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Zweiter Teil.
Die vergangenen Opfer

 

»Im Auslegen seid frisch und munter!
Legt ihr's nicht aus, so legt was unter.«

Goethe

 

20. Historische Patienten

Allgemein glaubt man, ein lebender sei leichter darzustellen als ein historischer Mensch. Umgekehrt: denn der Lebende lügt oder er färbt oder verstellt sich vor dem Darsteller, und doch kann ihn dieser mit intimen Dokumenten nicht widerlegen, sie sind ihm verschlossen, mancherlei Rücksichten trüben das Bild. Und wenn es nichts anderes wäre, so würde die unvollendete Lebensbahn den Schlüssel zur Deutung eines Lebens versteckt halten. Der historische Mensch steht, wenigstens nach hundert Jahren, in allen Dokumenten offen vor uns.

Ein bedeutendes Moment tritt hinzu. All die zahllosen publizierten Analysen sind anonym und unkontrollierbar. Wir wissen nicht, wieviel der Analysand gelogen, wieviel davon der Analytiker gemerkt, was dieser gefärbt hat, welche Umstände ihm und uns entzogen werden. Unser Glaube in die Echtheit der Berichte ruht auf dem Vertrauen, daß diese Männer im allgemeinen verläßlich sein mögen. Die Kritik der Analysen aus den vorigen Kapiteln gründet sich lediglich auf ein gesundes Empfinden, auf den Vergleich mit unseren Gefühlen und Erfahrungen, auf den Eindruck, daß tausend uns bekannte Fälle gegen einen solchen stehen, der uns dort vorgeführt und auf die Menschheit verallgemeinert wurde. Diese Anonymität, aus der im Anfang beschränkte Professoren Freud einen leicht reißbaren Strick drehten, war nötig; und doch war sie zugleich ein Schutz gegen jede Kritik der einzelnen Analyse.

Vor vergangenen Gestalten aber eröffnet sich eine Kontrolle. Wenn wir studieren, wie Freud historische Charaktere analysierte, so stehen wir auf festem Grunde, denn Name, Porträt und alle Dokumente, die er gesehen hat, kennen wir auch und noch ein paar mehr. Hier können wir zum ersten Male nachprüfen, ob ihm sein Patient das gesagt hat, was er angibt; wir kennen den Charakter, die Rückwelt und können nicht bloß beurteilen, ob seine Darstellung historisch, sondern ob sie logisch richtig ist. Freilich kann man Charaktere verschieden interpretieren, wie etwa die Porträts desselben spanischen Königs Philipp von Rubens und Velasquez beweisen. Die Frage, mit der ich an Freuds historische Analysen herangehe, ist nicht, ob ich seine Auffassungen teile, sondern ob diese sich irgendwie begründen lassen, oder ob sie künstliche Belege für seine vorgefaßte, sexomane Idee von Menschen sind.

Die historischen Analysen, die Freud selbst publiziert hat, glaube ich hier zusammen zu haben, nicht etwa eine für ihn unbequeme Auswahl. Von denen seiner Schüler kann nur ein Teil übernommen werden; denn es ist ein Gesellschaftsspiel für junge Leute geworden, irgendeine historische Figur aufs Geratewohl zu analysieren. Freud und die Seinen gehen durch die Weltgeschichte mit einem Schlüssel in der Hand und probieren überall, was er aufschließt; nur bemerken sie nicht, daß sie beständig in den Vorzimmern bleiben.

Das Resultat ist eine Katastrophe, zugleich eine Komödie. Die Unwissenheit in den Quellen, der Mangel jeder Analyse der Charaktere, die Monomanie, alle Rätsel einer Person im Sexuellen zu suchen, hat bald zu komischen, bald zu ärgerlichen Ergebnissen geführt.

Wenn er sich einer historischen Gestalt nähert, gleicht Freud einem Arzte, der nicht den ganzen Körper des Kranken untersucht, sondern ein einzelnes Organ, meist den Geschlechtsteil, und darauf seine Diagnose gründet. Wenn Plutarch den Herakles epileptisch nennt, so zieht er zu gleicher Zeit aus seiner Körpergröße seine Schlüsse. Entscheidend ist, daß Freud und die Seinen niemals versucht haben, eine Gestalt auch nur physiologisch ganz zu analysieren, geschweige einen Charakter.

Die Anomalität des Genies, die ein halbes Jahrhundert vor Freud von Lombroso und anderen in eine Art System gebracht worden ist, haben alle Völker und alle Schulen erkannt und sie zuletzt bei Wagner, Tolstoj, Schumann, vorher bei Tasso oder Rousseau festgestellt und dabei zweitausend Jahre zuvor in Aristoteles einen Ahnherrn gehabt, der sagte (in lateinischer Fassung): »Nullum magnum ingenium sine mixtura dementiae fuit.« Heine sprach es in einem Gleichnis aus: »Oder ist die Poesie vielleicht eine Krankheit des Menschen, wie die Perle eigentlich nur der Krankheitsstoff ist, an der das Austerntier leidet?«

Im einzelnen sind viele Dichter lange vor Freud als homosexuell bezeichnet worden, die Griechen zuerst, dann die römischen Lyriker. Unter den modernen sind als anormal der Welt bekannt Holbein, Kierkegaard, Gogol.

Um eine Psyche zu analysieren, muß man alle Dokumente eines Lebens kennen.

Nun könnte der Mangel an Kenntnissen durch eine phantasiereiche Hingabe an die Person ersetzt werden. Wäre Freud imstande, mit den Mitteln der Seelenkunde einen Menschen zu durchschauen, ohne ihn seiner Manie und seinem Dogma gewaltsam anzunähern, so hätte er richtige oder falsche, doch aber homogene Auslegungen finden, er hätte vielleicht die Absonderlichkeiten eines Mannes aus medizinischen Befunden erklären können, wie dies dem Doktor Möbius mit Goethe gelungen ist. Wenn er Träume von diesen Personen fand, so hätte er sie in der Richtung der Charaktere deuten, Napoleons Machtwillen, Moses' Heimattrieb, Lionardos mystischen Drang, Goethes Naturwesen, Bismarcks Härte, Lincolns Melancholie durch ihre Träume erläutern können.

Nichts davon. Sämtliche Gestalten werden nur auf ihre Sexualia und auf perverse Eigenschaften untersucht, zu denen nicht bloß Beweise fehlen, auch die Wahrscheinlichkeit für eine Hypothese. Zum Analytiker fehlt Freud die Grundeigenschaft: der Wille, sich auszulöschen, mit der beobachteten Gestalt zu verschmelzen, an sie mit Neigung statt mit Dogma, mit Demut statt mit Hochmut heranzutreten, als wäre sie ein Baum, dessen Wachstum erklärt werden soll.

So eröffnen Freuds historische Arbeiten einen andern Beweis unserer Anklage, die sich bisher auf die Behandlung der Lebenden beschränkte. Sie stellen dabei nicht etwa eine Liebhaberei dar, von der man sagen könnte: mag er sich historisch geirrt haben, als Arzt hatte er recht. Im Gegenteil: hier wird der Beweis erbracht, daß er sich als Arzt irrte, denn die abstrusen historischen Analysen fußen alle auf Freuds fundamentalem Irrtum, der Gleichsetzung des Gesunden mit dem Kranken, das heißt, sie werden von Neurotikern von heute auf normale Menschen alter Zeiten übertragen: er sagt es selbst.

Als Summe seiner Kulturforschungen hat Freud den phänomenalen Satz ausgesprochen: » Hinter jedem Irrtum steckt eine Verdrängung.« Damit sind Aristoteles und Kolumbus, aber auch Wilson und N. Chamberlain in ein neues Röntgenlicht gerückt. Denn wenn wir bisher das Innere des irrenden Menschen aus seinen Stärken und Schwächen, aus Charakter und Leidenschaften zu verstehen suchten, so braucht es heute keine so komplizierten Psychologica mehr. Man stellt ihn vor die fluoreszierende Platte und sieht, gleich dem verstopften Mageneingang, ganz deutlich die psychische Stelle, von deren Verstopfung sich die seelischen Beschwerden und so die geistigen Irrtümer herschreiben.

Hier folgen Psychoanalysen von Freud und seinen nächsten Schülern, deren Arbeiten er in seiner Zeitschrift selbst publiziert hat, geteilt in drei Gruppen: zuerst Analysen von Männern der Tat und von Künstlern. Dann Gestalten aus Dichtung und Kunst. Schließlich allgemeine Folgerungen aus seinen historischen Studien: Freuds Gedanken über den Urmenschen, über den Ursprung von Kunst, Religion, Philosophie.


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