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38. Zu Hause

Eine großartige Gesundheit war die Basis seiner Existenz; bis er gegen Siebzig an Zungenkrebs erkrankte, kannte er keine Krankheit. Kälte in allen Dingen des inneren und äußeren Lebens erhielten ihm einen idealen Zustand von Schlaf und Verdauung; Sinne, die immer fein und immer ruhig blieben; eine Existenz, der der Kopfschmerz fremd war. Sogar das Rauchen – zwanzig Zigarren am Tage – konnte Herz, Lunge oder Blutdruck nichts anhaben. Dieser Nervenarzt konnte die Hunderte von Beichten nervenkranker Menschen nur bei vollkommen gesundem Körper und völlig unbeteiligtem Herzen aushalten.

Ein anderes Mittel der Resistenz war sein diktatorisches System in Haus und Arbeit. Familie und Schüler waren ihm unterworfen und verblieben ihm gehorsam; in der Familie ist ihm dies ganz gelungen, unter den Schülern gab es Revolten. Wie sehr Freud zum Regieren geboren war, ist nach seiner Theorie aus seinen Träumen zu erweisen: in diesen identifiziert er sich nach seinen Berichten nie mit Darwin, Koch oder Pasteur, sondern mit Hannibal, Massena oder Cromwell.

Zwei Schüler, die sich in ihren Erinnerungen Hausfreunde über dreißig Jahre nennen, die mit Freuds Frau und Kindern vertraulich gelebt, ihren Meister ein Leben lang in der Nähe beobachtet haben, sichtlich vom Wunsch erfüllt, ihn sympathisch zu machen, erzählen in zwei Büchern nicht eine Szene, in der der Held ihrer Erzählung herzlich, heiter oder nur teilnehmend erscheint.

Doch! In den zwei Büchern ist eine Freundlichkeit des Meisters aufgezeichnet: daß er einmal seinen Schüler in Berlin besuchte und ihm einen kleinen Preis übergab, den er für ihn in einer wissenschaftlichen Gesellschaft durchgesetzt hatte. Sonst dringt kein herzlicher Laut durch diese trockene Stille. Wenn der Sohn Abschied nimmt, um in den Krieg zu ziehen, setzt Freud das dadurch unterbrochene Gespräch mit seinem Schüler sogleich an derselben Stelle fort.

Seine norddeutsche Frau war von diesem Autokraten richtig gewählt worden, denn sie scheint alles für ihn getan und nichts für sich gefordert zu haben. Mit ihr oder bald nach ihr kam aber ihre Schwester in sein Haus – beide waren Gouvernanten gewesen – und lebte mit ihnen gemeinsam, fünfzig Jahre. Sie war geistreicher, amüsanter und höher gewachsen als die kleine tüchtige Hausfrau. Was würde nicht Freud aus einer solchen Mitteilung bei der Analyse eines Patienten für Schlüsse ziehen!

Sein Biograph Sachs fügt die delphischen Worte an: »Die innersten und streng intimen Beziehungen zwischen den Bewohnern dieses Hauses sind mir nie enthüllt worden … und ich hatte keinen Wunsch, in ihre Geheimnisse zu dringen.« Das schreibt derselbe Mann, der mit schmutzigen Deutungen in Bismarcks Sexualleben einzudringen suchte. Die Freiheit der Analyse, die diese Schule für wehrlose historische Gestalten etabliert, wird zum Schutze des eigenen Clan sistiert. Mit dieser Privatrücksicht, die Freud und die Seinen sich sichern, wie früher Könige und große Herren auch nach Mitternacht ihre Masken aufbehielten, vergleiche man die geniale Sorglosigkeit, die die Konfessionen Goethes, Rousseaus, Leopardis oder Strindbergs beleben.

Freuds Ehefrau hat offenbar mit praktischer Einfachheit den Haustyrannen zu nehmen verstanden und ihm drei Söhne und drei Töchter geboren und erzogen. Freud erwähnt seine Frau in seinen Erinnerungen, nach damals vierzigjähriger Ehe, nur einmal: nämlich um zu zeigen, daß sie ihn einen frühen Ruhm gekostet hat. Er hatte im Laboratorium die Heilkraft der Coca-Pflanze entdeckt oder war dieser Eigenschaft auf der Spur. Als er auf dem Hof des Spitals einen Menschen in großen Schmerzen traf, führte er ihn in sein Studio und besänftigte ihn mit seiner neuen Lösung, einer Art Kokain. Ein junger Augenarzt, der dabeistand, ließ es sich zeigen, verfolgte – so schildert es Freud – mit Leidenschaft den neuen Weg und publizierte sehr rasch seine Arbeit über Kokain. In diesen Wochen war Freud fortgefahren, um seine Braut zu besuchen. Hätte er sie nicht besucht, so wäre er selbst der Erfinder gewesen, während der junge Koller dann weltberühmt wurde. Dieser Geschichte fügt Freud den Satz hinzu: »Ich aber habe die damalige Störung meiner Braut nicht nachgetragen.« Deshalb erzählt er sie.

Da er in dem altmodischen Hause für sich und seine Arbeit drei Zimmer brauchte, lebte er isoliert und ungestört, sah von seiner Familie kaum etwas außer bei den Mahlzeiten und wurde auch dort wie ein Patriarch behandelt, indem die Kinder einander mitteilten, »Vater trinkt jetzt seinen Kaffee aus einer grünen Tasse«. Im Sommer ging er nach der Gewohnheit der Wiener aufs Land und machte dort weite Fußtouren. Später lernte er auf ausgedehnten Reisen Italien und Griechenland kennen; es scheint, daß er meist allein reiste. Nach Art herrischer Naturen, die nur mit Widerstreben irgendeine abhängige Lage annehmen, kam er, wenn er reisen wollte, eine Stunde zu früh auf die Bahn.

Die Gewohnheit des Befehlens, die volle Unabhängigkeit seines in Zeit, Ort und Tätigkeit von ihm allein bestimmten Lebens erhielt er sich besonders dadurch, daß er nie ein Amt bekleidete. So sehr sein Ehrgeiz ihn in die Universität zog, so war Freud doch froh, daß er niemals Ordentlicher Professor wurde; als »Außerordentlicher« brauchte er den Sitzungen der Fakultät nicht beizuwohnen. Überhaupt erhielt ihn das Glück, immer allein zu sein, immer bestritten von den Legitimen, in einer imposanten Menschenfeindschaft.

Der Mann, der so viele Schicksale enträtseln sollte, hatte sein Leben lang keinen gleichberechtigten Freund, Sohn oder Mitarbeiter. Nur daß er einmal in der Woche Karten spielte, brachte ihn in einen harmlosen Ausgleich; sonst sahen ihn seine Schüler höchstens mit seinem Ringe spielen oder gelegentlich Patience legen. Was er zur Anregung um sich herum aufstellte, waren exotische Masken und Tierfratzen, die seiner Theorie von Totem und Tabu entsprachen, besonders ägyptische Tiergötter; auf dem Schreibtische stand lange Zeit die Statue eines Affen. Die einzige Blume, die Freud liebte und um sich hatte, war die Orchidee, an deren geschlechtlichem Anblick sich von jeher sexomane Maler oder Dichter erregt haben. Die Zigarre, wie er sie ununterbrochen zwischen den Lippen oder den Fingern hielt, hat er für das Abbild des Phallus erklärt.

Wie diese düsteren drei Zimmer ohne Licht den selbstgewählten Schauplatz seines Lebens boten, wie dieses Leben ohne Geselligkeit, ohne Sonne, und bis ins Alter auch ohne Tiere hinging, so blieb er gänzlich natur- und kunstfremd. Mit dem ganzen Stolz und Trotz, mit dem er alles verteidigte, was er besaß, und alles abtat, was ihm fehlte, erklärte er an zwei Stellen seine materialistische Welt, und beide Male begann er fast mit derselben hochmütigen Wendung:

»Ich muß leider bekennen, daß ich zu jenen unwürdigen Individuen gehöre, vor denen die Geister ihre Tätigkeit einstellen und das Übersinnliche entweicht, so daß ich nie in die Lage gekommen bin, selbst etwas zu Wunderglauben Anregendes zu erleben.« Ähnlich heißt es:

»Ich muß bemerken, daß ich kein Kunstkenner bin, sondern Laie. Ich habe oft bemerkt, daß mich der Inhalt eines Kunstwerkes stärker anzieht als dessen formale und technische Eigenschaften … Für viele Mittel und manche Wirkung der Kunst fehlt mir eigentlich das richtige Verständnis … In der Musik bin ich fast genußunfähig. Eine rationalistische und vielleicht analytische Anlage sträubt sich in mir dagegen, daß ich ergriffen sein und dabei nicht wissen soll, warum ich es bin und was mich ergreift.«

Mit einem solchen Wesen, in diesem Hause ohne Musen, ohne Leidenschaft, ohne Heiterkeit suchte Freud durch fünfzig Jahre die Seele der Menschen zu entdecken.


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