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30. Könige und Kannibalen

Von den griechischen Legenden führen Brücken über die Abgründe menschlichen Erinnerns nach zwei entgegengesetzten Seiten: zu den Urgestalten der Vorzeit und zu den letzten Wilden der Gegenwart. Das Ziel der analytischen Forschung geht dahin, solche Brücken auch zu den Kindern und zu den Neurotikern zu bauen, um die Gleichsetzung des Normalen mit dem Kranken, des Kindes mit dem Wilden, des Helden mit dem Götzenbilde vollends zu erweisen.

Im biogenetischen Grundgesetze hatte man erkannt, wie sich die Entwickelung der Vorfahren in der jedes einzelnen Lebewesens wiederholt. Freud überträgt diese darwinistische These auf das Sexualleben und beweist, wie sich in der Geschlechtsentwickelung jedes normalen Kindes das alte Erbgut der Menschheit erneuert: jedes Kind muß die Geschichte seiner Ahnen, die wilden Urerlebnisse wieder durchmachen. Kann nun Freud beweisen, daß sowohl die Urmenschen einst als auch die wilden Stämme heute an Verdrängung litten und leiden, so ist die Theorie von zwei Seiten gestützt. Es ist eine Modernisierung, ähnlich, wie sie Richard Wagner unternahm, als er aus den deutschen Walküren hysterische Jungfrauen machte. Auf diese Art glaubte Freud die Theorien von Darwin und Atkinson zu vervollständigen, »denen die Winke der Psychoanalyse nicht zur Verfügung standen«.

Mit dem Feuer fängt es an. Man denkt sogleich an Prometheus, der es stahl, um die Menschen produktiv zu machen? Alte Märchen! Es kommt nicht darauf an, wie man das Feuer anfacht, sondern wie man es auslöscht. Wir sind ja unter zerstörenden, nicht unter aufbauenden Propheten. Man denkt nach und erwidert, daß man das Feuer durch Wasser auslöscht. Woher aber das Wasser nehmen? Wasser gab es doch so viel auf Erden! Wo also liegt hier ein Problem? Tiefer denken, symbolisch denken! Dann wird man's finden!

Natürlich ist das Feuer sexuell zu verstehen. » Der Urmensch befriedigte eine Lust, indem er das Feuer durch seinen Harnstrahl auslöschte … Das Feuerlöschen durch Urinieren war also, wie ein sexueller Akt mit einem Manne, ein Genuß der männlichen Potenz im homosexuellen Wettkampf. Wer zuerst auf diese Lust verzichtete, das Feuer verschonte, konnte es mit sich forttragen und in seine Dienste zwingen … Diese große kulturelle Eroberung wäre also ein Lohn für einen Triebverzicht … Deshalb hat man auch das Weib als Hüterin des auf dem häuslichen Herde gefangengehaltenen Feuers bestellt, weil ihr anatomischer Bau ihr verbietet, einer solchen Lustversuchung nachzugehen.«

Man glaubt, ein paar betrunkene Matrosen Zoten reißen zu hören? Nicht doch! Irgendeine hübsche Frau wird mit steinernen Zügen erwidern, das alles sei ernste Wissenschaft.

Nach dem Harnstrahl kommt natürlich der Trieb zum Inzest. Freud hat gelesen, daß gewisse wilde Stämme die Vermischung des Sohnes mit der Mutter verbieten und bestrafen. Wird ihn das nicht stutzig machen und zur Revision seiner Inzestlehre drängen, wenn er kulturlose Menschen aus natürlichen Instinkten das meiden sieht, was er bisher den Kulturmenschen als künstlichen moralischen Zwang auferlegt erklärte? Umgekehrt! Vergessen wir nicht die Plus-Minus-Rechnung! In der Analyse heißt es, wenn etwas nicht stimmt, wenn ein Kontakt ausbleibt oder ein Patient widerspricht: Jetzt wird es erst recht klar, denn er wehrt sich!

Indem Freud die alten Namen »Totem« und »Tabu« für religiöse Opfer und Heiligtümer der wilden Völker verwendet, stellt er die in manchen Naturvölkern geltenden Verbote zusammen, den Totem zu töten und ein Weib des gleichen Clan in Besitz zu nehmen. Da haben wir also den Ödipus bei Völkern, die von Sophokles so wenig wissen wie die Kinder. Wie Freud eins mit dem anderen verbindet, schildert er in seinen Memoiren wie folgt:

» Es ergab sich so die Versuchung, das Totem-Tier dem Vater gleichzustellen, wie die Primitiven ohnedies ausdrücklich taten.« Dies fiel ihm ein, so erzählt er, als er die Tier-Phobien der Kinder analysierte, wobei das Tier den Vaterersatz bedeutete und dabei die Furcht vor dem Vater auf das Tier verschoben wurde. » Es fehlte nun nicht mehr viel, um die Vatertötung als Kern des Totemismus und als Ausgangspunkt der religiösen Bildung zu erkennen.« Man glaubt, eine Seite aus dem Skizzenbuch eines Dramatikers zu lesen, der seine Charaktere durcheinanderschiebt, Steigerungen, Zusammenstöße, Abschwächungen konstruiert. Schließlich handelt es sich ja nur um den Ursprung der Religion: da kann man schon ein Gedankenspiel treiben und einer spekulativen »Versuchung« nachgeben, wenn »nicht mehr viel fehlt«.

Freud nennt es selbst »Hypothese, oder ich möchte lieber sagen, Vision«, wenn er daraus folgert: »Der Vater der Urhorde (das heißt der ersten Menschen) hatte als unbeschränkter Despot alle Frauen für sich in Anspruch genommen, die als Rivalen gefährlichen Söhne getötet oder verjagt. Eines Tages aber regten sich diese seither der Verdrängung verfallenen Inzestwünsche. Es ist uns darum nicht unwichtig, an den wilden Völkern zeigen zu können, daß sie die zur späteren Unbewußtheit bestimmten Inzestwünsche des Menschen noch als bedrohlich empfinden und der schärfsten Abwehrmaßregeln für würdig halten.«

Freud bezeichnet diese Stämme im Innern Australiens vor dreißig Jahren als »die zurückgebliebensten, armseligsten Wilden … arme, nackte Kannibalen«.

Nehmen wir an, dem wäre so, so würde die Angst vor dem Inzest, das heißt das unterdrückte Verlangen danach, das Freud aus ihren Bräuchen konstruiert, durch diese Bräuche grade praktisch widerlegt. Die Gruppenehen, die mehrere Frauen an mehrere Männer verteilen und ihre Kinder zu Geschwistern machen, führen zu gewissen Beschränkungen und grade zur Trennung der Stämme. Überdies werden sie, zum Beispiel auf den Fidschi-Inseln, plötzlich durch »heilige Orgien« unterbrochen, wo sich alle mit allen vereinigen.

Wie in den historischen Analysen soll auch hier die Unkenntnis der Tatsachen (»ich bin nicht belesen genug«, sagt Freud) zum Beweis der bona fides für den Märchenerzähler dienen.

Totemismus ist – wie ein bedeutender Kenner beweist – weder die älteste noch die allgemeinste Form; es haben ihn weder die Pygmäen noch die Kurai in Australien noch die Korjaten oder Samojeden im äußersten Norden noch andere Stämme in Südamerika. Die drei großen Eroberervölker kannten überhaupt keinen Totemismus, sondern nahmen ihn später verändert an, kannten also auch keinen Ödipus-Komplex, der sich darauf stützt. Unter Hunderten von totemistischen Stämmen hat man vier gefunden, die den Vatermord haben, und dies sind die jüngsten. Die ältesten Stämme kennen überhaupt keinen Vatermord oder Kannibalismus, ebensowenig kennen sie die Heirat in Gruppen. Grade die ältesten Formen sind monogam oder gemäßigt polygam. Die Anwendung jener Inzestlehre ist dort unmöglich (vgl. P. W. Schmidt, Religionsgeschichte 1932).

Dort, wo Freud eine auffällige Übereinstimmung im Seelenleben des Neurotikers und dem des Wilden behauptet, nennt es ein anderer Forscher, Professor Wagner, »einen vergeblichen Versuch, zwischen diesen Urmenschen und den modernen Sexualneurotikern Verbindungen zu schaffen«.

Indessen sind letzten Endes bei solchen Hypothesen nicht die Forschungen entscheidend, sondern die Gefühle. Hier, wo alle Dokumente fehlen, wo die Forscher im Dunkeln tappen, wie die Paläontologen, lösen die Schulen der Professoren einander ab wie die Moden.

Und nun betritt Freud, der als Nervenarzt begann, die Arena, in der seit so vielen Jahrhunderten um den Ursprung von Religion und Kultur gestritten wurde. Freud, dem W. Robertson, Smith, Atkinson, Frazer unmittelbar vorausgingen, »entdeckt« im Urvater den ersten Gott und weiß nicht, daß die Antike ihm um dreitausend, Nietzsche aber um fünfzig Jahre zuvorkam. Wie immer ist er im Nihilistischen originell, denn er erklärt: im Anfang war der Mord, und zwar am Stammvater durch seine Söhne. Dieser Ur-Mord wurde durch einen Ur-Menschen dichterisch verherrlicht (nur ein paar tausend Jahre vor den Griechen und Chinesen). »Wie der Vater das erste Ideal des Knaben gewesen war, so schuf jetzt der Dichter im Heros, der den Vater ersetzen will, das erste Über-Ich. Dieses Gedicht trug er den Brüdern vor, jeder identifizierte sich mit dem Ur-Vater, dieser wurde Gott, und so begann die Religion.«

Da hätten wir also schon zwei Ur-Elemente zusammen: Gott, aus dem Vatermord entstanden, und das Feuer, durch die anatomische Verhinderung eines weiblichen Harnstrahls erhalten. Was schlägt man als drittes Element vor? Natürlich den Pflug, den Ackerbau. Das geht so: »Da sich der Sohn an die Stelle des göttlichen Vaters setzte, erkannte er den Ackerbau als Symbol seiner inzestiösen Liebe«: er bearbeitete nämlich die Mutter Erde.

Wie, wenn wir eines Sonntags mit einem Bauern im Thurgau, in der Ukraine oder in Argentinien, am Ebro oder am Nil zusammensäßen und sprächen über Sinn und Ursprung des Kornes, das er baut? Alle Bauern denken darüber nach, auch wenn sie nichts lesen, denn es ist ihr Wirken, ihr Leben. Alle nennen das, was vor ihnen ausgebreitet liegt, wenn sie ruhen und es wieder einmal überdenken, »Mutter Erde«. Wie, wenn wir den Vergleich mit ihrer eigenen Mutter, die draußen in der Küche sitzt und sonntags vielleicht das Radio hört: wenn wir die Bearbeitung der Erde durch Pflug oder Traktor mit dem Inzestverlangen zusammenbrächten, das den Mann doch vielleicht irgend einmal ergriffen haben könnte? Keine Gefahr: zu einem Zusammenstoß kann es nicht kommen, denn auch der verdorbenste Analytiker brächte vor diesem Manne die Frage nicht auf die Lippen; er würde sich fürchten.

Kehren wir vom Bauern aus seiner Natur zurück zum Gelehrten mit seinem Totem und Tabu.

Aus dem Tier als Vaterersatz bei den Wilden erklären sich die Tierphobien unserer Kinder, »die so seltsam anmutende Furcht, vom Vater gefressen zu werden, und die ungeheure Intensität der Kastrationsangst«.

Das konnten wir vergessen? Wir behaupten am Ende gar, wir hätten uns nie vor dem Biß unseres Vaters und vor dem Verlust unseres Gliedes gefürchtet? Mit einem Worte, wir zweifeln aufs neue? Freud ahnt es, denn er verteidigt sich gegen einen noch nicht erhobenen Einwand und faßt seine Vision so zusammen: »Es ist nichts an unserer Konstruktion, was frei erfunden wäre, was sich nicht auf gute Grundlagen stützen könnte.«

»Der Leser«, schreibt Freud bei Behandlung dieses Problems, »wird nun eingeladen, den Schritt zur Annahme zu machen, daß im Leben der Menschenart Ähnliches vorgefallen ist wie in dem der Individuen, also, daß es hier Vorgänge gegeben hat, sexualaggressiven Inhalts, die bleibende Folgen hinterlassen haben, aber zumeist abgewehrt, vergessen wurden … Wir glauben diese Vorgänge erraten zu können und wollen zeigen, daß ihre symptomähnlichen Folgen die religiösen Phänomene sind.«

An anderer Stelle setzt er den Gedanken fort: »Jedes aus der Vergangenheit wiederkehrende Stück … übt einen unvergleichlich starken Einfluß auf die Menschenmasse und einen unwiderstehlichen Anspruch auf Wahrheit. Dieser merkwürdige Charakter läßt sich nur nach dem Muster des Irrwahns der Psychotiker verstehen. Wir haben längst begriffen, daß in der Wahnidee ein Stück vergessener Wahrheit steckt … Einen solchen Gehalt an historisch zu nennender Wahrheit müssen wir auch den Glaubenssätzen der Religion zugestehen, die zwar den Charakter psychotischer Symptome an sich tragen, aber als Massenphänomene dem Fluch der Isolierung entzogen sind.«

Das jüdische Volk bringt Pharao, Atem, Ichnaton, Moses mit. Nach langer Lebenszeit ergreift es wieder Besitz davon, als Auserlesenes Volk. Jetzt wird der Urvater wieder in seine historischen Rechte eingesetzt:

»Was diesen Prozeß in Gang brachte, ist nicht leicht zu erraten. Es scheint, daß ein wachsendes Schuldbewußtsein sich des jüdischen Volkes, vielleicht der ganzen damaligen Kulturwelt, damals bemächtigt hatte, als Vorläufer der Wiederkehr des verdrängten Inhaltes … Paulus griff dieses Schuldbewußtsein auf … Er gab (den Menschen) die Erbsünde. Mit der Erbsünde war der Tod in die Welt gekommen. In Wirklichkeit war dieses todwürdige Verbrechen der Mord am später vergötterten Urvater gewesen.« Die Sühnung war die Erlösungsbotschaft, das Evangelium. Ein Sohn Gottes hat sich als Unschuldiger töten lassen und damit die Schuld aller auf sich genommen.

»Es mußte ein Sohn sein, denn es war ja ein Mord am Vater gewesen … Daß sich der Erlöser schuldlos geopfert hatte, war eine offenbar tendenziöse Entstellung, die dem logischen Verstände Schwierigkeiten bereitete, denn wie soll denn ein an der Mordtat Unschuldiger die Schuld der Mörder auf sich nehmen können, dadurch, daß er sich selbst töten läßt? In der historischen Wirklichkeit bestand ein solcher Widerspruch nicht. Der Erlöser kann kein anderer sein als der Hauptschuldige, der Anführer der Brüderbande, die den Vater überwältigt hatte. Ob es einen solchen Hauptrebellen der Anführer gegeben hat, muß man nach meinem Urteil unentschieden lassen … Wenn es keinen solchen Anführer gab, dann ist Christus der Erbe einer unerfüllt gebliebenen Wunschphantasie; wenn ja, dann ist er sein Nachfolger und seine Re-Inkarnation.« An anderer Stelle folgert Freud: » Religion ist eine allgemeine menschliche Zwangsneurose wie die des Kindes und stammt aus dem Ödipus-Komplex, der Vater-Beziehung.«

Im höchsten Alter formulierte Freud: »Man könnte die Religion auf eine Menschheitsneurose reduzieren und ihre großartige Macht in der gleichen Weise aufklären, wie den neurotischen Zwang bei den einzelnen unserer Patienten.« An einer vierten Stelle: Was ist Religion? Daß »eine große Anzahl von Menschen gemeinsam den Versuch unternimmt, sich Glücksversicherungs- und Leidensschutz durch wahnhafte Ausbildung der Wirklichkeit zu schaffen. Als solchen Massenwahn müssen wir auch die Religionen der Menschheit kennzeichnen. Den Wahn erkennt natürlich niemand, wer ihn selbst noch teilt.«

Über das Christentum hat sich Freud schon viel früher dahin zusammengefaßt, daß »nach der Regel des Talion der Vergeltungswunsch durch Gleiches«, die Erbsünde, für die sich Gottes Sohn opferte, ein Totem, ein Mord gewesen sein muß. »Und wenn die Erbsünde ein Verschulden gegen Gottvater war, so muß das älteste Verbrechen der Menschheit ein Vatermord gewesen sein, die Tötung des Urvaters der primitiven Menschenhorde, dessen Erinnerungsbild später zur Gottheit verklärt wurde.«

Hier haben wir einen interessanten Punkt in Freuds Gedankenwelt erreicht. Zwar stellt er die christliche Religion auf den Kopf, indem er dort Vergeltung annimmt, wo Gnade herrscht. Die Gläubigen aller Religionen werden sich mit Entsetzen abwenden, und doch ist Freud nicht der erste, der die Religion einen Massenwahn nennt. Seine Darstellung hilft niemand, auch nicht den Atheisten, sie hilft allein den Analytikern, weil sie jetzt ihre Dogmen ins Zeitlose zurückversetzen können, wo sie wiederum niemand widerlegen kann.

Freuds originelle Religionsphantasie, die er selbst gut begründet und frei von Erfindung nennt, schwebt in der Luft wie andere Hypothesen über den Glauben. Aber sie zeigt, in welche großartigen Tunnels und Minen sich ein unterirdischer Fanatismus einbohren und vordringen kann, bis er in der Oberwelt Getöse hört und glaubt, sie wäre seiner Tiefbohrkunst endlich zum Opfer gefallen. Wenn er je heraufkäme, würde er enttäuscht bemerken, daß alles noch steht wie zuvor.


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