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3. Der Arzt gib sich auf

Ein älterer Nervenarzt, Doktor Breuer, über den wir später berichten, hatte ein schwer hysterisches Mädchen durch Hypnose geheilt, indem er sie ihre geheimen Erinnerungen aussprechen ließ und erkannte, daß die Symptome verschwanden, wenn sie ausgesprochen und eingestanden waren. Freud, der von dieser Entdeckung der Psychoanalyse durch Breuer kaptiviert war, wandte diese Methode bei seinen Kranken an und verallgemeinerte den Fall der Hysterie zuerst auf alle Neurosen. Dann übertrug er aber Theorie und Methode, » die Erfahrungen an den Kranken auf die Gesunden, zur Erforschung des unbewußten Anteils in dem individuellen Seelenleben«. Er stellte nicht nur den Satz auf, alle Psychose sei zunächst unbewußt, sondern er kam bald zu dem Schlusse, daß die Nervösen uns überhaupt am besten den Weg zur Erkenntnis der gesunden Seele zeigen könnten.

»Die Neurosen«, schreibt Freud, »haben keinen eigentümlich psychischen Inhalt, der nicht auch beim Gesunden zu finden wäre.« Und an anderer Stelle: »Die Pathologie hat uns ja immer den Dienst geleistet, durch Isolierung und Übertragung Verhältnisse kenntlich zu machen, die in der Normalität versteckt geblieben wären. Und da unsere Untersuchungen keineswegs an schwer abnormen Menschen durchgeführt worden sind, meine ich, wir dürfen ihre Ergebnisse für glaubwürdig halten.«

An dritter Stelle: »Aus dieser Quelle stammt unsere beste Kenntnis, und wir sind dann zu der wohlbegründeten Vermutung gelangt, daß unsere Kranken uns nichts anderes mitteilen, als was wir auch an den Gesunden erfahren können.« Dies kommt in vielen Varianten wieder und wird niemals als Hypothese, sondern als Lösung der Hauptfrage stabiliert. Ursprünglich hatte Freud erklärt, die nervenkranken Menschen seien im Grunde normal; später, die Gesunden seien im Grunde alle krank. Ebenso könnte ein Forscher auf Grund der Pathologie sich rückwärts der Anatomie nähern, und Janet wirft deshalb kritisch ein: »Kein Faktor kann pathogene Wichtigkeit haben, der im gleichen Maßstabe für Kranke wie Gesunde gilt.« Hier sind wir schon im Zentrum des Freudschen Dogmas und somit unserer Anklage.

Hier ist die Trennung des Analytikers vom Arzte ausgesprochen: der Vorrang des Fachmannes in Freud hört auf, er tritt als gleichgestellter Gegner allen Denkern gegenüber, die sich mit der Enträtselung der menschlichen Seele befassen. Von hier ab haben wir es mit Theorien zu tun, die ein an Kranken geübter Nervenarzt als Philosoph auf die Menschheit als Ganzes anwendet und als Fundamente des allgemeinen menschlichen Lebens erklärt.

Freud entwickelt dabei vier Hauptthesen, die sich, wir wiederholen es, nicht auf die Neurotiker, sondern auf alle Menschen beziehen:

1. Unseren Handlungen und Bräuchen liegen unterdrückte sexuelle Triebe zugrunde, unsere Wünsche sind im Grunde unerfüllbare sexuelle Wünsche.

2. Die Träume als die beste Quelle des Unbewußten zeigen die sexuellen Wünsche des Menschen an.

3. Das Fühlen oder Denken aller Säuglinge, Kinder und Jünglinge ist von sexuellen Vorstellungen erfüllt.

4. Bewußt oder unbewußt wollen wir uns alle mit unserer Mutter vereinigen und unseren Vater töten, wie Ödipus es getan hat.

Wenn der Leser bei der folgenden Lektüre von hundert Freudschen Zitaten glauben sollte, er träume schwer, so mag er sich erinnern, daß es sich nicht um kranke Seelen handelt, die alles Mögliche aussprechen oder vorstellen können, sondern beständig um ihn selbst, um den Leser, nämlich um den gesunden normalen Menschen, der grade in diesen vier Punkten – Sexus, Traum, Kindheit und Ödipus – von Freud mit dem neurotischen gleichgesetzt wird. Wir sind also alle mit gemeint, und wenn wir uns dabei nicht getroffen, wenn wir uns vielmehr zum Widerspruch, vielleicht auch zum Gelächter aufgeregt fühlen, so wissen wir eben über uns nicht Bescheid. Wir müssen zu einem Analytiker gehen, damit er unsere geheimen, allzulange unbewußten Wünsche aufdeckt und uns sexuell aufklärt.


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