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21. Napoleon

Es ist wirklich zu ärgerlich! Da ist nun einmal ein Mann von Weltgeltung wie wenig andere, wir kennen sein Leben von Jahr zu Jahr, in manchen Zeiten von Tag zu Tag, aber über die Hauptsache, die Kindheit, fehlen alle Dokumente. Also herauf, alte Lätitia, Mutter des Helden! Sie müssen, koste es, was es wolle, sexuelle Abenteuer zu beichten haben! Sie zürnen? Sie verweisen auf Ihre Natur als die einer italienischen Mutter und Matrone, auf ein strenges, ernstes, sparsames Leben, auf die dauernde Skepsis, mit der Sie zwanzig Jahre lang die Erfolge Ihres weltberühmten Sohnes begleiteten? Sie vertrauen auf die durchgewühlten Erinnerungen von Korsika, wo die Feinde Ihres Sohnes alles aufboten, um irgendwelche Flecken in seinem Ursprung zu finden und ihn damit vor der Welt zu diskreditieren?

Das würde Lätitia nichts nützen. Was bedeutet es denn auch, daß der Weltherrscher in seinem Leben vor einem einzigen Menschen haltmachte, daß er noch auf dem Gipfel der Macht nur seiner Mutter erlaubte, ihn zu kritisieren, und ihr die unglaublichen Worte sagte: »Bleiben Sie am Leben! Denn wenn Sie sterben, ist niemand mehr da, der Macht über mich hätte!«

Die Jugend dieser Frau liegt ebenso gesichert vor uns wie der Respekt des Sohnes, und in einem von hundert Feinden belauschten Leben gibt es nicht eine einzige Geste, die auf einen Zweifel Napoleons an seiner Mutter weisen könnte. Aber inzwischen ist eine neue Schule emporgekommen: sie schließt aus Träumen auf Symptome, aus Symptomen auf Fakten, und wenn alle drei nicht da sind, so vertreibt sie sich und andern die Zeit mit Märchen, die sie als Wissenschaft verbreitet. Hundert Jahre nach ihrem Tode wird an der Grabkammer der Lätitia gerüttelt. Es wäre doch recht artig, wenn ein Forscher Liebesbriefe von ihrer Hand aus der Zeit um Napoleons Geburt fände; da hätte man leicht einen natürlichen Vater des Helden und somit eine bessere Quelle zu seinem Genie! Wie steht's damit? Ein Doktor Jeckel hat die Entdeckung gemacht und beschreibt sie in Freuds Zeitschrift »Imago«, d. h. unter seinem Protektorat:

Er habe, schreibt er, bei Neurotikern gefunden, unter der Liebe zur Mutter sei die Vaterlandsliebe gemeint. Nun hat der siebzehnjährige Napoleon einen Aufsatz über die Liebe zum Vaterlande geschrieben. In einem Konflikt mit Paoli, seinem Vorbild auf Korsika, hat er um diese Zeit auch geschrieben, man dürfe »das Vaterland nicht von Fremden angreifen lassen«, wobei unter Vaterland damals Korsika zu verstehen war, unter den Fremden die Franzosen.

Das ist aber nicht genug, denkt der Analytiker, um ihm den Prozeß zu machen. Halt! Eine Entdeckung! Jener Aufsatz über die Liebe zum Vaterlande wurde von dem jungen Mann in Paris geschrieben, »und zwar fünf Tage nachdem er eine Nacht bei einer Prostituierten verbracht hatte«, ein Datum, das er sich selbst notierte. Kann man mehr fordern? Der Zusammenhang ist klar! Napoleon hat in jenem Aufsatz » mit dem Mutterkomplex gerungen«. Vielleicht war diese Nacht seine erste Erfahrung in der Liebe. Da er also geschlechtsreif wurde, mußte er die Mutter verlassen. Beweis: Er schrieb um diese Zeit gegen ehrgeizige Franzosen, adlige Emigranten, »die nicht erröteten, die Gefilde zu verwüsten, die ihre Geburt gesehen haben«. Da steht es, schwarz auf weiß, denn wer kann jetzt noch zweifeln, wenn Jeckel ausruft: »Es ist wohl hier recht deutlich die Notwendigkeit des Verzichtes auf das inzestiöse Verlangen nach der Mutter ausgesprochen, das, realisiert, zum sicheren Untergange führt … Dieser Kampf für und wider diesen Komplex ist der eigentlich latente Inhalt so ziemlich aller anderen, in den nächsten vier Jahren verfaßten Schriften Bonapartes.«

Kann ein Weg deutlicher sein? Von der Mitteilung eines Wiener Neurotikers von 1920 über die Pariser Kokotte von 1777 bis zu seinem verdrängten Wunsch, bei seiner Mutter zu schlafen: kristallklarer Beweis! Jedoch noch besonders gesichert durch die spätere Attitüde des Patienten. Zuerst wird nämlich eine »ganz ungewöhnliche Sohnes-Zärtlichkeit« für die Mutter angenommen, für die es nicht einmal eine Vermutung gibt, geschweige denn ein Beispiel. Denn die Kindheit Napoleons spielte sich nach der Art der Familie, der Zeitverhältnisse, nach seinem und seiner Mutter Charakter in einer Sphäre von Respekt und Familienstolz ab, in dauernden Kämpfen für den Stamm und den Besitz, in Sorgen um Stellungen für die Familie von acht Kindern, in Beratungen, welcher Partei man beitreten sollte, in aller Art von familiären Interessen, nur nicht in Zärtlichkeit, von der kein Wort eines Briefes zeugt.

Aber der Doktor zieht noch einen viel schlagenderen Beweis aus der Tasche. Hat Napoleon nicht später eine sieben Jahre ältere Frau genommen? Wenn man eine ältere Frau heiratet, » so bedeutet dies nach Freud das am wenigsten entstellte Merkmal der inzestiösen Fixierung an die Mutter«. Josefine also, die verführerische Kreolin, hat ihre märchenhafte Laufbahn nicht ihren Reizen zu verdanken, sondern dem verdrängten, jedoch ganz natürlichen und normalen Triebe Napoleons zur sexuellen Vereinigung mit seiner Mutter.

Jetzt sind wir schon viel weiter, denkt der Analytiker, der oben seinen Meister zitierte. Wenn sich nur noch etwas fände, dem alten Bonaparte einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen! Denn was wäre ein schulgemäßer Ödipus ohne Haß gegen den Vater – und nun gar bei einer solchen Größe! Da genügt die natürliche Eifersucht des Sohnes nicht. Könnte man nicht eine Liebesgeschichte der Mutter ausfindig machen? Was bedeutet es, daß der junge Mann »La France« als »étrangère« bezeichnet? In keinem Fall kann es einfach bedeuten, was es besagt, nämlich, daß Frankreich damals der Feind Korsikas war. »So leicht sollen wir es nicht haben«, hatte der Meister einst gesagt. Mit langsamen, doch sicheren Schritten nähert sich der Forscher seinem Opfer, denn er fährt fort:

» Es muß da jemand Französischer gegeben haben, von dem der kleine Napoleon annahm, daß er sich unter der Beihilfe des Vaters mit der Mutter vereinigte oder, wenn wir es aus der ohnehin durchsichtigen Verkleidung herausschälen: von dem er meinte, daß er mit der Mutter sexuelle Beziehungen unterhalte.« Die Technik eines korrupten Ministers, der seiner Geheimpolizei einen Gegner bezeichnet: Diesen Mann will ich zu Falle bringen. Suchen Sie den Beweis!

Und nun kommt die Jagd des Analytikers nach dem, worauf kein Dokument, kein Verdacht weist: einzig die Sexomanie dieser Ärzte, die berühmte Patienten brauchen. Nichts leichter! Da war doch ein mächtiger Gouverneur, Marboeuf, mit der Familie Bonaparte befreundet. Dieser war also » sehr geeignet … den Argwohn des kleinen Eifersüchtigen zu erregen«. Stellt denn der Gouverneur nicht Frankreich dar? Half er nicht offenbar dem Vater, der für seine französische Parteinahme Vorteile empfing, und nach des Vaters Tode seiner Witwe? Er war auch Pate eines der Kinder gewesen, zwei anderen verschaffte er Freiplätze in der Militärschule. Was folgt daraus? Haß Napoleons gegen seinen Vater, weil dieser »dazu beigetragen hat, Korsika mit Frankreich zu vereinigen« (fünfzehn Jahre vorher).

Um es kurz zu machen, Marboeuf war offenbar nicht bloß der Liebhaber der Lätitia, sondern in Napoleons Vorstellung auch Napoleons Vater, denn, so heißt es weiter, »Napoleon war im Zweifel, welcher von beiden sein Vater sei«.

Dieser Zweifel Napoleons »findet in der Bestimmung des Code Napoléon die legislatorische Projektion: La recherche de la paternité est interdite.« So sieht die Projektion der sexomanen Träume eines analytischen Maulwurfs auf die Abstammung eines Mannes aus, dessen Herkunft und dessen Glauben an seine Herkunft nie ein Kenner und nie ein Feind bezweifelt hat.

Hier ist eine Frau, Italienerin, Katholikin, die mit ihrem Manne acht Kinder zeugte, ihr Leben in Sorgen für diese erschöpfte, eine vornehme, gesunde Matrone, die die leichtsinnige Schwiegertochter Josefine verabscheute und von der der Sohn später sagte, sie war geboren, ein Königreich zu beherrschen. So lautet die Verdächtigung eines Mannes, der eine grenzenlose Macht keine drei Mal in seinem Leben zu sexuellen Abenteuern gebraucht und der sein ganzes Leben lang nach den Traditionen seines Stammes grade diese Mutter verehrt hatte. So lautet die Interpretation eines berühmten Paragraphen des Gesetzes, über dessen Entstehung wir genaue schriftliche Motive besitzen.

Um aber diese Phantasien »im Jargon der Analytiker« besser zu begründen, werden folgende Stützen eingefügt: Marboeuf, entgegnet man, war doch zu alt, um Lätitias Liebhaber zu sein? Um zu zeigen, was für ein Kerl er war, fügt der Forscher bei, daß er grade damals, mit Zweiundsiebzig, heiratete. Ferner wird aus einem Artikel des jungen Napoleon gegen den Bourbonen zitiert, er habe verbrecherisch » das Vaterland mit Fremden angegriffen«, was im Jargon des Unbewußten eigentlich besagt, daß man seine Mutter sexuell nicht mit Fremden zusammenbringen darf, sondern man nur eingedenk ist der Vorstellung zahlreicher Kinder, die Beziehung zwischen den beiden Geschlechtern sei ein dem Weibe angetaner Gewaltakt und bestehe in einem Kampf. Dadurch zeigten sie ihre sadistische Veranlagung an, die man Napoleon wohl schwerlich werde absprechen können.

Aber, mag man entgegnen, erstens hat Napoleon unter all seinen Gewaltakten nicht einen einzigen Zug von Sadismus gezeigt, etwa im Sinne Hitlers. Zweitens, selbst in solchem Falle: wie wird eigentlich der Rückweg durch das Labyrinth konstruiert, um aus der scheußlichen Vorstellung »zahlreicher Kinder« zu dem Verdacht zu leiten, die Mutter habe mit dem Franzosen geschlafen? Man achte auf die neue Volte des Nervenarztes:

Man entsinnt sich, daß man von dem jungen Kriegsschüler Bonaparte in Brienne erzählte, er habe sich in seinem Gärtchen verbarrikadiert und jeden, der sich näherte, wütend zurückgeschlagen. Nun glaubt man, in dieser Legende würde die befehlende und einsame Natur des späteren Diktators dargestellt? Das ist eben diese gesunde und banale Art, Charaktere zu studieren. Die Tiefenpsychologie lotet ganz andere Abgründe aus! Das war nämlich »eine Symptomhandlung, die für jeden, der sehen will, eine sehr beredte Sprache spricht«. Dasselbe, wie der Angriff des Vaterlandes durch die Fremden und daß der Vater zur Vereinigung mit Frankreich beigetragen habe, nämlich auch hier, »daß man niemand Fremden zur Mutter zulassen darf, sondern sie ganz, ganz allein besitzen soll«.

Jetzt mag man sich schämen, daß man nicht sehen wollte! Hier ist der klare Beweis, daß der junge Napoleon seinen Vater haßte. Sollten Sie zu erwidern wagen, daß es dafür keine, daß es aber zwanzig Beweise für seine Liebe zum Vater gäbe, so erfahren Sie, daß der Kaiser später dem Stadtrat von Montpellier, wo sein Vater starb, verboten habe, ihm ein Monument zu setzen. Er gab damals die humorvolle Begründung, er habe ja auch einen Großvater und einen Urgroßvater verloren: »Warum tut man denn nichts für diese? Das führt zu weit.«

Aber Napoleon ist als Ödipus nicht nur entlarvt worden, weil sich dies für einen vornehmen Patienten so schickt: man wird gleich erkennen, daß von diesem Sexualtrieb zur Mutter und »Tötungswunsch« gegen den Vater die ganze Laufbahn des Eroberers bestimmt wurde.

Bleiben wir zunächst bei den Frauen, die natürliche Nachbilder der Mutter sind. Der Mutterkomplex schafft nach Freud »die Liebesbedingung der Untreue«: die geliebte Frau muß untreu sein, so wie es die Mutter war: daher die dauernde Bindung Napoleons an die so leichtfertige Josefine! Als diese sich nach Napoleons Abreise von Mailand in einen kleinen Leutnant verliebt, und er erfährt es, da ist, nach Jeckel, in seinen Briefen »kaum eine Spur zu finden, die solche niederschmetternden Enthüllungen sonst zurücklassen. Napoleon schwelgt vielmehr in ihrer Untreue.«

Hier sind ein paar Stellen aus Napoleons sanft verzeihenden, ja offenbar zufriedenen Briefen: »Ich liebe dich nicht mehr: ich hasse dich. Du bist ein häßliches, böses Tier … An Gefahren gewöhnt, kenne ich das Mittel gegen die Unfälle des Lebens … Hast du einen Geliebten, so einen neunzehnjährigen? Ist es wahr, dann fürchte Othellos Hand.«

Als er später in Ägypten hört, Josefine habe ihn mit demselben Leutnant betrogen, ruft er Bourienne zu: »Diese Weiber! Daß sie mich so betrügen konnte! Doch wehe diesem Laffen! Ich lasse mich scheiden …! Ist sie schuldig, dann adieu!« So schwelgt Napoleon in der Untreue seiner Frau.

Nach seiner Rückkehr, schreibt der Forscher, hat er ihr aber doch nach drei Tagen plötzlich verziehen. Da sieht man doch, »wie glatt er über dieses, für andere oft tragische Erlebnis hinweggegangen ist«.

Der Wiener Doktor, der sich hier in sehr diffizile Liebeslagen mischt, während er selbst die Liebe offenbar mehr in Freuds Büchern studiert hat, weiß nichts vom plötzlichen Umschlag einer stark sexuellen Leidenschaft; er weiß auch nicht, daß Napoleon inzwischen in Ägypten eine eigene Liebschaft angefangen und das Mädchen nur deshalb nicht geheiratet hat, weil sie ihm den gewünschten Erben nicht brachte. Für den Doktor ist »die Vorstellung der Untreue seiner Frau im Unbewußten lustbetont«, weil ihm die begehrte eigene Mutter mit dem Vater und dann auch noch mit einem Liebhaber untreu gewesen sei.

Später aber, als der Kaiser die habsburgische Marie-Louise heiratete, die er angeblich gar nicht liebte, sperrte er sie ein, denn »weil er sie nicht liebte, durfte sie ihm auch nicht untreu sein«. Wie das alles sitzt und klappt! Wie lustig ist es nicht, Theorien aufzubauen, wenn man von den Tatsachen keine Ahnung hat! Denn auch hier sind dem Doktor Napoleons Briefe an seine zweite Frau unbekannt geblieben; auch daß er sie niemals einsperrte, daß er alles für sie tat und vorbereitete, sie nur im Verkehr mit anderen Männern bewachen ließ, solange er auf einen Nachkommen wartete, dessen Abkunft er sich selbst unbedingt sicherstellen wollte.

Seine männliche Potenz wird auch von den Analytikern nicht bezweifelt. Da aber dieser Patient ein so großer Mann war, konnte er doch nicht eindeutig durchs Geschlechtsleben gehen und wird auf alle Fälle als homosexuell entlarvt, da ihn sonst die analytischen Patrizier nicht schätzen würden. Diese Entdeckung kommt Mr. Jones zu, dessen englische Abhandlung Freud in seiner Zeitschrift nachdruckt. Und wer war Napoleons Geliebter?

Man kennt die tyrannische Art, in der Napoleon vier Brüder und drei Schwestern zu seinen Zwecken kommandierte; denn der alte korsische Familiensinn besteht nicht in Hingabe, sondern in strengem Zusammenhalt, weil sich die Familien durch Jahrhunderte bekämpften und in der Vendetta einen moralischen Antrieb sahen, ihre Feindschaften zu verewigen. Diese Sitte wußte der Kaiser in riesenhafte Maße zu übertragen, wobei er zuweilen auf stolzen Widerstand stieß, denn in Wahrheit waren alle Brüder auf ihn eifersüchtig. Bei dem tiefen Mißtrauen aber, das jeder Diktator gegen seine Umgebung faßt, mußte Napoleon sich erst recht seiner Geschwister als Statthalter versichern, da er ihnen eher vertraute als den Franzosen.

Nur zu einem dieser vier Brüder unterhielt er ein gänzlich väterliches Verhältnis, denn Louis, acht Jahre jünger, war von ihm selbst erzogen worden. In langen Briefen aus den Jahren des Aufstiegs beschrieb er seine Freude über Louis' Fortschritte. Später wollte er ihn sogar zu seinem Erben machen, »denn Louis hat keinen von den Fehlern meiner anderen Brüder und er hat alle ihre guten Eigenschaften«. Deshalb verbot er dem Bruder eine Heirat nach seinem Sinne und zwang ihn, die Tochter seiner Frau Hortense zu heiraten, um die symbolische Rolle des Thronfolgers doppelt auszusprechen. Später schenkte er den beiden Holland, das heißt, er zwang sie, dort König und Königin zu spielen.

Das Verhältnis war derart väterlich, daß der Kaiser seinem kleinen Bruder Erziehungsbriefe schrieb, bis zu fünf Druckseiten Länge: wie man sich als König benehmen soll. Als er ihm immer weiter in diktatorischem Tone befahl, was zu tun und was zu lassen, wurde es König Louis zuviel; es kam zum Streit. Napoleon plante darauf, Louis' Sohn zu seinem Nachfolger zu machen, Louis widersetzte sich, und da er seine Frau ohnehin nicht leiden konnte, ergriff er in einer Krise die Flucht und wurde in Österreich aufgefangen. Napoleon bestrafte ihn nicht, aber er war mit ihm fertig. Später schrieb er ihm, er wollte ihn empfangen, »im Geiste eines Mannes, der Sie erzogen hat, als wäre er Ihr Vater«.

Wer war dieser Louis? Ein Dichter, ein Träumer, der am liebsten Verse schrieb, die ihm aufgedrungene Aktion haßte, in der Jugend den Frauen bis zur Ausschweifung hingegeben, dann gereift in der Liebe zu jenem Mädchen, das ihm der Bruder verbot, später unglücklich als König und Gatte und erst sich wiederfindend, als er in einem Alpenwinkel ungestört seine romantische Liebe in einem dreibändigen Roman gestalten konnte.

Nichts in Louis' Leben und nichts in Napoleons Leben deutet an, daß sie durch sexuelle Anziehung verbunden waren oder daß einer von beiden von irgendeinem andern Manne jemals angezogen wurde. Soweit es Gefühle gab, waren sie von der Seite des Älteren väterlich, und dies mehr, als er es je einem anderen Bruder, Freund oder Stiefkind gezeigt hat.

Einen solchen Napoleon kann aber ein Experte für Perversitäten nicht brauchen. Es war schon schlimm genug, daß man ihnen Napoleons Epilepsie weggenommen und bewiesen hatte, daß er nie darunter gelitten. Nun suchte man auch noch diese Weltberühmtheit sexuell normal zu machen! Da mußte das Freudsche Komitee – eine Art Trustee für historische Perversitäten – entschlossen eingreifen!

Ja es gab eine Rettung: Napoleon war homosexuell, und Louis war sein Objekt. Beweis: Zuerst war Napoleon »enttäuscht über Louis' Betragen in dem ägyptischen Feldzug«. Louis wollte nicht mit Napoleon nach Ägypten gehen und ertrotzte sich dann die Heimkehr nach drei Monaten: so sehr liebte er den Bruder! Als er ein Mädchen liebte, führte der Ältere sie weg: pure Eifersucht! Daß er ihn nicht etwa für sich behalten, sondern einer anderen Frau gab, sei unter Homosexuellen üblich. In seinen Briefen ist der Ältere bald freundlich, bald drohend: typische Haltung des Liebhabers.

Zur Zeit seiner eigenen Scheidung – und dies ist der Höhepunkt der psychologischen Begründung – verlangte Napoleon von Louis, er solle sich zu gleicher Zeit scheiden lassen. Kann man seine sexuelle Verbundenheit stärker beweisen? Nun war aber der Bruder, den Napoleon damals zur gleichzeitigen Scheidung nötigen wollte, gar nicht Louis: es war ein anderer Bruder: es war Lucien, wie der Doktor in jener unsterblichen, von Lucien überlieferten Szene in Mantua hätte nachlesen können. Ja der Zufall spielte ihm noch einen eigenen Streich. Napoleon, an jenem Abend in ernster Scheidungslaune, sagte Lucien, nicht er allein, auch Joseph sollte sich zugleich mit Napoleon scheiden lassen, »und dann heiraten wir alle drei wieder am selben Tage!« Auch hier war von einem dritten Bruder die Rede, nur nicht von dem armen Louis, dessen homosexuelle Liebe durch gleichzeitige Scheidung mit dem Liebhaber bewiesen werden soll.

Aber nun ist der Doktor einmal im Zuge: er triumphiert, er hat den Schlüssel gefunden!

»Nichts leichter, als die Ursache dieses Konfliktes zu finden, nämlich in seinen homosexuellen Anziehungen. Mit diesem Schlüssel können wir die meisten Probleme dieser Debatte aufschließen. Kaum ein Zweifel, daß Louis die feminine Form der Homosexualität darstellte.«

Nachdem er also an zwei historischen Patienten die Tatsachen nicht gekannt, teils verwechselt, teils nicht verstanden, wird ein solcher Arzt auf die leidende Menschheit losgelassen. Was dürfen wir von der Kunst der Analyse an lebenden Patienten erwarten, wenn man auf diese Art aus reiner Sexomanie zwei normale Brüder zu Homosexuellen erklärt! Und wenn er zum Beweise zwei verstorbene Brüder verwechselt, so könnte jemand fürchten, daß er auch die Analysen seiner lebenden Patienten durcheinanderwerfen und den Hysteriker als Paranoiker behandeln wird.

Kehren wir zum Doktor Jeckel zurück, Führer durch das Land der Erobererseele! Vor der Abschweifung in die eine Perversion hatten wir den Beweis der anderen empfangen: Napoleons unstillbarer Durst nach der Umarmung seiner Mutter. Nun gehört aber zu einem tüchtigen Ödipus auch der Rachewunsch am Vater. Hier ist er:

Der Haß gegen den Vater drückt sich, bei der doppelten Buchführung der Analytiker, teils im »Todeswunsch«, teils aber auch in Liebe aus. So steht es in der vom Diktator verliehenen Magna Charta der Analyse. Diese Wissenschaft behauptet, daß sich das Unbewußte »oft in krassen, ja direkt läppisch anmutenden kleinen Ähnlichkeiten« entdecken lasse. Hier ist gleich eine: Napoleon erkannte in sich den Nachfolger Karls des Großen: auch er, wie dieser, gegen die Deutschen kämpfend, die ihn nicht anerkennen wollten, auch er nicht durch Erbschaft, sondern »durch Wahl« zur Macht gelangt. Er sagte: » Ich bin Charlemagne, weil ich meine Krone von Frankreich mit der Krone der Lombardei vereinigt trage und mein Reich an den Orient grenzt.« Ein berühmtes Wort, erdacht und gesprochen, um seinen Eroberungen den Anschein historischer Kontinuität zu verleihen.

Aber sprachen wir nicht von seinem Vater? Was hat das alles mit dem alten Bonaparte in Ajaccio zu tun? Ich will Ihnen als gelehriger Schüler Freuds durch Suggestion in die Tiefe verhelfen: Charles-Magne! Noch immer nichts? Wir haben offenbar vergessen, wie Napoleons Vater mit Vornamen hieß? Charles Marie. Was das miteinander zu tun habe? Sehr viel, wir sind der Auflösung des Rätsels nahe. Der Zauberer zieht sein Tuch weg und zeigt das Innere des Hutes. Jeckels:

Der Vater hieß Charles Marie, also ist Napoleons Behauptung, er sei Charles-Magne » mindestens in sehr hohem Grade auf dem Wege der Namensähnlichkeit von der unbewußten Identifizierung mit seinem Vater abgeleitet worden«. Auch heißt es im Entwurf zu diesem Beschluß: Napoleon sei nicht in Rom eingezogen, er wollte dort als Vater auftreten und sich die Krone Karls des Großen aufs Haupt setzen lassen. »Ist doch für die Kinderpsyche, die dann im Unbewußten fortlebt, der Vater nicht bloß Kaiser und König, er ist auch stets &›der Große‹.«

Dies aber ist nur »die Liebesform des Vaterhasses«; der echte Haß donnert uns mit überwältigenden Tönen an. Hier sind sie:

Natürlich genügt einem so großen Manne nicht bloß ein einzelner Vater: er hat gleich drei. In der Geheimsprache des Ordens klingt das folgendermaßen: »Der Vater, Marboeuf, Paoli …, und wir sehen ihn gegen diese Abspaltung der Vater-Imago naturgemäß so ambivalent eingestellt wie gegen das Original.« Da zugleich der König immer das Symbol des Vaters ist, schließt sich Napoleon erst dann an Frankreich an, als er von der Verurteilung des Königs von Frankreich erfährt. Neues Domino: das wird so gespielt:

»Nun erst, nachdem der Vater (König) der verhaßte Anstifter des Unheils, der ihn am Besitze der Mutter hindert, sie aber trotzdem mit Fremden geteilt hat, sein Verbrechen mit seinem Kopfe gesühnt hat, erst dann sehen wir Napoleon sich entschieden Frankreich zuwenden. Denn durch die Tötung des Königs ist ja der wesentliche Teil seiner Ödipus-Phantasie erfüllt worden, und da ist es ja nur selbstverständlich, daß er durch den Anschluß an Frankreich die freigewordene Mutter in Besitz nimmt und so diese symbolische Realisierung zu einer vollständigen macht … Schließlich dürfte auch die Identifizierung Napoleons mit Marboeuf dieselbe in irgendeinem Grade mitbestimmt haben. Und mit der ganzen, uns aus Träumen und neurotischen Symptomen wohlbekannten Unverbundenheit des … Unbewußten wird man aus den angeführten Motiven auch Frankreich – das bisher für Napoleon Marboeuf und die Preisgebung der Mutter an denselben bedeutet hat – zum Symbol der Mutter selbst, zur Mère Patrie, der er nun seine glühende Liebe zuwendet, die er heiß begehren, seinen Polarstern nennen … wird.«

Die weltgeschichtlichen Folgerungen folgen:

»Das unstillbare Verlangen nach dem Besitze der Mutter sollte nicht mehr zur Ruhe gelangen, und der gewaltige Kampf um sie mit dem Vaterbilde, wohl das gewaltigste Epos der Menschengeschichte … Nun, da Korsika (die Mutter) entwertet und verloren, beginnt für Napoleon eine nimmermüde und nimmersatte Suche nach Ersatz, auf welcher seine von Heißhunger gequälte Phantasie gierig ein Land nach dem andern begehrt, derart eine schier endlose Reihe von Surrogaten bildend, die jedoch als solche seine Gier nie auch nur annähernd zu befriedigen vermögen. Er tränkt auf dieser Suche die Länder in Blut, versetzt die Welt in Schrecken, verändert das Antlitz Europas: umsonst, alles das kann seinen Hunger nicht stillen!«

Da haben wir ihn, den Blaubart Napoleon! Zugleich eine Art Ewiger Jude und Fliegender Holländer, der Erlösung sucht und bei allen seinen Blutopfern unglücklich bleibt! Und an diesem großartigen Romanhelden haben sie bisher alle vorbeigesehen, Goethe, Lord Byron, Walter Scott, Tolstoj! Ja die ganze Aufregung, der ganze Abschnitt der Geschichte wäre gar nicht nötig gewesen, wenn Napoleon nur einmal sein Traumverlangen nach dem Besitze der alten Lätitia hätte wahrmachen können. Statt dessen schrieb er ihr ergebene Briefe, richtete ihr einen Hof ein, gab ihr Geld und hörte noch zuletzt, daß sie alles tat, um den gefangenen Sohn zu befreien.

Noch einen Moment für Professor Jeckels Epilog! Nachdem er festgestellt, daß sich der Eroberer mit besonderer Wut auf Italien geworfen, weil seine Mutter eine halbe Italienerin war, gibt er sich einen Ruck und schließt:

»Und dies alles getrieben von einer kaum dagewesenen Gewalt des inzestiösen Verlangens nach der Mutter und dem schrankenlosen Trotz gegen den Vater, wie er in der Menschheitsgeschichte vereinzelt dasteht … Und so hätten wir nun auch in dieser ganz solitär scheinenden … Menschenseele im letzten Grunde libidinöse Antriebe aufgedeckt und auch dieses Schicksal als in letzter Linie durch Sublimierung sexueller Motive gestaltet erkannt … Die Bewunderung und das dieser Gestalt für immer gesicherte und stets von neuem erwachende Interesse der Menschheit kam überdies und im letzten Grunde von dem mächtigen Widerhall, den dieser gewaltige Ödipus-Komplex in seiner so leichten und typischen Gewandung in der nämlichen bedrängten Regung unserer eigenen Brust findet … Und vielleicht ist es … aus dieser Empfindung heraus, daß in Erfurt, als vor einem Parterre von Königen der Voltairesche Ödipus aufgeführt wurde, sich Alexander von Rußland erhob und Napoleon unter dem Beifall des Saales umarmte?«


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