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35. Bildnis

Das Merkwürdige an Freuds regelmäßigem Antlitz ist, daß es sich durch siebzig Jahre nicht verändert hat. Von Sechzehn zu Sechsundachtzig hat sich der Jüngling in einen Greis verwandelt, die Züge aber zeigen keine Entwickelung. Die Photos des Dreißigjährigen sind denen des Sechzigjährigen beinah gleich, und doch hatte er in der Zwischenzeit aus einem Einfall eine Wissenschaft und einen Orden entwickelt. Ein völliges Gleichmaß der Züge, in eine Art kalte Schönheit gebannt, vergrößert den Eindruck des Unerschütterbaren.

Die Entwickelung in den Bildnissen großer Männer, besonders wenn sie alt wurden, fehlt hier ganz: die Jugend hat in seinem Blicke kein geniales Begehren entzündet, die Mittelzeit kein imposantes Feuer, das Alter keine verstehende Güte. Von typisch jüdischen Zügen zeigt Freuds Kopf beinah nichts; weder die Humanität noch die Aufgeschlossenheit, noch die ironische Frage mancher jüdischer Gelehrtenköpfe. Auch ist es kein österreichisches Gesicht, denn es fehlen ihm die Zeichen von Jovialität, Toleranz, Schlauheit, Musikalität.

Aber seine Düsterkeit hat großen Stil. Ein tiefsaugender Blick, aus dem die Skepsis niemals weicht, ist unerschüttert auf den Beschauer gerichtet. Die Lippen sind auf allen Bildern fest geschlossen, kein Lächeln, keine Hingabe an Menschen oder Dinge wird geboten: in diesem Gesicht ist alles Nehmen, nichts ist Geben. Es sind die versteinerten Züge eines Menschen, der immer mißtraut und nie erstaunt.

Wäre der Träger dieser Züge in der herrschenden Klasse geboren, so hätte er Energie und Härte eines regierenden Mannes entwickelt; man braucht nur sein Porträt mit Wams, Hut und Waffen eines spanischen Granden aus der Galerie des Velasquez zu versehen, und der fanatische Feind allen Widerspruchs regiert mit eiserner Folgerichtigkeit als Inquisitor seine Provinz.

Ein einsamer Mann von maßloser Machtgier, der nicht fragt, nicht liebt und nicht lacht.


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