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28. Eine Statue

Zuweilen entdeckt Freuds visionärer Blick ganz neue Provinzen der menschlichen Erfahrung. So stellt er einmal fest, »daß einige der größten Kunstwerke unserem Verständnis dunkel bleiben«, und er fügt dieser stolzen Banalität die herablassenden Worte hinzu: » Ich bin nicht belesen genug, um zu wissen, ob dies schon bemerkt worden ist oder ob nicht ein Ästhetiker gefunden hat, solche Ratlosigkeit unseres begreifenden Verstandes sei sogar eine notwendige Bedingung für die höchsten Wirkungen.« Ich bin nicht belesen genug: ganz die Diktion des unbefangenen jungen Genies, das seine Gaben verstreut, ohne zu achten, was vor ihm war.

Nachdem er dann noch versichert hat, er verstünde nichts von Kunst, wendet sich Freud dem Moses des Michelangelo zu, von dem er die stärksten Wirkungen erfahren habe. Von der Statue schreibt er so gut wie nichts, weder von der mythischen Gestalt noch von der lapidaren Gestaltung, aber zwanzig Seiten über die Haltung der Hand, der Finger und ihrer Bedeutung, die natürlich aus seinen Grundanschauungen stammt. Es handelt sich vornehmlich darum, daß »der eine Zeigefinger« über einen Teil des langen Bartes gelegt ist und eine tiefe Rinne in ihm hervorruft.

Warum also schreibt Freud über die Statue? Dr. Bill, einer seiner bekanntesten Schüler, teilt es uns mit: »Wir können annehmen, daß er sich unbewußt, vielleicht aber bewußt mit dem großen Führer seines Volkes identifiziert. Diese Gleichsetzung war es vielleicht, die ihn, der überall Offenheit predigte, hinderte, seinen Namen unter eine Arbeit zu setzen, die an der Oberfläche nur Verschlossenheit zeigt … Vielleicht fühlte er, jemand könnte ihn in der Gestalt des Moses entdecken.«

Da aber Freud nachträglich fürchtete, man könnte ihn in der Gestalt des Moses vielleicht doch nicht entdecken, publizierte er später den Aufsatz unter seinem Namen.


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