gewicht haben«, meinte er: »Wie sich Flitmore damit in die Luft erheben will oder gar über die Atmosphäre, ist mir rein unerfindlich.«

Der Kapitän aber entgegnete: »Brauchen Sie auch nicht zu erfinden, Professor! Seien Sie getrost, das Genie unsres englischen Freundes hat zweifellos die Aufgabe gelöst, sonst hätte er uns nicht zur Fahrt eingeladen.«

Lord Flitmore hatte die Gäste um diese Stunde erwartet und kam ihnen mit seiner jugendlichen Frau bis an das Parktor entgegen.

Er war ein hochgewachsener Mann mit rötlichem Backenbart. Eine ernste Würde verlieh ihm etwas Steifes, echt Englisches; doch das war nur äußerlich: obgleich er nicht viel Worte machte und seine Begrüßung ziemlich trocken klang, merkte man doch die warme Herzlichkeit und die aufrichtige Freude heraus.

Mietje, seine Gattin, eine geborene Burin aus Südafrika, gab sich keinerlei Mühe, ihre Gefühle hinter gemessener Würde zu verbergen: sie kam den Freunden mit strahlendem Lächeln entgegen und schüttelte allen kräftig die Hand.

Schultze und Münchhausen waren alte Bekannte des Lords von Afrika her; an Heinz wandte sich der Engländer mit den Worten:

»Sie, Herr Friedung, sind mir auch schon lange bekannt und wert, wenn ich Sie auch persönlich noch nie traf; haben Sie doch in den Schilderungen der australischen Reise meiner Freunde stets eine hervorragende und sympathische Rolle gespielt.«

Für die Ankömmlinge war ein wahres Festmahl gerichtet und sie wurden fürstlich bewirtet; dann gab es noch gar vieles zu berichten über ihre Erlebnisse und Arbeiten in der Zeit, da sie den Lord nicht mehr gesehen. Punkt zehn Uhr jedoch hielt Flitmore seine häusliche Abendandacht, worauf sich alles zur Ruhe begab.

Am andern Morgen nach dem Frühstück führte der Lord seine Gäste auf die weite Wiese, auf der die gewaltige Kugel ruhte, die schon bei ihrer Ankunft das Erstaunen unsrer Freunde geweckt hatte.

»Das also ist Ihr Luftschiff?« bemerkte der Professor, als sie bewundernd an der mächtigen Sphäre hinaufblickten.

»Weltschiff«, verbesserte Flitmore: »Ein Luftschiff ist an die Atmosphäre gefesselt, wir aber wollen mit diesem Fahrzeug den Luftraum verlassen, wenigstens die Lufthülle, die unsern Erdball umgibt; darum können wir füglich von einem ›Luftschiff‹ nicht mehr reden: Die ganze Welt, der unendliche Raum steht diesem Vehikel offen.«

»Sie haben recht«, gab Schultze zu. »Also ›Weltschiff‹.«

Der Engländer aber fuhr fort:

»Ich habe übrigens meiner Kugel einen eigenen Namen gegeben. Der schöne Gedanke, den Sie hatten, Herr Kapitän, als Sie Ihr Automobil ›Lore‹ tauften, hat mir eingeleuchtet, und so gab ich meiner Erfindung den Namen ›Sannah‹.«

»Zu Ehren Ihrer liebenswürdigen Schwägerin, der mutigen Gattin unsres Freundes Doktor Leusohn in Ostafrika?« fragte Schultze.

»Gewiß!« fiel Mietje ein: »Wir kamen beide sofort auf den Gedanken, den Namen meiner fernen Schwester für das Gefährt zu wählen, das uns auf einer Reise voll unbekannter Gefahren zur Heimat werden soll.«

»Freut mich!« rief Münchhausen: »Mit Sannah bin ich mit besonderer Vorliebe gereist, und ich bin überzeugt, diese neue Sannah wird ihrem Namen Ehre machen, uns Treue beweisen und die Reise so angenehm wie möglich gestalten.«

»Aus was für einem Stoff besteht eigentlich Ihr Weltschiff?« fragte nun Heinz Friedung: »Es glitzert ja wie Glimmer.«

»Diese schimmernde Hülle ist Flintglas«, erklärte Flitmore. »Wir müssen damit rechnen, daß wir auf unsrer Fahrt Temperaturen antreffen werden, die nicht nur unser Leben, sondern auch unser Fahrzeug vernichten könnten. Gegen die Kälte des Weltraums, die ich übrigens nicht für gar so schlimm halte, wie man meistens annimmt, schützt uns die elektrische Heizung.

Wir können aber auch durch Weltnebel und kosmische Staubwolken mit einer solchen Geschwindigkeit sausen, daß Sannah in Weißglut geriete, wie die Meteore, die in unsre Atmosphäre stürzen; das Gleiche wird ihr drohen, wenn wir uns der Sonne oder einem andern glühenden Weltkörper nähern. Ich habe daher die Hülle meines Weltschiffes genau so herstellen lassen, wie die Wandungen der feuerfestesten Kassenschränke und auch diese Hülle noch mit dem unverbrennlichen Flintglas überkleidet, so daß wir hoffen dürfen, ohne Schaden auch längere Zeit hindurch uns den höchsten Temperaturen aussetzen zu dürfen.«

»Aber die Fenster?« warf Schultze ein.

»Ich habe allerdings sechs große Fenster, die aus sehr dickem Glas bestehen und einen Ausblick nach allen Seiten gestatten. Unter jeder dieser Scheiben befindet sich ein mächtiges Fernrohr, da wir mit bloßem Auge meist nicht viel zu sehen bekämen. Sobald wir jedoch einer Hitze ausgesetzt würden, die meinen Fenstern gefährlich werden könnte, genügt der Druck auf einen Knopf im Innern des Schiffes, um im Augenblick sämtliche Fenster mit einem Schutzdeckel völlig dicht zu schließen, wie mit einem Augenlid.«

»Ungeheure Größenverhältnisse hat Ihr Weltschiff, das muß ich sagen!« bemerkte der Kapitän bewundernd.

»Eigentlich sind sie gering«, erwiderte der Engländer: »Ein Zeppelinsches Luftschiff zum Beispiel hat noch ganz andre Maße. Meine Kugel hat 45 Meter im Durchmesser; um den Mittelpunkt befindet sich ein Raum von 15 Metern in der Länge, Breite und Höhe, der somit 3375 Kubikmeter Rauminhalt hat. Hier sind die Reisevorräte verstaut in mehreren pyramidenförmigen Abteilungen mit der Spitze nach unten, das heißt nach dem Mittelpunkte zu.

Dieser Mittelraum bildet die Grundlage für die einzelnen Zimmer, die von ihm nach sechs Seiten hin ausstrahlen bis an die Hülle hin. Jedes dieser Zimmer, 5 Meter breit und etwa 3 Meter hoch, so daß sich allemal 5 solcher Säle übereinander befinden, deren äußerster als Wohn- und Beobachtungszimmer dient; leiterartige Treppen führen von einem Stockwerk zum andern. Die obersten Zimmer sind 15 Meter lang, die andern werden nach dem Zentrum zu etwas kürzer.

Abgesehen von den äußersten Gemächern, die sich unmittelbar unter der Wölbung der Kugelhülle befinden, bietet jede dieser dreißig Aufenthaltsgelegenheiten einen Raum von 200 bis 225, im ganzen etwas über 6000 Kubikmetern. Außer den Wohn- und Schlafzimmern habe ich hier Werkstätten eingerichtet: eine Schreinerei, eine Schmiede, ein chemisches Laboratorium; die übrigen Räume dienen abwechselnd zum Aufenthalt, wenn die verbrauchte Luft in den andern erneuert werden muß.

Die äußersten Kammern unter der Oberfläche sind durch besondere Gänge miteinander verbunden, die ich Meridiangänge benenne, weil sie gleichsam als innere Länge- und Breitengrade im Innern der Kugel verlaufen.«

»Auch außen haben Sie, scheint es, Meridiane angebracht«, bemerkte Münchhausen.

»Sie meinen die Rampen?« fragte der Lord: »Diese kleinen Geländer, die ich für bestimmte Zwecke für vorteilhaft hielt, strahlen allerdings auch von einem Punkte aus und kreuzen sich wieder im entgegengesetzten Punkte, stellen also füglich Längengrade dar.

Den sechs Sälen, die sich unmittelbar unter der äußeren Umhüllung der Kugel befinden, gab ich aus praktischen Gründen besondere Namen: zu oberst befindet sich das Zenitzimmer, zu unterst das Antipodenzimmer; in der Mitte, dem Äquator, wenn Sie wollen, zeigt sich vor uns das Nordpolzimmer, dem hinten das Südpolzimmer entspricht; rechts das Ostzimmer, links das Westzimmer. Wie Sie sehen, verfuhr ich etwas unwissenschaftlich mit diesen Benennungen, da ich Nordpol und Südpol auf den Äquator verlegte. Aber das ist ja alles bloß Übereinkommen: betrachten Sie die Linie, die vom Zenitzimmer über das Ost- und Antipodenzimmer zum Westzimmer läuft als Äquator, so stimmt die Sache wieder und wir haben zwei einander senkrecht schneidende Äquatorlinien, aus dem einfachen Grunde, weil meine Kugel nicht in Grade eingeteilt ist, aus der wir eine andere Bezeichnung für den Längsäquator hernehmen könnten und weil ich meine Rampenmeridiane vom Zenit- statt von einem Polzimmer ausgehen ließ.«

»Mit all den genannten Räumen aber«, warf Schultze ein, »ist der Raum Ihrer Kugel noch lange nicht ausgenützt.«

»Gewiß nicht! Mein Weltschiff hat einen Umfang von 141,3 Metern, eine Oberfläche von 6358,5 Quadratmetern und einen Inhalt von 47 688,75 Kubikmetern. Rechnen wir den Raum der 30 Zimmer, der Vorratskammern und der Meridiangänge ab, auf die zusammen etwa 10 000 Kubikmeter kommen, so verbleiben noch beinahe 38 000 Kubikmeter; von diesen werden etwa 30 000 durch die Stahlkammern ausgefüllt, die gepreßten Sauerstoff enthalten und ungefähr 8000 sind mit Ozon angefüllt; denn was wir vor allem brauchen, ist Luft, gesunde, stets erneuerte Luft.«

»Sie erwähnten vorhin die elektrische Heizung«, nahm der Kapitän wieder das Wort: »Ich darf wohl annehmen, daß auch Küche, Schmiedewerkstatt und chemisches Laboratorium nur auf elektrischem Wege geheizt werden, um jede Rauchentwicklung zu vermeiden.«

»Ganz richtig«, bestätigte Flitmore.

»Wie aber beschaffen Sie die elektrische Kraft?«

Der Lord lachte: »Sie kennen ja meine mächtigen Batterien von Afrika her, Kapitän. Aber ich gestehe ehrlich, die Hauptsache für die elektrische Speisung meiner Sannah verdanke ich Ihnen. Sie haben ja kein Geheimnis aus Ihrer wunderbaren Erfindung gemacht, dem ausgezeichneten Akkumulator, der Ihre Lore trieb. Nun, solche Akkumulatoren, System Münchhausen, nehme ich mehrere mit und erzeuge, wie Sie, die nötige Reibungselektrizität durch eine Maschine hauptsächlich mit Handbetrieb, so weit meine Batterien nicht dazu ausreichen sollten.«


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