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X.
Wie Madame Christensen sich in einen Liebesroman einläßt

Es war ganz still im Zimmer des Amtsrichters Nörregaard in Oester-Risöer, – ein großes, ödes Zimmer mit kleinen, altertümlichen Fenstern und prächtigen, schweren Gardinen an goldenen, speerförmigen Stangen. Madame Christensen hatte ein langes, ernstes Gespräch mit Mina Nörregaard gehabt, während der Amtsrichter seinen Mittagsschlaf hielt. Die Augen des jungen Mädchens standen voller Thränen; es wurde nicht müde, sich seine schöne Hoffnung auszumalen, zu fragen und zu forschen, wie sie sich wohl verwirklichen lasse. Jetzt saß Mina Nörregaard wieder in Gedanken vertieft, während Madame Christensen in das Comptoir hinuntergegangen war, um mit dem Amtsrichter zu sprechen.

Madame Christensen war in ihrem höchsten Staat und ihre wohlgehäbige Figur mit der großen Brustnadel auf dem seidenen Tuch, mit den goldenen Ohrringen und den Ringen an ihren Fingern verriet einen wohlgefüllten Geldschrank.

»Nein sieh', Jungfrau Een!« – sagte der Amtsrichter, indem er sich auf seinem Stuhl umwandte – »aber was sage ich, ... Madame Christensen! ... Nun wie steht's? ... Sie sehen ja vortrefflich aus! ... Ja, was sagen Sie, Jungfrau! ich habe jetzt weiße Haare ... Nun, wie geht's?«

»Tausend Dank, Herr Amtsrichter! ... Mir und meinem Mann geht's so weit gut!«

»Freut mich, freut mich! ... Haben Sie Mina schon gesehen? ... Ich hoffe, Sie läßt Ihnen Kaffee geben!«

»Tausend Dank, Herr Amtsrichter ... Wir liegen hier mit dem ›Rutland‹, und ich habe ein Anliegen, worin ich den Amtsrichter bitten möchte, mir zu helfen; ich kann sagen, daß wir die Tour hierher deshalb gemacht haben.«

»Sprechen Sie sich aus, Jungfrau!«

»Der Herr Amtsrichter erlaubt vielleicht, daß ich mir einen Stuhl nehme?«

Der Amtsrichter sah sie einen Augenblick verdutzt an und machte eine halbe Bewegung nach einem Stuhl hin, um ihr denselben hinzusetzen.

»Tausend Dank! – Der Amtsrichter soll sich nicht bemühen.«

»Was? Mich nicht bemühen?« – er erhob sich plötzlich und kam ihr schnell zuvor, – »ein alter Cavalier, wie ich, nennt das nie, sich bemühen, ... und wenn ich auch schon etwas steif in den Beinen geworden bin. – Madame! Sie haben sich aber sehr zu ihrem Vorteil verändert!«

»Ach, das meint der Herr Amtsrichter nicht so!«

»Ja, wahrhaftig meine ich es so! – Vor Ihnen muß man schon Respekt haben, – Sie sind eine ganze Madame, ... und ich denke immer nur an unsere Jungfrau Een, die ... Na! womit kann ich Ihnen dienen, Madame Christensen?«

»Wir werden zu Hause verleumdet, Herr Amtsrichter! Sie sagen, mein Mann wäre vor Gericht gewesen, weil er den ›Rutland‹ an Land gesetzt hätte!«

»Ja, das ist recht, Madame Christensen, aber das ist keine Schande.«

»Keine Schande, wenn die Obrigkeit in einem Seegericht und sonst an einem vorübergeht? Keine Schande, wenn man kein Vertrauen mehr genießt und sich in guter Gesellschaft nicht mehr zeigen kann? Keine Schande, sagt der Amtsrichter? Ja, das ist solche Schande, daß mein Mann fast den Verstand darüber verliert!«

»Aber er ward ja freigesprochen?«

»Es heißt, das wäre nur von seiner List und Schlauheit gekommen und weil er der Obrigkeit zu klug gewesen wäre.«

»Der Obrigkeit zu klug? ... Ha, ha, ha!« Er nahm seine Uniformmütze und warf sie aufgeräumt auf den Tisch. »Der Obrigkeit zu klug!« Er erhob sich und ging einige male im Zimmer auf und ab. – »Der Richter war ich ... ich, Amtsrichter Nörregaard! ... Nein, das ist brillant! ... Wissen Sie, daß Ihr Mann das interessanteste Exemplar ist, welches ich in meiner ganzen langen Praxis gefunden habe? ... ein wirklicher Unglücksvogel! Man spricht davon, daß einer mit dem Hemd eines Siegers geboren werde; aber der Mann muß mit einem wahren labyrinthischen Garn um den Hals geboren sein! ... Sie tragen natürlich in gewissem Maße den schweren Schiffer Christensen auf Ihren Armen! Ja, ich meine die Arme Ihres Geistes, – daß er nicht in Ungelegenheiten kommt! ... Ja, nun denke ich auch daran, daß er absolut nicht versichern wollte, – er sah die Police für einen Zugangsschein zum Zuchthause an!«

Madame Christensen erhob sich plötzlich entrüstet. »Herr Amtsrichter! ... ich bin nicht gewohnt, daß in meiner Gegenwart so von meinem Manne gesprochen wird!«

»Gewiß nicht, gewiß nicht, liebe Jungfrau Een – entschuldigen Sie mich! ... Kennen Sie mich so wenig, daß Sie glauben können, ich würde so von Ihrem Manne sprechen, wenn ich ihn nicht für den rechtschaffensten Menschen der Welt hielte? Setzen Sie sich nun, Madame Christensen!« – Er setzte sich auch selbst wieder hin. »Aber womit kann ich dienen?«

»Ja, sehen Sie, Herr Amtsrichter! – ich dachte nur, daß wenn wir so schrecklich verleumdet würden, Sie besser wüßten, was wir dagegen thun können, als wir selbst.«

»Nicht schlecht gesagt! – Ja gewiß, ich will Ihnen helfen, und was mehr ist, ich kann es. Ich schreibe einfach Ihrem Stadtrat einen Brief, in welchem ich ihm erzähle, daß Ihr Mann damals den Gerichtssaal nicht nur ohne den Schatten eines Verdachts verlassen hat, sondern im Gegenteil als einer, der mit rascher Hand und kühnem Geist ein altes, dem Verderben geweihtes Schiff von Peterhead über die Nordsee gebracht hatte! Nachher habe ich ihm alle meine Mobilien anvertraut und für ihn verbürgt ... Ich werde mir schon eine Protokollabschrift verschaffen und sie Eurem Stadtrat schicken, dann wird Ihr Mann schon wieder weiß wie Schnee dastehen! ... Nicht wahr? – so habt Ihr's Euch ungefähr gedacht?«

»Ja, Herr Amtsrichter, und ich kann Ihnen nicht genug für das Wohlwollen danken, das sie mir bewahrt haben für die schwachen und geringen Dienste, die ich Ihnen und der gnädigen Frau geleistet habe!«

»Ich sehe, daß Sie recht verständig sind, ... ja recht verständig! Merkwürdig, daß ich das nie bei Jungfrau Een merken konnte! Sie war, unter uns gesagt, ein eigensinniges Frauenzimmer mit vielen Redensarten ... Aber das Leben ist eine Schule ... und Sie sind eine prächtige Frau geworden! In Ihrem besten Alter ... und das fällt nicht immer mit dem Almanach zusammen, Madame Christensen! Einige haben es in den zwanziger, andere in den vierziger Jahren.« – Es entfuhr ihm ein Seufzer und er strich oder wischte sich mit seinem schönen gelbseidenen Taschentuch über die Stirn. »Ich bin, wie Sie sehen, über meine besten Jahre hinaus ... Aber wir können doch noch vergnügt sein, ... leben in unsern Kindern!«

»Ja, wenn das nur ein Vergnügen ist, Herr Amtsrichter!« – Sie sagte das mit einer eigentümlichen Betonung.

»Wie? ... Wie? ... Wie verstehen Sie das?«

»Ach nichts! – Fräulein Mina kann ja froh sein, ... sie hat es so gut, lebt herrlich und in Freuden!«

»Ja, nicht wahr? das meine ich auch; aber,« – er rückte ihr mit seinem Stuhl näher – »scheint Ihnen nicht doch, als ob sie etwas, ... etwas traurig aussähe!«

Madame Christensen schüttelte wie bedauernd ihren Kopf und sagte: »Ja, das weiß der Himmel, Herr Amtsrichter! ... Dreiundzwanzig Jahre alt – sie war sieben, als ich das Haus verließ –; aber ein so trübes und mattes Auge habe ich bei einem jungen Mädchen noch nie gesehen. Es ist, als ob sie trotz ihrer Jugend schon alt geworden wäre!«

»Meinen Sie das? ... Ich glaubte, daß ich es allein wäre, der ...« –

»Der müßte ja blind sein, der das nicht sieht.«

»Ich habe ihr eine Vergnügungsreise nach Christiania und Kopenhagen vorgeschlagen, – wir haben da Verwandte; aber sie will nicht.«

»Ach nein, Herr Amtsrichter, von dem, was ihr fehlt, kann man nicht wegreisen!«

»Wie meinen Sie das, Madame Christensen?« Er richtete sich auf und sah ihr prüfend in die Augen. »Sie haben etwas im Sinn!«

»Nichts Besonderes! ... Aber nimmt man einem jungen Mädchen die Hoffnung, so wird es alt, wo es auch ist, ob es nun nach Christiania geht oder nach Kopenhagen. Fräulein Mina kann ebenso gut einsam bei ihrem Vater sein und mit jedem Tag einen Tag ihrer Jugend opfern ...«

»Es ist nicht gut, wenn ein Mann alt und einsam wird, Madame Christensen!«

»Das ist die Frage, Herr Amtsrichter! ... Ich würde es nun nicht für gut halten, einsam für mich zu leben und so blind zu sein, daß ich es nicht sehen könnte, wie meine einzige prächtige Tochter neben mir hinsiechte, ... verwelkte wie eine Blume!« – Von ihrem eigenen poetischen Bilde ergriffen, brach Madame Christensen in Thränen aus.

»Sagte ich's nicht? ... Redensarten! ... Redensarten! – da ist Jungfrau Een wieder einmal!«

»Sagen Sie lieber, da ist die Wahrheit, Herr Amtsrichter! ... Mir scheint, es ist hier ein Trauerhaus! und der Vater hat kein Herz im Leibe, der das nicht sieht. Das meine ich, ob der Herr Amtsrichter mich nun Jungfrau Een oder Madame Christensen nennt!«

»Kein Herz im Leibe!« – Der Amtsrichter war aufgesprungen und ging im Zimmer aufgeregt auf und ab –, »kein Herz im Leibe!« – Er stand vor ihr still. »Hören Sie nun, Madame Christensen, – unter uns – wer sagt Ihnen, daß sie nicht eines schönen Tages einem, der um ihre Hand bittet, Ja antwortet? ... und bis dahin ...«

»Das thue ich, Herr Amtsrichter!«

»Sie?«

»Ja, ich! ... Ich weiß, daß der, der einmal ihr Ja bekommen hat, in Christiania auf gutem Wege ist, ... daß er im nächsten Jahre zum Amtsexamen geht. Er hat das Geld, um studieren zu können!«

»Werring? – So! ... Das freut mich für ihn, ... obgleich ich nicht recht einsehe, was sein Amtsexamen hier zu thun hat. Hören Sie, Madame Christensen, wir wollen aus alter Freundschaft aufrichtig gegen einander sein; aber brauchen Sie auch etwas Ihren guten Verstand! Sie glauben doch nicht, daß es die paar Schillinge waren, die ihm fehlten, ...«

»Die paar Schillinge: – es waren vierhundert Speciesthaler!«

»So, Sie wissen, wie viel es war? ... Nun gut! Aber Sie begreifen doch wohl, daß das nicht der Grund war? ... Sie müssen nun nicht nach Ihren eigenen kleinen Verhältnissen urteilen und an Matrosenliebschaften denken! Für Mina öffnet das Leben andere Aussichten. Sie gehört zu den ersten Familien des Landes, hat ihre Erziehung schon im Blut und ist an Bedürfnisse gewöhnt, die er nie befriedigen könnte, und wenn er auch noch so reich wäre. Es kommt von seiner Geburt her, – er ist der Sohn eines Schmiedes! – und der ...«

»Der alte Schmied Werring war ein braver Mann! Ich meine, der muß noch in seinem Grabe geehrt werden. Als er merkte, daß sein Sohn einen guten Kopf hatte, hat er ihn etwas lernen lassen, so lange er es konnte.«

»Kann wohl sein. Aber man sage, was man will! Wenn der junge Werring gegessen hatte, legte er den Löffel um, und ich glaube gar, daß er ihn im Anfang auch mit dem Tischtuch abwischte! Es dauerte ein halbes Jahr, bis er ordentliche Manieren hatte, ... aber inwendig geht es nicht so rasch.«

»Das muß aber doch ein aparter Mensch sein, wenn er trotzdem ihr Herz gewinnen konnte, – – vor so vielen andern, die ihre Bildung schon im Blut hatten!«

»Sieh', sieh'! ... Ja, es ist wohl etwas Wahrheit in dem, was Sie sagen, ... aber Sie sehen es nun doch wohl ein, daß Mina andere Ansprüche an das Leben hat.«

»Andere, als den zu bekommen, den sie lieb hat?«

»Wie?« – Es war, als ob diese einfache Antwort ihn stutzig machte.

»Andere Ansprüche, als das Ziel ihrer Sehnsucht in dieser Welt zu erreichen? ... Nein, ich denke mir, sie soll einen haben, so einen nur mit Bildung im Blut! ... Aber ich kann Ihnen die Versicherung geben, den will sie nun einmal nicht. Das weiß ich, ... und ich will es Ihnen ehrlich sagen, daß ich Ihrer Tochter heute mitgeteilt habe, daß er im Frühling Candidat wird, und wollen Sie wissen, wer ihm dazu verholfen hat, so will ich es Ihnen sagen: das ist einer, der auch keine Bildung im Blut hat, obgleich der Amtsrichter ihn einen der rechtschaffensten Menschen nennt, die er gekannt habe. Ich hätte es nicht gesagt, hatte es auch nicht sagen wollen; aber nun muß es heraus! – Das war mein Mann, der seine blanken vierhundert Speciesthaler auf den Tisch zählte, weil er es einsah, daß der Amtsrichter sonst in seinem Alter ein unglücklicher Mann werden würde, ... und er hat doch nur Schifferbildung im Blut!« – Madame Christensen's Augen leuchteten und ihre Lippen zitterten.

Der Amtsrichter stand erstaunt auf und sah sie an. »Ja, das nenne ich brav, ... ob er nun gebildet oder ungebildet ist, ... und ich begreife nun, weshalb Sie ihn genommen haben!« – Er nahm den Stuhl, auf den er gesessen hatte, in die Höhe und stieß ihn auf den Boden. »Das ist eine wirkliche Bildung! Herzensbildung! ... macht uns andere klein!« – Dann ging er wieder hastig auf und ab. »Ja, hören Sie, Madame Christensen! ich grüble darüber, ob es nicht, ... das heißt eigentlich, ... ich meine, ob es nicht wahre Bildung wäre, – ich meine – in seinem tiefsten Grunde, ... wenn ... der Amtsrichter Nörregaard Ihnen Recht gäbe! ... Sind Sie denn gewiß, daß Mina den Student Werring liebt? ... Sie meinen, daß sie ihn nicht vergessen könnte? ... Hören Sie, Madame Christensen! die vierhundert Thaler bezahle ich!«

»Kann keine Rede von sein, Amtsrichter! ... Sie wollen uns doch gewiß nicht kränken, und auch ihn nicht, – er bezahlt sie ehrlich und redlich mit Zinsen zurück.«

»Nun ... nun ... ja, dann müssen Sie mir aber jedenfalls erlauben, daß ich sowohl Ihnen, wie Schiffer Christensen dafür danke, daß Sie meinem Schwiegersohn das Geld vorgestreckt haben! ... Ich denke, wir gehen jetzt zu Mina, Madame Christensen! ... Die Verlobung habt Ihr ins Werk gesetzt und niemand anders! ... Seien Sie so freundlich!« – –

Es war im Spätherbst und früh dunkel. Der Regen schlug gegen die Fenster. Unten im Zimmer wartete Mina Nörregaard in tötlicher Spannung. In fieberischer Unruhe hatte sie den Tisch gedeckt und den Thee bereitet. Dann und wann, wenn sie hörte, wie eine Thür oben sich öffnete, stand das zarte junge Mädchen plötzlich still und lauschte mit gespannter ängstlicher Miene; ... jetzt saß sie am Theetisch, auf welchem eine Astrallampe stand, und hatte ihr Gesicht in den Händen begraben. Sie sah auf ... und war auf einmal ganz bleich. Es war die Thür vom Comtoir ihres Vaters, die geöffnet wurde; im Corridor wurde laut gesprochen, ... es war die Stimme ihres Vaters! ...

Sie blieb unbeweglich sitzen und hatte nur die Hände gegen das Herz gepreßt, welches gewaltsam schlug, während ihr Auge starr auf die Thür gerichtet war. Dieselbe ward geöffnet.

»Nein, seien Sie so freundlich! Seien Sie so freundlich, Madame!« klang es munter, während beide eintraten.

Vater und Tochter sahen sich einen Augenblick schweigend an. Plötzlich sprang sie auf und fiel ihm schluchzend um den Hals. »Vater! ... Vater ...«

»Ist es Dein voller Ernst, Mina, daß Er und kein anderer es sein soll, und Du gern Frau Werring heißen willst, dann mag er kommen! Ja, ja mein Kind! Du sollst Deinen Willen haben ... Aber nun danke auch Madame Christensen, ... denn sie hat es gethan, sie hat mich ordentlich zu Wasser gefahren, ... und das haben noch nicht viele gethan!«

Weil aber Mina Nörregaard die Honneurs machen und den Thee einschenken mußte, so kostete es den schönen, alten vergoldeten Tassen ihres Vaters das Dasein.


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