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16. Was ist neu?

Was ist neu in der Lehre der Psychoanalyse?

Von den Adepten hören wir Freud mit Sokrates und Moses verglichen. Stefan Zweig, der einzige Autor, der mit Geist und Hingabe für ihn geschrieben hat, nannte Freud den Entdecker der Seele. In seinem Essay zeigt er sich ganz als analytischer Adept. Wer beide Charaktere kennt, versteht, daß sie sich durch Kälte anzogen. Ein anderer von Freuds Schülern schreibt: »Freud hat als erster dem chaotischen Element in unserer Seele … einen Wohnsitz und einen Namen gegeben.« Danach gibt es also einen Grundriß der Seele, mit Stockwerken, Korridoren und Appartements, in denen eines das Chaos beherbergt.

Die Vernachlässigung der antiken und modernen Quellen, die alles vorher ausgesprochen hatten, ist besonders kennzeichnend für die Unbildung von Freuds Schülern. Von Heraklit haben sie nichts vernommen; sonst wüßten sie von seiner rein psychoanalytischen Medizin: »Heilmittel nannte er, was die Seelen entsühnt, da sie die Menschen von der Angst befreien und die Seelen von allem Unheil erlösen, das ihnen von Geburt aus mitgegeben wurde.«

Ein anderer Vorgänger Freuds, der zwar nicht in Wien, doch in Athen über den Traum schrieb, Aristoteles, führte die Träume ausdrücklich nicht auf die Götter, sondern auf die Dämonen zurück und nannte sie die Seelentätigkeit des Schlafenden. Da er aber ein Seher und Dichter war, fügte er einen wunderbaren Vergleich hinzu: Traumbilder werden wie die Bilder im Wasser durch die Bewegung verzerrt, und er schloß: »Der ist der beste Traumdeuter, der in dem verzerrten Bilde das Wahre zu erkennen vermag.« Ja er nahm die halbe Analyse vorweg, indem er schrieb: »Im Traume glaubt man durch ein Feuer zu gehen und heiß zu werden, wenn nur ein einziges Glied erwärmt wird.« Daran knüpft er die Mahnung an den Arzt, der er natürlich selber war, aus Träumen auf die ersten Veränderungen der Organe zu schließen. Ein genialer Einfall um das Jahr 400.

Aber da war ja auch Josef bei den Pharaonen! Wird Freud sich nicht in diesem Vorgänger spiegeln? Obwohl Josef in der Weltliteratur als der erfolgreichste Traumdeuter erscheint, schreibt Freud: scheitert Josef daran, daß er den Traum als ein Ganzes ansieht. Hierbei braucht es »einen witzigen Einfall, unvermittelte Intuition, und daran konnte die Traumdeutung mittels Symbolik sich zu einer Kunstübung erheben, die an eine besondere Begabung gebunden schien«. Hier ist Freud ganz nahe der Erklärung, warum er selber scheitert, und sieht es nicht. Er fordert eine besondere Begabung für eine eigene Kunst. Da sie ihm, dem Antikünstler, fehlt, bleibt er bei einer wissenschaftlichen Methode stehen, die nach seiner Meinung jeder erlernen könne. Es geht ihm wie Wagner, der, da ihm die Melodien weit seltener zuflossen als Mozart und Schubert, aus seinen Schwächen eine eigene Theorie aufbaute, um mit der »Unendlichen Melodie« die tödliche Langeweile zu beleben, die uns besonders später, im Nibelungen-Ringe, viertelstundenweise überfällt.

Auch Freud ist stolz auf seine Schwächen, führt wiederum vorsätzlich den »Laien« an, der »in seiner Inkonsequenz« an Deutungen glaubt, die von dunklen Ahnungen geleitet sind. »Mit der Voraussetzung, daß Träume deutbar sind, trete ich sofort in Widerspruch … mit allen Traumtheorien.«

Hier wird die Frage: wer ist eigentlich der Laie? noch interessanter als vorher. Der Hirte und Dichter Josef, ein Emigrant aus Palästina, der ohne Diplom Prophet und Staatsmann wurde? Aristoteles, ein athenischer Professor? Faust, ein Leipziger Magister und Doktor gar? Die Zigeunerin mit Karten und Handlinien? Die Mutter Gottes in Lourdes mit Heilwasser? Charcot, Nervenarzt an der Sorbonne? Oder Goethe mit dem magischen Spiegel, in dem er die Seelen erkannte?

Die Adepten erklären, bis zu Freud habe die Seelenkunde im Laboratorium gehaust, zwischen Lanzetten, Skalpell und Mikroskop. Nun hat aber die Literatur aller Zeiten und Völker das Unbewußte und seine Analyse verfolgt. Man wußte es längst, daß Musik und Dichtung aus diesem Urgrunde stammen und daß Gedanken sich erst allmählich aus dem Nebel lösen, in den sie später nur allzuoft zurücksinken. Wie also ist es möglich, fragt man, daß ein Autor von so eminenter Klugheit und Bildung wie Zweig dies alles für Freuds Entdeckungen erklärt?

Er ist von ihm geheilt worden. Sonst würde er sowohl die Voraussetzungen wie die Folgen leugnen; denn daß Freud für das Reich des Unbewußten ein System, Grammatik und Formulare aufgestellt hat, ist ja grade eine abschreckende Tat für Dichter, zum Beispiel für den Lyriker Zweig, der sich den unbekannten Mächten hingab.

Deshalb entsetzten sich ja alle echten Dichter vor der Psychoanalyse. Wer sich, ohne als Patient in Kur zu gehen, dazu bekennt, beweist schon damit, daß er kein Dichter ist. Keiner der Autoren unserer Zeit, die ich groß nenne, hat sich zu Freud bekannt: weder die Wiener Autoren, die dicht neben ihm lebten, noch die drei großen Lyriker George, Hofmannsthal und Dehmel, noch das Dutzend großer Engländer oder Franzosen. »Wer das Hohe eines Menschen nicht sehen will, blickt umso schärfer nach dem, was niedrig ist, und verrät sich selbst damit.« (Nietzsche.)

Als Freuds Schüler von einem echten Dichter, dem Schweizer Spitteler, den schönen Titel »Imago« für ihre Zeitschrift ausborgten, gab er natürlich sein Einverständnis kund, fügte aber hinzu, er wolle um Gottes willen nichts weiter davon hören. Bernhard Shaw schrieb, er habe sich immer für seine Träume interessiert, doch seit er Freud gelesen, seien sie ihm verleidet.

»Urbane Bürger« unter den Autoren, die immer der Natur entrückt und stets hoch anständig gelebt haben, werden von jenem Bekenntnis zu den »wilden, brutalen Urtrieben« aufgeregt. Wer nie die wilden Stämme studiert, wer nie in Afrika gejagt hat, wer nie seinen phantastischen Trieben in der Liebe, im Abenteuer gefolgt ist, wird erschüttert von den pedantischen Darstellungen der Urtriebe durch einen Nervenarzt, der inmitten all seiner Tierfratzen und Sexualträume als redlicher Bürger Achtzig wurde.

Nun ist aber überdies alles, was Freud über das Unbewußte im allgemeinen darbietet, von den Griechen bis zu Nietzsche viel großartiger dargeboten worden. Zu wiederholten Malen teilt uns Freud wie eine Entdeckung mit, das Geschlechtsleben diene durchaus nicht bloß der Fortpflanzung, sondern dem Lusttriebe. Er scheint die berühmte Stelle bei Schopenhauer nicht zu kennen, die vom Betruge der Natur spricht, dem Menschen durch Wollust die Erhaltung der Art abzulisten.

Und Nietzsche schreibt: »Platon meint, die Liebe zur Erkenntnis und Philosophie sei ein sublimierender Geschlechtstrieb.« Platon ist ja selbst ein Beispiel dafür.

Freud kennt auch nicht Nietzsches Erkenntnis, daß »Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen bis in den letzten Gipfel seines Geistes hinaufreichen«. Wenn er behauptet, er habe Nietzsche lange gemieden, eben weil er ähnliche Gedanken hatte, so wird er mit diesem größten Psychologen in einem Nebensatz fertig: »den wir als direkten Vorläufer der Psychoanalyse auch auf diesem Gebiet anerkennen müssen.« Etwa, wie wenn Brahms von Beethoven als seinem Vorläufer spräche.

Die banalsten Dinge werden, wenn sie der Meister mit Bedeutung vortrug, noch heut von den Schülern als geniale Entdeckung gefeiert, zum Beispiel Freuds »Drei Beiträge zur Theorie des Geschlechtes«. Wie lautet diese Entdeckung? Das Geschlecht kann nicht auf die Zeugung beschränkt werden, es besteht aus verschiedenen Impulsen, es entwickelt sich mit der Reife, wozu jedes Kind die Anlage mitbringt.

Eine andere, ebenso überraschend neue These, die Freud unter dem Titel »Trauer und Melancholie« aufstellt. Die Neurosen, gleichviel, ob im neurotischen oder im normalen Charakter, entstehen aus dem Zusammenwirken von angeborenem Wesen mit zufälligen Erfahrungen aus der umgebenden Welt. Als wir diese Weisheit mit vierzehn Jahren in einem Schulaufsatz behandeln mußten, wußten wir gar nicht, was für ein Genie offenbar unser Lehrer war.

Was ist eine Kriegsneurose? »Die Grundelemente der Kriegsneurose liegen in dem Konflikt zwischen dem alten friedlichen und dem neuen kriegerischen Ego und werden akut, wenn das alte Ego plötzlich der Gefährdung seines Lebens gegenübersteht, die ihm durch den Zwang seines neuen parasitären Doppelgängers aufgedrängt wird.« Wie die Soldaten lachen würden, wenn sie den einfachsten Gedanken von der Welt in eine solche schwülstige Sprache eingepackt fänden!

Was Freud in anderen Sphären verdorben hat, ist die Folge seiner Systematisierung. Seit Jahrhunderten stellten die Dichter dar – und jeder von uns hat es erlebt oder gehört –, daß viele Männer sich eine Frau nach dem Vorbilde ihrer Mutter aussuchen, in zarten Gedanken an die Kindheit, die halb schlummern. Aber da kommt der große Entzauberer, reißt den Mann aus dem Traume, fährt mit seinen kunstvollen Begriffen und seiner sexuell phosphoreszierenden Phantasie dazwischen und rüttelt den Mann so lange, bis er ihn in das Ehebett seines Vaters zurückschleppt, wo der Knabe dessen Stelle habe einnehmen wollen – er habe es nur leider vergessen!

Was antike und moderne Dichter und Denker von den Träumen wußten, war zum mindesten wärmer, als was Freuds kalte Hand aufdeckt. Die schwebenden Motive, die subtilen, zarten Gründe und Untergründe der Träume auszuschließen und durch grobe, fleischliche zu ersetzen: das ist die Methode der Psychoanalyse. Der eine Teil der Deutungen ist von Fremden übernommen, der andere ist banal. Freuds Tiefenpsychologie spielt meistens in den Untiefen; so, wenn er mit bedeutendem Ernst die Banalität entdeckt: »Das Unbewußte ist ein besonderes seelisches Reich mit eigenen Wunschregungen … und seelischen Mechanismen.«

Alles, was Freud als seine Entdeckungen im Reich des Unbewußten geltend macht, wurde von Carus und Herbart, von Schopenhauer und Hartmann um ein ganzes oder halbes Jahrhundert vorweggenommen, gar nicht zu reden von Daudet, Leopardi oder Dostojewskij. Wir zitieren hier nichts von alledem, was – tiefer als alle andern – Goethe und Nietzsche davon enthüllten, ohne Grammatik und ohne Vokabular. Nur ein Wort von Nietzsche, als er von großen Dichtern spricht: »mit Seelen, an denen gewöhnlich irgendein Bruch verhehlt werden soll; oft mit ihren Werken Rache nehmend für eine innere Besudelung, oft mit ihren Aufflügen Vergessenheit suchend vor einem allzu treuen Gedächtnis, oft in den Schlamm verirrt und beinahe verliebt, bis sie den Irrlichtern um die Sümpfe herum gleich werden und sich zu Sternen verstellen«.

Da ist die Psychoanalyse nicht bloß vorweggenommen, sondern zugleich als Gefahr erwiesen. Spöttisch ließ Nietzsche den Kranken sagen: »Irgend jemand muß schuld daran sein, daß ich mich schlecht befinde.«


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