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27. Hamlet

»Hamlet wurzelt im selben Boden wie Ödipus.« Mit dieser These nähert sich Freud einer Gestalt, die man verschieden, immer aber aus dem Drama heraus erklärt hat. Freud dagegen suggeriert Hamlet den sexuellen Trieb zu seiner Mutter plus dem obligaten »Tötungswunsche« gegen seinen Vater. Der Patient wehrt sich, indem er erklärt, er habe ja grade das Umgekehrte im Sinn, nämlich den Mord an seinem edlen Vater zu rächen.

Der Professor erwidert: »Hamlet kann alles, nur nicht die Rache an einem Manne vollziehen, der seinen Vater beseitigt und bei der Mutter dieselbe Stelle eingenommen hat, an einem Manne, der ihm die Realisierung seiner verdrängten Kinderwünsche zeigt. Der Abscheu, der ihn zur Rache drängen sollte, ersetzt sich so bei ihm durch neue Vorwürfe, daß er selbst nicht besser sei als der von ihm zu strafende Sünder.«

Nach dieser Fieberphantasie erklärt Freud seine Entdeckung als »die Deutung der tiefsten Schicht von Regungen in der Seele des schaffenden Dichters«. Wir wehren uns? Wir erklären, daß kein Wort und keine Geste Hamlets während fünf Akten in diese Richtung weist? Daß vielmehr dieser entschieden anormale Charakter zu allen möglichen abstrusen, auch sexuellen Erklärungen auffordern könnte; nur nicht zu dieser? Wir irren, hier der Beweis, gegeben vom Meister selbst:

Warum läßt Hamlet die Schauspieler, die doch durch eine ähnliche Handlung dem zuschauenden Mörder ein Geständnis entlocken sollen, diese erst in einer Pantomime darstellen? Hier liegt eine »geheime Deutung«. Sie stellt dem Helden selbst seine gehemmten Impulse vor Augen, indem sie die ersehnte Tötung als geschehen darstellt. Da sich Hamlet als Kind an die Stelle des Vaters gesetzt hat, um bei seiner Mutter zu schlafen, und den Mordimpuls gegen den Vater im Herzen trug, so erlebt er dies jetzt als Erwachsener aufs neue » als Zuschauer der ehelichen Zärtlichkeiten des Elternpaares in der Pantomime

Wir opponieren? In Text und Aufführungen haben wir nichts davon gesehen? Wir wissen eben nicht, »daß das Einträufeln von Gift in den äußeren Gehörgang nur aus der latenten sexuellen Bedeutung der Szene erklärt wird … Die Bedeutung des Giftes als Sperma (Schwängerung gleich Vergiftung) ist nicht nur aus der Märchensymbolik, sondern auch aus der individuellen analytischen Erfahrung festgestellt … Das Ohr als Organ der Empfängnis … Dieser doppelsinnige Charakter entspricht der sadistischen Auffassung des Koitus, wie sie das Kind im Verlaufe seiner Sexualforschungen bildet, und in diesem Sinne ist es leicht verständlich, daß sich Hamlet mit dem Darsteller des Mörders nicht nur zum Zwecke der Vatertötung identifiziert, sondern auch im Sinne der Stellvertretung beim elterlichen Geschlechtsakt … Wie Hamlet die sadistische Bedeutung der Szene zum Mord anfeuern soll, so soll ihn ihre sexuelle Bedeutung zum Inzest reizen.« Da Ophelia ihm »den vollen Mutterersatz« darstellt, hat er sie »wohl unmittelbar vor dem Schauspiel von sich gestoßen, weil er im Begriffe stand, das wirkliche Liebesobjekt, das Ophelia nur vertrat, die Mutter, zu gewinnen«.

Ich unterbreche den Bericht mit einer ernsthaften Parenthese; manchmal entsinkt mir der Mut oder doch die Laune, die Tollheit komisch zu nehmen. Wenn ich diese, aus der Treibhausluft erwachsenen Schlüsse von Hamlet auf den nächsten lebenden Patienten übertragen sehe – denn es sind ja dieselben –, so erkenne ich darin eine öffentliche Gefahr:

Ein Emigrant wird heute von Rachevorstellungen gegen die Mörder seiner Eltern, gegen die Nazis, erfüllt, und ohnmächtig und meilenfern wie er ist, immer mehr verdüstert, weil er die geheimen Mahnungen vom Geiste seines ermordeten Vaters, Hitler zu töten, nicht erfüllen kann; ein Hamlet durchaus vergleichbarer Fall. Die Neurose treibt den neuen Hamlet zu einem Analytiker. Dieser erfindet nun einen geheimen Haß in dem erschütterten Leidenden gegen seinen Vater genau so frei wie Freud im Falle Hamlets. Dort blieb es aber bei einem Artikel, der in der Luft zergeht wie eine Seifenblase; hier wird eine verzweifelte Menschenseele, die einen Ausweg sucht, in völlig fremde Sphären gelenkt, und da sie krank und verfolgt ist, leicht von der Suggestion ergriffen. Ein Nervenarzt, der einen dramatischen Helden mit seiner kranken Phantasie zernagt, ist auch geneigt, dasselbe an einem Leidenden zu tun. Hören wir, wie dieser Seelenforscher jetzt dem Patienten Hamlet seinen Ödipus andichtet:

»Hamlet vermag den Mann nicht zu töten, der seine eigenen Kinderwünsche realisiert. Der Mordimpuls gegen den leiblichen Vater, an dessen Stelle sich das Kind bei der Mutter setzen will, ist es eigentlich, der bei Hamlet gehemmt erscheint, weil er stets auf Befriedigung lauert. Aus diesem Begehren heraus schwelgt er recht eigentlich in dem Vatermord, den Claudius für ihn vollbracht hat, läßt er auch … das Schauspiel zuerst als Pantomime vorführen, das die Ermordung des Vaters wiederholt und ihn selbst in der Rolle des Mörders zeigt. Darum … gerät Hamlet nach dem Schauspiel in die übermütigste, tollste Laune. Es ist der Triumph über den Tod des Vaters, der sich dieses eine Mal unter der Maske der Überlistung von dessen Mörder ungehemmt austoben darf.«

Auch hier tritt zur perversen Verdrängung aller Motive die volle Unwissenheit, wie wir sie vor Napoleon und Lionardo fanden. Freud, der historisch zu konstruieren pflegt, was er braucht, läßt Hamlet den Schauspielern befehlen, sie möchten das Stück erst als Pantomime vorführen und dann spielen. Er weiß nicht, daß in England schon unter Eduard dem Dritten die »Dumb Shows« Mode waren, stumme Pantomimen, die man den Königen vorführte, zwischen Essen und Trinken, daher auch Entremets genannt. Als sich später Reden in Versen und Prosa einmischten und kleine Dramen entstanden, blieb die Pantomime noch als Präludium zurück, um den Inhalt vorher symbolisch darzustellen. Shakespeare ließ diesen altertümlichen Brauch in dem von Hamlet bestellten Stück wieder aufleben. Das ist der historische Vorwand. Die Absicht kann nur sein, daß Prinz Hamlet, selbst Dichter, Literat und Highbrow, den Kniff befahl, um dem von ihm beobachteten König es doppelt einzutränken. Die tolle Laune ist offenbar gespielt, um Hamlets geheime Zwecke zu verhüllen.

Welche Motive hat der Tiefenpsychologe herausgelesen?

»Die Pantomime«, so setzt Dr. Rank in Freuds Zeitschrift die These fort, »versucht es vorher sozusagen noch einmal mit den milderen Mitteln einer bloß bildlichen Vorstellung (nach Art eines Traumbildes oder einer Phantasie), während die bereite Aktion des Schauspiels … als letztes und kräftigstes Mittel in der Reihe dieser Antriebe erscheint … In der Rede des Schauspielers ließ er sich seine Aufgabe an einem klassischen Vorbild exemplifizieren; in der Pantomime läßt er sich gewissermaßen zeigen, was er zu machen hat, und im Schauspiel sollen Wort und Tat zusammenwirken, um ihn zur Nachahmung des Vorgestellten zu bringen.«

Die Pantomime, ein burleskes Stück, das der Theaterdirektor Shakespeare einlegt wie eine alte Volksmelodie, wird hier ein Stimulans, ein Traumbild des durch Neurose gequälten Prinzen. Warum?

Weil Hamlet, wie vorher Napoleon, nichts Tieferes im Sinne habe, als bei seiner Mutter zu schlafen und sich nur aus Kultur und Sitte zurückhält. Deshalb ermahnt er sich, nach Freud, vor dem Besuche der Mutter, er wolle an ihr kein Nero werden, »was unbewußt auf den mit Neros Namen untrennbar verknüpften Mutterinzest hinzielt, zu dem ihm jetzt gewissermaßen die Möglichkeit geboten scheint«, da jetzt »der Weg zur Mutter endlich frei ist«.

Vielleicht fragt man sich, wenn man sich mit diesen barocken Spielereien amüsiert, was der Dichter selber sagen würde. Die Fragestellung ist aber falsch: es kommt nicht darauf an, ob Shakespeare die Freudsche Deutung ablehnt, denn er versteht sie gar nicht. Der oben zitierte Dr. Wittels erklärt rundheraus: Was Shakespeare um 1600 in seinem Hamlet nicht ins Bewußtsein rufen konnte, weil die Folgen einer zweitausendjährigen Verdrängung zwischen ihm und den Griechen lagen, das tritt jetzt auf der Bühne offen zutage, nachdem Freud die geheimen Prozesse des Unbewußten enthüllt hat. Wenn also der Dichter jetzt Freuds Erklärung lesen könnte – wie Schuppen fiele es ihm von den Augen, und er würde, auf Freudsche Art dramatisiert, ausrufen: »Endlich versteh' ich meinen Hamlet!«

So spazieren Perverse frei durch Geschichte und Literatur, ergreifen die kristallenen Kugeln, zerstampfen sie und freuen sich, uns den Kalkstaub zu demonstrieren, aus dem sie bestanden. So behandeln sie die Seelen der Lebenden und der Toten, blasen alle großen und edlen Motive in die Luft, demaskieren Lionardo und Goethe, Hamlet und Odysseus in ihren unbewußten Sexualtrieben, nicht anders, als sie's mit ihren lebenden Patienten treiben.


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